Dezember 2000                              www.hermann-mensing.de   

mensing literatur

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Fr 1.12.00  9:30

flashback: freitag 1.12.1972 san pablo del lago/ecuador: ärmstes land in südamerika. regierungen wechseln wie morgen und abend. in jedem kaff glänzen kirchen. am abend dieses tages sitze ich und versuche mich zu erinnern. die ausgeschlagenen straßen rütteln mich noch. die menschen sind herzlich. die männer tragen ihr haar zu einem langen zopf  nach hinten gebunden. sie arbeiten an steilsten hängen. männer und frauen gemeinsam. frauen haben oft kinder  in tragtüchern auf dem rücken. sie tragen filzhüte. die trachten der männer sind einfach. weite weisse hosen, hemden, schwarzblauer poncho. das dorf liegt am ende der welt. nach einbruch der dunkelheit hört man nichts mehr. und ich scheisse und kotze in einem fort. stopfe bananen und schokolade in mich hinein. ich bin unsicher auf den beinen. jetzt hat er mich. ob er mich killt, der montezuma? 

 

Sa 2.12.00  11:47  (2.12.72 quito/ecuador)

fesselnd webt mir eine wolke/wünsche übers lichte haar/fußblind, da es niemand wissen sollte/färbte sie mich wunderbar...

 

So 3.12.00  12:04  (3.12.72 quito/ecuador)

Alles, was nichts mit Geldverdienen zu tun hat, übersteigt seinen Horizont bei weitem. Alles, was Tod oder Leben heißt, versteht er nicht. (1) 

So 3.12.00  21:37

Ich verspürte diesen gräßlichen Drang  in mir, etwas Grandios-Sinnloses zu tun. (2) 

Mo 4.12.00  9:04  (4.12.72 santa domingo/ecuador)

Hier bin ich, hier, weit vor meinen Gedanken....ich fahre ins Studio gleich, ich will dem Regisseur meines Hörspiels auf die Finger gucken. 

 

Di 5.12.00  00:01   (5.12.72 quito/ecuador)

Als ich im Vorraum des Studios saß und in meinem Text blätterte, dachte ich gleich, dass etwas nicht stimmt, wusste aber nicht genau, was. Jetzt weiß ich es. Nicht nur, dass er mir eine eigene Szene in den Text geschrieben hat, ohne mich zu fragen, nein, er verändert den Titel, er macht aus einem Flämmchen ein kleines Flämmchen, ohne zu bemerken, dass doch alles Notwendige gesagt war, er nimmt dem Anansie-Text seine Poesie, in dem er immer wieder darauf hinweist, dass die Sonne Anansies Geliebte ist, mit einem Wort: er hat eine verdammte Profilneurose. Reicht es ihm nicht, dass er einen Text nimmt, lektoriert, mir sagt, was ihm fehlt, und dass er diesen Text, wenn er zu Ende lektoriert ist, mit seinem Wissen, mit dem Wissen des Regisseurs, umsetzt? Reicht das nicht? - Nein. Offenbar nicht. Aber hatte ich das alles nicht schon einmal?  Hatte ich nicht einmal sogar einen Regisseur, der mir Lieder ins Manuskript geschrieben hat, ohne auch nur einen Ton davon zu sagen. Warum genügt es ihnen nicht, ihre Arbeit zu tun. Ich rede ihnen doch auch nicht rein. Oh, da sind sie verletzlich, die Herren. Das sprechen sie plötzlich davon, dass ihnen die Harmonie fehlt und die gedeihliche Zusammenarbeit. Jeden einzelnen werde ich in mein schwarzes Buch schreiben, und wenn ich groß bin, weiß ich, mit wem ich arbeiten werde und mit wem nicht. 

 

Mi 6.12.00  9:10  (6.12.72 quito/ecuador)

niederöstreichs grotten, /da halt ich hof und haus, / bei molchen, salamandern, / ruh nach der jagd ich aus. //  bereits in zarter jugend / war sportlich ich geübt, / war fischer auch an teichen / tauklar und ungetrübt. // der wildbehenden gemse, / als knab schon folgt ich ihr, / ihr bart auf meinem hute / ist meiner mannheit zier. //  von lychnisgrauem loden / trag ich ein alpenkleid, / die sennrin zu mir jodelt, / die flotte bauernmaid. //  auf rehe, dachse, hirsche / pirsch ich in stetem glück / des lämmergeirs belcanto / in meinem ohr musik. //  die wachtel und den uhu, / die wildent, den fasan, / das delicate rebhuhn / mit schrot visier ich an. / der blaue berggorilla, / sumatras orang ut, / es fiel vor mir so mancher / und wälzte sich im blut. //  das untier tief im nile, / rhinoceros genannt, / lief mir vor meine büchse, / sowie der elephant.// es traf auch die harpune / zielsicher bei cap hoorn, / ich meisterte den walfisch / trotz der orkane zorn. //  ein riesenviech auf rädern / steht in dem musenheim, / ein stolzes stückl fauna - / ging es doch aus dem leim! //  was soll ich noch erjagen, / wenn nicht den saurier? / ein jägerfluch der neuzeit! / es gibt heut keinen mehr.... (3)

 

Do 7.12.00  00:48  (7.12.72 quito/ecuador)

ich habe angst: ich habe keine angst

 

Do 7.12.00  20:51

verrausch mich, lass mich, geh mir aus dem hier/ erklär nichts, sag nichts, bleib nur nah bei dir/ erheb mich, trag mich, wirf mich tief hinab/ erschein mir, schieße, sag, was ich dir gab/ und schrei, dann blüh in salz'gem wasser auf/ und lach, dann leit ich dich hinauf.

 

Fr 8.12.00  9:45  (8.12.72 quito/ecuador)

Würdest du in deinen Leben wieder alles genauso machen, wenn du die Wahl hättest? John Lennon: Weißt du, wenn ich so'n stinknormaler Fischer sein könnte, dann würde ich's werden. Wenn ich die Fähigkeiten hätte, etwas anderes zu sein als das, was ich bin, ich würd sofort tauschen. Es ist kein Vergnügen, Künstler zu sein. ... sieh dir all diese verfluchten Schweine um uns herum an, die saugen uns aus, bis wir tot umfallen, und alles, was wir tun können, ist brav gehorchen wie die Zirkuspferde. In dieser Hinsicht finde ich es ekelhaft, Künstler zu sein, ich finde es ekelhaft, für bescheuerte Idioten zu spielen, die keine Ahnung haben. Sie sind zu Gefühlen nicht fähig; ich bin derjenige der fühlt, weil ich etwas ausdrücke. Sie leben stellvertretend durch mich und durch andere Künstler...

 

Sa 9.12.00  13:50  (9.12.72 quito/ecuador)

Imaginäre Briefe  zack ist die Woche rum, und ich weiß nicht mal mehr, was ich getrieben habe. Wahrscheinlich den späten Frühling misstrauisch beäugt, der mich anfällt, wenn ich nach draußen komme, der mich herumwirbelt und alles verdreht, so ein Dezember, so ein November, wir heizen nicht mal, mein System sendet Alarm und mein Kopf fühlt sich an, als sei er ein kleiner Karton, aus dem ich mit geweiteten Augen in eine fremde Welt starre. Nicht lustig, aber was soll's. Alles ist getan, alles ist verkauft, Manuskripte, die durch zehn, fünfzehn Lektorate gegangen sind, werden jetzt plötzlich veröffentlicht, noch ist kein Geld im Haus, aber der Verlag schickt mir Weihnachtskuchen, das hatte ich bisher noch nicht. - Vielleicht sollte ich wegfahren? Ich weiß nicht. Vielleicht sollte ich genießen? Die schwierigste Übung anpacken, ha, dass ich nicht lache, ich und genießen. - Seltsame Wahrnehmungstrübung am Mittwoch. Ich saß vor der Bühne in der Blechtrommel und hörte mir die Band ein, bei der ich einsteigen wollte. Als es schließlich so weit war, ging ich zum Schlagzeuger und sagte, du Thomas hör mal, ich will gleich trommeln, aber ich muss das Set umbauen, ich bin Linkshänder. Wie, ich doch auch! antwortete er und da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Mein Erwartung hatte meine Wahrnehmung getrübt, seltsam das, man sieht, was man gewohnt ist, zu sehen, und ich bin es gewohnt, Trommler zu sehen, die Rechtshänder sind. Okay also. Ich hab tatsächlich getrommelt und nach dem zweiten Lied kommt eine junge Frau auf die Bühne: Lolita-Typ, blond, nabelfrei, Hüfthose, Bauchnabelpiercing, Babyspeck. Sie will Summertime singen,  hat aber keinen Text. Sie fragt, ob jemand einen hätte, nein, hat keiner, na gut, dann sänge sie nur die erste Strophe, den Rest wolle sie improvisieren. Und legt los. Ich mag nicht hinsehen, hinhören schon gar nicht, denn was sie da vor sich hinpiept, kann sie nur wett machen, indem sie ihre Teeniebrüste rausdrückt und ihr Becken dreht, als wolle sie sich die Bandscheiben vorfallen lassen. Sie kriegt kein Ende. Alle wünschen es sich, aber sie fängt wieder von vorn an, su-hummer-ti-hiheime.... Sie hätte sich ausziehen sollen, das hätte uns vielleicht versöhnt. Seltsame Tage, diese Tage vorm Fest. Wette, dass bald die Krokusse blühen, wenn das so weitergeht. Also, bis dahin.... 

 

Mo 11.12.00  14:26    (11.12.72 huaquillas/ecuador)

 

Di 12.12.00  10:31  (12.12.72 tumbes/peru)

Meine Rede sei Ja Ja Ja Nein Nein Nein

 

Di 12.12.00 17:36

Ich hab dich gesehen heute. C. und ich kamen von Enschede, es regnete und wir fuhren durch deine Strassen. Du bist das Hässlichste, was ich mir vorstellen kann. Wofür brauchst du einen Inselpark? Wer, glaubst du, soll dort spazieren gehen und seine in deinen Ramschläden gekaufte Mode zur Schau stellen? Es wäre besser gewesen, man hätte dich abgerissen, nachdem die Textilindustrie zusammengebrochen war. Oder dich einfach verlassen. Dann wärst du jetzt eine Geisterstadt.Stattdessen setzen sie dich jetzt Stück für Stück wieder zusammen. Wofür? Könnte man das viele Geld nicht für etwas anderes ausgeben. Sogar ein Rockmuseum bauen sie dir. - Dass ich nicht lache! Glaubst du, nur weil Udo L. sturzbetrunken durch deutsche Fernsehstudios taumelt, hätten Menschen den Wunsch, vor Ort seinen Spuren zu folgen, zu sehen, wo er diesen tumben Gang und seinen blöden Sprüche gelernt hat? Nein. Verdampf dich! Ich glaube dir kein Wort. Ich kenne dich. Ich habe dich so geliebt. Wie oft habe ich davon geträumt, zu dir zurückzukehren. Wir würden uns billigen Wohnraum kaufen, dachten wir, am liebsten da, wo jetzt alles türkisch ist, aber dieser Wunsch hat sich über die Jahre verflüchtigt. Ich will dich nicht mehr sehn. Du tust mir weh. Du bist mir nicht klug genug. Du liebst nicht, was ich liebe. Am Besten wäre, es hätte dich nie gegeben. Also weg mit dir, Gronau. Belästige mich nicht länger.

 

MI 13.12.00  10:15   (13.12.72 chimbale/peru)

Wind pfeift den weißblauen Himmel zum Teufel.

 

Mi 13.12.00  20:27

Kein Satz stimmt. Alles ist Lüge. 

 

Do 14.12.00  7:52  (14.12.72 lima/peru)

Und wenn doch???  Was dann Dummer?

Gelächter: dann (Stimme aus dem Off) ...

Zeit und Ewigkeit, die Flüchtigkeit des Lebens, individuelle Einsamkeit als Folge der Unmöglichkeit wirklicher Kommunikation mit anderen, das Mysterium des "Ich"....

Für Momente herrscht betretenes Schweigen. Dann fallen hier und da Anwesende in das Gelächter ein. Schließlich brüllt der ganze Saal. Man beschließt, sich bewusstlos zu trinken. 

 

Do 14.12.00  13:52

Schnarchen im Saal. Nur noch hier und da Zeichen bewussten Lebens. Vielen rinnt Unappetitliches aus Mundwinkeln. Viele riechen nicht gut. Aber so ist das mit dem Mysterium des Ich. Am Besten, man schlägt einen weiten Bogen, wenn man es sieht. 

 

Do 14.12.00  16:00

Kaffee! rief jemand von weitem. Kaffee!!! - Es schien, dass ein oder andere Ich meldete sich zurück.

 

Fr 15.12.00   11:50    (15.12.72 lima/peru)

Verängstigt erwarten alle das Wochenende. Kann es eine größere Prüfung geben? Nein - jedes Ich sieht sich konfrontiert mit unerfüllbaren Erwartungen. Bleibt also nur unauffälliges Verschwinden durch ständiges Fernsehen, Bücherlesen, Musikhören etc....  Ja, das Leben als Ich ist nicht leicht. 

 

Sa 16.12.00  13:33   (16.12.72 lima/peru)

Und nun ist es da. Das Wochenende. Und da selbst Meret Becker sich fragt, wer ich bin, was soll ich mich dann fragen? Interessanter Link übrigens: www.maluma.de

 

Sa 16.12.00  16:14    

flashback: 16.12.72  lima empfängt mich mit endlosen, über staub-braune hügel gedrängte slums.  keiner hat aussichten, nichts bleibt als sich zu betäuben oder aufzustehen. dann folgt das grandiose lima der kaufleute. das der kultur und der schönheit. das der vergangenheit. jon, bruno und ich haben drei tage in bussen verbracht. peru vom norden bis hierher war trostlose wüste mit käffern am pazifik und schneegipfeln im osten. wir wollen uns trennen. wir können uns nicht mehr sehen. wir haben verschiedene ziele. wir trennen uns. ich reise wieder allein.  

 

So 17.12.00  16:39  (17.12.72 lima/peru)

Ich ernährt sich von Vorurteilen. Ich verträgt vier Caipirinha, einen Calvados, zwei Laphroaig und einen Tulamore Dew ohne mit der Wimper zu zucken. Erstaunlich, wenn man bedenkt, wie alt Ich schon ist. 

 

Mo 18.12.00  9:28  (18.12.72 lima/peru)

Ich ist das Ende.

 

Di 19.12.00  2:03       (19.12.72 lima/peru)

Übers Nachtland rollt ein auf dem Rücken liegender Mond. .  Er ist spät aufgegangen diese Nacht, er hat keine Eile, es lässt ihn kalt, dass ich unterwegs bin. Ich verrenke mir den Kopf, weil er so schön ist. Gerade noch saß ich hinter diesem Schlagzeug in Dortmund. Jetzt will ich nach Hause. Während ich im Tunnel meiner Scheinwerfer fahre, hoffe ich, dass morgen endlich das Buch kommt, mein erstes Buch seit Rowohlt, morgen will ich es in Händen halten, morgen will ich sehn, ob es noch mir gehört oder längst auf und davon ist. Eine Woche von Wien bis hierher? Schneller kann das die Post nicht? Gut. Morgen also. Vorsicht, nicht zu lang in den Himmel schauen, sonst wird dir schwindlig. Endlich eine klare kalte Nacht  nach diesen verirrten Frühlingstagen. Ich möchte Frost. Ich will dieses Raumschiff am Himmel sehen, aber es ist jetzt wohl gerade woanders und eh es wieder überfliegt, liege ich längst im Bett. So viel also zur Nacht und zum Mond und zum Warten.

 

Di 19.12.00  8:59   (19.12.72 lima/peru)

Tagland. Neblig. Reif auf den Dächern.  

 

Di 19.12.00  14:06

Klar. Sonnig. Jeder Atemzug erfrischt. Mein Roman ist gekommen. Da, gleich da liegt er und ich schau ihn mir an. Zufrieden? Stolz? Glücklich? - Ich weiß nicht. Ich werde ihn wohl eine Weile vergessen müssen, mich ihm langsam nähern, vielleicht weiß ich dann, was ich bin. Aber er ist da. Das ist das Wichtigste. Mein Name steht drauf, also muss er von mir sein. 

 

Di 19.12.00  17:04  

Die Freunde meiner Söhne haben Schuhe so groß wie Paddelboote. 

 

Do 21.12.00  20:37    (21.12.72 huancayo/peru)

Die beste Arbeit geschieht mühelos.

 

Fr 22.12.00  9:23  (22.12.72 huancayo/peru)

Alles deutet darauf hin, dass mein nächster Roman Fensterplatz heißt. 

 

Mo 25.12.00  13:32 

Das Leben macht Sinn. Fragt sich, welchen.

 

flashback 25.12.72 huancayo/peru  

wir haben uns einen schwips angetrunken, gestern. heute ist es diesig. man hat das gefühl, es wird herbst. ich bin in aufbruchstimmung. morgen ist mein letzter tag in huancayo, von hier aus geht es nach ayacucho und dann nach cusco. mein rucksack füllt sich wieder, trotz all der sachen, die ich unterwegs zurückgelassen habe. mein poncho, ein schal, es sammelt sich. 

 

Fr 29.12.00  2:01 (29.12.72 cusco/peru)

Seit Heiligabend ständig Besuch. Unsere Freunde, die Freunde unserer Kinder. Wir haben zusammen gegessen, getrunken, gelacht. Ein wenig müde ist man nach so viel feiern.

 

So 31.12.00  16:11    (31.12.72 cusco/peru)

Draussen knallen  sie schon. Nach langem Hin und Her haben wir uns entschlossen, ruhig ins Sofa zu furzen, nichts weiter. Später werden Freunde vorbeikommen. Ich habe den ganzen Nachmittag damit verbracht, meine neue Home-Page auf Hochglanz zu polieren, jedem meiner Romane habe ich eine Textprobe beigefügt, gestern und vorgestern habe ich mit Grafiken experimentiert. Hat Spaß gemacht. Jetzt geht alles an den Server. Also, ihr 340, ich hoffe, wir sehen uns im nächsten Jahr wieder. bye bye...

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Zitate: 1. Ferdinand Celine // 2. Janette Turner Hospital "Oyster" // 3. H. C. Artmann

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