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Hermann Mensing

Alles ist gut, gar nichts

 

Mama hätte es nicht geglaubt. Aber ich - ich würde es gleich erfahren. Ich, Tim Hülskamp. An diesem verfluchten Tag kurz nach den Herbstferien. Ich war auf dem Weg in die Stadt. Es regnete wie aus Eimern. Samer hatte mich gefragt, ob ich mit ihm in den Plattenladen käme. Er wollte sich die neue Wu-Tang Clan CD kaufen.

Ich hatte gesagt, "okay, aber eins sag ich dir besser gleich, den Wu-Tang Clan finde ich Kacke. Die reden mir zuviel. Und ich kann kein Wort verstehen."

"Macht nix", hatte Samer gesagt.

Er war mein bester Freund. Seine Eltern kamen aus Jordanien, er war hier geboren. Er hatte drei Schwestern und einen großen Bruder.

Der Bus hielt am Prinzipalmarkt.

Samer und ich hatten uns am Brunnen verabredet, gleich da vorn, im Schatten der Ludgeri Kirche. Ich war viel zu früh, und ich wußte, Samer würde zu spät kommen. Und wenn er dann da wäre, würden wir uns erst mal streiten, aber das würde nichts machen, wir kannten das ja.

Als ich ausstieg, sah ich Papa.

Er stand auf der anderen Straßenseite.

Ich wollte schon winken, ich wollte schon "hallo Papa!" rufen, als er seinen Arm um die Hüfte einer Frau legte, die vor ihm stand. Seinen anderen Arm legte er ihr in den Nacken, dann zog er sie zu sich und küsste sie. 

Mama! dachte ich.

Dann dachte ich, dass mich ein Pferd tritt, denn ich hatte Mama und Papa sich lange nicht küssen sehen. Und als ich dann merkte, dass die Frau nicht Mama war, hätte ich vor Schreck fast angefangen zu schreien.

Meine Beine fühlten sich an wie Gummi.

Mit einem Satz war ich hinter einer Säule verschwunden. Mein Herz schlug bis zum Hals. Sicher würde ich gleich aufwachen. Dies war ein Traum. Ich lag im Bett, ich schlief noch. Hallo! Hallo Tim, aufwachen!

Aber niemand rüttelte mich. Ich war wach. Hellwach.

Meine Zeit blieb stehen. Ich sah wie jemand, der einen starken Zoom im Kopf hat. Die Brennweite war auf Papa und diese Frau konzentriert, ich sah wie ein Luchs, nichts entging mir. Hätte ich die Ohren einer Eule gehabt, wäre alles hundertprozentig gewesen, aber ich brauchte nicht hören, was Papa dieser Ziege da sagte.

Ich wusste, dass jedes Wort gelogen war.

Irgendwie wusste ich das, denn sonst wäre ja bei uns zu Hause alles gelogen gewesen, und das konnte doch wohl nicht wahr sein, oder? -

Doch dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen: die schlechte Stimmung der letzten Wochen, dieses ewige Rumnörgeln, Papas brummiges Gesicht, Mamas merkwürdig gerötete Augen, Papas Anrufe, er hätte noch im Büro zu tun, das alles machte plötzlich Sinn.

Ob Mama etwas wusste? -

Ich spürte, dass der mausgraue Himmel mit jeder vertickten Sekunde tiefer sank. Er kam, um mir zu helfen. Gleich würde er sich zwischen die Fassaden des Prinzipalmarktes senken und alles verhüllen. So vom Nebel verschluckt würde ich losgehn. Wie ein Gespenst würde ich vor Papa auftauchen. Er würde nicht wissen, wen oder was er da sieht, vielleicht hätte er eine Ahnung, vielleicht würde er irgendetwas sagen wollen, mir irgendeine blöde Ausrede auftischen vielleicht, aber ich würde ihm nur in den Arsch treten, der Frau mit voller Wucht auf die Zehen springen, wäre dann wieder weg und Papa hätte keine Lust mehr, weiterzuküssen.

So stelle ich mir das heute vor, vier Jahre später.

So hätte das sein sollen damals, aber es kam natürlich ganz anders. Der mausgraue Himmel sank nicht herab. Und selbst, wenn er's getan hätte, ich wette, ich hätte mich nicht getraut. Ich stand nur da und wusste nicht, was ich denken sollte.

Mein Papa war das!  Mein Papa!

Was sollte ich denn tun? - Wieso war ich überhaupt hier?

Als ich wieder zu denken begann, verfluchte ich mich. Irgendwie war ich selbst Schuld. Ich hätte nicht herkommen sollen. Ich hätte woanders hinschauen müssen. Das ging mich doch alles überhaupt gar nichts an, oder?

Doch.

Wohl ging mich das was an!

Jede Menge ging mich das was an!

Und jetzt wusste ich auch noch etwas, das niemand wissen durfte, und das hieß, dass ich lügen musste, wenn ich nach Hause kam. Mir blieb keine andere Wahl. Wenn ich nach Hause käme und erzählte, was ich gesehen hatte, würde die Hölle losbrechen.

Ich wollte nicht in der Hölle sein.

Mir war schon so oft schlecht genug. 

Jemand tippte mir auf die Schulter. Ich erschrak und wirbelte herum wie ein Hurrikan. Samer, der Michael Jackson für den Allergrößten hält und sich kaum vorstellen kann, dass jemand sich schneller umdrehen könnte als Michael, pfiff anerkennend durch seine Zahnspange. Was sich anhört, als würden zwei gleichzeitig pfeifen, einer laut, einer leise und wie aus dem letzten Loch, ziemlich blöd also und ich musste lachen.

Den Rest der Geschichte findet ihr in:

Mut im Bauch, Ueberreuter Verlag, Wien, 2000

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