Januar - Februar 01                         www.hermann-mensing.de      

mensing literatur        

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Mo 1.01.01  11:11 (1.01.1973 cusco/peru)

Der Drehort: Münster. Die Akteure: wie vorher. Die Musik dazu: Talking Heads: Same as it ever was. Ich habe das Jahrtausend mit einem Schlagzeugsolo vor unserer Haustür begrüßt. Was, wie im Jahr davor und davor und davor, zu einigem Erstaunen führte. "Das ist aber orginell...."  Ja. Ungewöhnlich originell. Ich könnte mich totlachen.

 

 

Di 2.01.01  11:22  (2.1.1973 cusco/peru)

In Le Feu D ' Issey gebadet. Riecht umwerfend. Beschloss darauf, eine Frau zu werden. Könnte dann jeden Tag frische Wäsche anziehen und gut riechen. 

 

Mi 3.01.01.  11:33  (3.01.1973 zu fuß unterwegs nach macchu picchu)

Betr.: Geschlechtsumwandlung. Will nun doch lieber Mann bleiben. Pinkle so gern im Stehen.

 

Do 4.01.01.  11:44  (4.01.1973 zu fuß unterwegs nach macchu picchu)

Heute einfache Übungen zur Rettung der Menschheit ausgeführt. War erfolgreich. Sie schlägt sich zwar hier und da tot, aber die Mehrheit begnügt sich mit Selbstvernichtung durch Essen, Trinken und Freizeit. 

 

Fr 5.01.01  11:55  (5.01.1973 zu fuß unterwegs nach macchu picchu)

In Eselsmilch gebadet.

 

Sa 6.01.01  11:65  ( 6.01.1972 saya ruinen, auf dem weg nach macchu picchu)

Das alte Jahrtausend schon sechs Tage überlebt (was mit dem Bad in Eselsmilch zusammenhängen könnte, aber nicht muss).

 

So 7.01.01  11:75 (7.01.1973 agua caliente, macchu picchu)

Umwerfendes Jahrtausend, dieses Jahrtausend. Erfinde ständig neue Ausreden, die mich rehabilitieren sollen. Haben alle nur einen kleinen Fehler: ich vertraue keiner.

 

Mo 8.1.01   11:85 (8.01.1973 macchu picchu)

Lange Diskussionen über den Preis der Eselsmilch.  Es gibt an der Hohenholter Strasse jemanden, der Esel züchtet. Dort war ich, nachdem ich die Literatur nach einem Rezept für Bäder in Eselsmilch  durchforstet hatte und auf altem Papyrus zu einem Ergebnis gelangt war. Der Mann hielt mich für bescheuert. Dachte wohl, ich würde jeden Preis zahlen. Aber da war er schief gewickelt. Einigten uns schließlich auf 2,23 je Liter, was bei einem Badewanneninhalt von ca. 50 Litern immer noch recht teuer kommt. Aber wer schön sein will, muss ab und an tief in die Tasche greifen. Schließlich habe ich es nicht für mich getan. Ich tat es für dich. Und für das neue Jahrtausend. Musste nach dem Bad alle Spiegel von der Wand nehmen. Konnte mich in meiner alterslosen Schönheit einfach nicht ertragen. Erst heute traue ich mich wieder, hinzusehen. 

 

Mo 8.01.00  11:95 

Und was sehe ich: jemanden mit einer Schultüte im Arm. Heißt das, dass ich ganz von vorne beginnen muss? Hilfe! Werde gleich in Hugos Supermarkt testen, ob man mich erkennt. Wenn nicht, steht es schlimm. - Und was soll ich mit dem Vertreter der örtlichen Christdemokraten anfangen (der sich wegen des Mohren-Hörspiels und dem regionalen Bezug für mich interessiert), wenn mich die Eselsmilch derart verjüngt hat? - Fragen über Fragen, die das neue Jahrtausend in völlig anderem Licht erscheinen lassen. Aber keine Angst. Ich bin voller Zuversicht.

 

Mo 8.01.01  16:52

Na, immerhin hat sich die Zeit jetzt auf ein vernünftiges Maß eingependelt. Es geht also aufwärts. Die Supermarkt-Angestellten haben mich gegrüßt, ohne mich anzustarren. Also muss das mit dem Spiegel eine Vision gewesen sein. - Kaum zurück rief ein Esel an. Ob ich kein schlechtes Gewissen hätte wegen all der vergeudeten Milch? - Ob ich mir denn vorstellen können, wie viel Elend unter den Eseln herrsche? - Ich antwortete, ja, aber Geschäft sei Geschäft. Ich hätte einen fairen Preis gezahlt, weit über den Preisen, die Monopolisten normalerweise ihren Handelspartnern der übrigen Welt abpressten, und ich sei überdies doch bereit, Reklame für Eselsmilch zu machen. I aaaaahh. I aaaaaahhh. - Wenn das so wäre, sagte mein Gesprächspartner. -  Ja, sagte ich, so wäre das. - Kurz darauf dann frohe Botschaft aus der Hauptstadt Österreichs: dort wären Esel, die sich darauf freuten, was es von mir Neues gibt. Ich fürchte fast, ich werde König der Esel. 

 

Di 9.01.01  11:10   (9.01.1973 cusco/peru) 

Schon besser, ja, schon viel besser, wenngleich ich sie herankommen höre. Sie kommen von allen Seiten. Sie rufen. Sie sagen: Hierher. Schauen Sie links. Schauen Sie rechts. Und bei allem Trubel erfahre ich, dass mein Freund (falls ich Freunde habe), ein Bildhauer, Arzneimittel ausliefert, weil niemand seine Kunst kaufen will. Stattdessen: Dreck. Überall der letzte Dreck. Jawohl, liebe Untertanen, ich, der König der Esel, vermelde ein frohes I aaaahhhh. Ich würde mich freuen, wenn ihr einstimmtet in diesen Chor. Werdet radikal. Mit mir. Amen. 

 

Di 9.01.01  11:37

aus: Frankfurter Rundschau "Nach der Sezession - Padaniens Nebel: Eine Reise in den tiefen Norden Italiens" von Paolo Rumiz

(...) Aus Angst vor aggressiven Nationalismen verdrängt Europa heute harmlose Begriffe wie "Heimat" und "Identität". Das Ergebnis dieser ideologischen Phobie ist ein Bumerang: die Unsicherheit der Völker, das Erwachen der Protektionismen und der niederen Autarkie-Instinkte, die Idee, dass Europa, anstatt ein phantastisches Projekt der Kohabitation zu sein, nur die besänftigende Maskerade des großen globalen Schwindels ist: ein Haus ohne Mauern, durch das der Wind hindurchfegt. So wächst der Wunsch der "Kleinen", die irrationale Einbildung, dass man sich durch Abschottung leichter vor allem schützen kann: vor Einwanderer, Drogen, Mafia, "ethnischen Säuberungen", Waffen, Rinderwahn. 

Das Ergebnis: In Österreich, Belgien, Dänemark und jetzt auch in Italien hat sich die Rechte des Ethnos und des ganzen damit zusammenhängenden Vokabulars bemächtigt: Autonomie, Territorium, Schutz der Verschiedenheit, Föderalismus, Devolution, Volkstradition, Anti-Zentralismus, Regionalismus, Kampf gegen die starken Mächte, Dezentralisierung. 

Alles Begriffe "von links", die heute ihre Bedeutung und Fronten gewechselt haben. In einem beeindruckenden lexikalischen Erdrutsch sind jene Begriffe zu Fahnen der Konservativen und ethnischen Zentralismen geworden. 

Es ist ein seltsames Europa der liberalen Linken, das alles verdrängt, was ihm nicht ähnelt und so darauf verzichtet zu verstehen.

 

Di 9.01.01  14:50   

Gerade wollte ich mir klar machen, wie ein Esel schreibt, da tauchen zwei Nachbarskinder im Garten auf. Das Mädchen und der Junge dieser Mutter, die alles tut, um nicht zu grüßen, alleinerziehend mit stürmischer Vergangenheit, denn hin und wieder tauchen runtergekommene besoffene Typen auf. Das Mädchen mag zwölf sein, schmeißt den Haushalt, denn Mama ist so gut wie nie da. Der Junge, ein bisschen zurück geblieben, ist um die sieben. Beide haben Revolver. Sie richtet den Lauf auf ihren Bruder und bedeutet ihm, sich umzudrehen. Er dreht sich um. Sie sagt: "Waffe weg - auf den Boden legen"  und als er das tut, exikutiert sie ihn von hinten mit Kopfschuss. 

Und wie arbeitet ein Esel? - 

Er hat ein Wort vielleicht, manchmal sogar einen Satz. Aber egal, wie er beginnt, immer verbindet er mit diesen Bruchstücken eine Idee. Das einzige, was er jetzt noch tun muss, ist,  ihr zu vertrauen.

 

Mi 10.01.01  9:46  (10.01.1973 cusco/peru)

Gerade rief Marcel R. R. an. Hi alter Pole, sagte ich. Du? Schon so früh? - Ich ruf an wegen der Eselsmilch, sagt er.  - Was brauchst du Eselsmilch? Du hast doch alles? - Schon ja, sagt er, stimmt, aber  es gibt da so eine Kleine, und die treffe ich morgen, deshalb....Okay, sage ich. Okay. Also, zwei Liter zum Einreiben, mehr kriegst du nicht, dafür schreibst du mir eine Rezension, klar? - Zwei Liter? sagt er und ich sehe förmlich, wie er die Hände überm Kopf zusammenschlägt. Zwei Liter? Was soll ich mit zwei Litern? - Mehr ist nicht, Marcel, sage ich. Die Esel sind klein, ihre Milch ist entsprechend rar. Also ja oder nein? - Na gut, sagt er. Zwei Liter. - Zwei Liter, sag ich. Und die Rezension? - Zwei Spalten. Was soll drin stehn? Dass es ein Roman ist, natürlich. Ein hervorragender Roman. - Ist es denn einer? - Marcel, frag nicht so blöd. Was sollte es sonst sein? - Frauenliteratur? - Blödsinn, Marcel. Also. Kann ich auf dich rechnen. - Ja. - Und wie heißt das Buch? -  Sackgasse heißt es. Sackgasse 13. 

 

Mi 10.01.01  17:35

Mein Leben im Netz...

Elektropost Eingang: 15:52 Und schon wieder ich. Wegen der Großen Liebe. Willst du den Klappentext schreiben oder soll ich das machen? 

Elektropost Ausgang: 16:22 Also, wenn du's unbedingt tun willst, mach es, (...) wenn's aber nur Arbeit ist (wovon du ja mehr als genug hast) will ich es gern tun. 

Elektropost Eingang: 16:29  Wäre echt nett, wenn du es machen könntest.  

Elektropost Ausgang 16:45 Wie wären zum Beispiel diese beiden Versionen? 

Plötzlich stand die Zeit still. Ich spürte, dass das möglich war, weil ich liebte. Weil ich genau das Richtige tat und nicht einen falschen Gedanken dachte. Weil ich frei war von Zweifel. Nicht ein Schatten konnte mich treffen.

Also war es möglich. Man konnte die Zeit anhalten!!!

Kein Zweifel, was mit Steff (16 Jahre alt, Schlagzeuger) los ist. Er ist zwar nach Polen gefahren, um an einem Jazz-Workshop teilzunehmen, aber der ist jetzt nicht mehr so wichtig....

2

Ich dachte, jeder müsse es sehen, ich dachte, jeder würde es riechen, ich dachte, jeder müsse es hören, weil meine Stimme noch von diesem Zauber gefangen war, aber sie sagten nur "hi Steff!" oder Ähnliches, und irgendwie war ich auch froh, denn wenn sie gefragt hätten, was mit mir los wäre, hätte ich bestimmt nicht die Wahrheit gesagt...

Kein Zweifel, Steff (16 Jahre alt, Schlagzeuger) ist verliebt. Er ist zwar nach Polen gefahren, um an einem Jazz-Workshop teilzunehmen, aber das ist jetzt nicht mehr so wichtig...

Elektropost Eingang: 16:54 Manchmal erschreckt mich deine Geschwindigkeit. (...) 

Elektropost Ausgang: 17:22  Ja, mich auch. 

 

Do 11.01.01  9:40   (11.01.1973 cusco/peru)

"Worin der Sinn liegt, kann ich Ihnen auch nicht erklären. Vielleicht kommen Sie bei der Arbeit von allein drauf. Aber das spielt auch keine Rolle, solcher Sinn hat mit ihrer eigentlichen Arbeit nicht das geringste zu tun." (1)

Ja. by the way: wir wählten  Version 2. 

 

Sa 13.01.01 16:45   (13.01.01 cusco/peru)

Fütterte letzte Woche einen neuen Fisch an. Beißt nicht oder besser: noch nicht. Vielleicht ziert er sich. Manche dieser Fische müssen Zeit verstreichen lassen, eh sie beißen, das gehört einfach zu ihrem Ehrenkodex, andere ertrinken in Ködern. Ich bin ein geduldiger Angler. Sitze seit zwanzig Jahren hier und werfe die Angel aus. Die Köder wechseln, die Fische auch, habe schon welche in höchste Positionen aufsteigen sehen, die mir weismachen wollten, wie man angelt. Dass ich nicht lache. Ich werde hier noch sitzen, wenn alle anderen längst verrückt geworden sind.

 

So 14.01.01  13:21  (14.01.1973 pisac/peru)   

Damals, als wir gern am Gräbchen spielten, rief man meiner großen Schwester "Katharina Huploch, zeig mir mal dein Puploch, nein, mein Puploch zeig ich nicht, Katharina heiß ich nicht ..." hinterher.

Sagen wollte ich aber eigentlich etwas anderes: es geht um diesen japanischen Schreiber, den ich nun schon wieder lese - Huraki Murakami. - Gerade erfuhr ich aus einem Nachwort, dass Kurt Vonnegut  einer seiner Lieblingsautoren ist, Kurt Vonnegut habe ihm die Augen geöffnet, außerdem nennt er Richard Brautigan. Das freut mich, denn beide, Vonngegut noch mehr als Brautigan, finden sich auch auf meiner Liste. Ja, ja. Schönen Sonntag....

 

Mo 15.01.01  9:26  (15.01.1973 cusco/peru)

Nicht der November ist hart, der Januar ist es, der sich quälende Januar und dann noch der Februar, es scheint ewig zu dauern, bis es Frühling wird, und es dauert ewig, weil man darauf wartet. Dabei ist heute ein frostklarer Tag. 

 

Mo 15.01.01  10:38  

Allerdings muß ich Ihnen ein "Nein" sagen, ich finde so gar keinen
Zugang zu Ihrer Geschichte, und das, obwohl von Ihnen ja einige
schöne Geschichten für den ... produziert wurden. Die erste Folge, die Sie beilegen, birgt für mich zu wenig Handlung, zuviel wird über denn Sinn des Lesens "doziert", Claras Charakter wird lediglich behauptet und nicht sichtbar gemacht.  Und ich weiß leider überhaupt nicht, worauf die Geschichten hinauslaufen sollen, was wollen Sie erzählen? Was ist Ihr Thema? - 

Gute Frage. Mein Thema ist, dass ich mein Thema nicht kenne. Ich bin sozusagen ein Erzähler ohne Geschichte. (Harrr harrr harrr)

Dies als Trost meiner Lieblingslektorin: ... diesen netten Spruch von wegen "Claras Charakter wird nicht beschrieben, sondern lediglich behauptet" hätte ich mir als Totschlagargument für eine weitere Lektoratskarriere nicht entgehen lassen - ein wahrer Leckerbissen!

 

Di 16.01.01   10.07  (16.01.1973 puno/peru)

Mein Leben im Netz

Guten Morgen Frau ...
gerade kam ihre gestrige Absage noch einmal per Elektropost.
Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, sie wegzustecken und nicht weiter zu kommentieren, aber da sie nun noch mal (sicher aus Versehen) auf meinem Rechner gelandet ist, lassen Sie mich noch Folgendes sagen: eine Geschichte wird immer dann spannend, wenn sie in enger Zusammenarbeit mit dem Lektorat entsteht. Das macht Spaß und treibt die Dinge nach vorn. Gleich im Vorfeld gestoppt zu werden, ist unschön, aber normal, daran habe ich mich gewöhnt.
Nicht gewöhnen werde ich mich an die gebräuchlichen Ausreden, die vertuschen wollen, dass jemandem eine Geschichte einfach nicht gefällt. Sätze wie "(...) birgt für mich zu wenig Handlung, zuviel wird über denn Sinn des Lesens "doziert", Claras Charakter wird lediglich behauptet und nicht sichtbar gemacht" (...).
Sollten wir also in Zukunft wieder zusammenkommen, sagen Sie einfach rundheraus, dass ihnen die Geschichte nicht gefällt, aber kommen Sie mir bitte nicht mit solchen Totschlagargumenten aus der Werkstatt für Lektorate.
In diesem Sinn schönen Gruß
ihr Hermann Mensing


Di 16.01.01  11:16   

"Nur zu gut!" sage ich. "Ich bin auch erst gestern darauf gekommen. Dass das hier eine Welt der Möglichkeiten ist, meine ich. Hier gibt es alles - und nichts." (2)

 

Mi 17.01.01  9:46  (17.01.1973 puno/peru) 

Das Blut fließt nicht richtig. Es stockt. Obwohl die Sonne scheint, möchte ich mich ins tiefste Loch verkriechen und Winterschlaf halten. Luxus! Keine Aussicht, obwohl alles gut aussieht. Das soll mir jemand erklären. 

Mi 17.01.01  16:15

Plötzliches Handeln. Ja, ich fahre in die Stadt, ich brauche ein Paar warme Handschuhe. Ich sitze im Auto, rausche dem mich mit offenen Backen erwartenden Beamtenarsch Münster entgegen, parke und bleibe gleich vorm Schaufenster des Celtic Shop hängen. Ich gehe hinein und probiere Pullover an.  Die Verkäuferin ist äußerst freundlich. Da ich anglophil bin, (obwohl sie mich als Irin meiner anglophilen Neigungen wegen eher hassen müsste), genieße ich sie. Keiner der Pullover steht mir. In allen sehe ich aus wie die Wurst in der Pelle, der Winter hat sich auf den Hüften breit gemacht, soviel werde ich gar nicht Rad fahren können, mal davon abgesehen, dass Radfahren sowieso nicht schlank macht. Wie enttäuscht war ich vor drei Jahren, als ich mit dem Rad zur Nordsee fuhr! Nicht ein Gramm hatte ich auf 300 Kilometern verloren, nicht eines. Also keinen Pullover, lieber zwei Kugeln Eis beim Italiener, fettes Sahneeis. Ich liebe das. Fettes Sahneeis. Während ich sitze, esse und aus dem Fenster schaue, fällt mir mein Einsatz als Glockenspieler auf dem Turm der Clemenskirche ein, ein Maiabend war das, am gleichen Abend, als Guildo Horn für Deutschland sang. Ein spanischer Komponist hatte alle Kirchtürme der Stadt mit Glockenspielern besetzen lassen, ich hatte den Turm dieser kleinen Barockkirche ganz für mich allein. Nur Chris war bei mir, vor mir lag die Partitur, nach der alle Glöckner spielen sollten, es war ein wundervoller Abend, die Stadt voll von promenierenden Menschen, die sich das Konzert der Kirchturmglocken anhören wollten. Eh ich den ersten Ton spielte, rauchte ich ein Pfeifchen. Den Raum, den die Partitur für Improvisationen ließ, nutzte ich ausgiebig. Dabei hatte ich ein bisschen Angst um die Glocke. Dieser Abend und dieser Ort wären als Ausgangspunkt für eine Geschichte auch nicht schlecht. Aber eh ich wieder ans Schreiben komme, wird wohl noch etwas Zeit vergehen. Das übliche: leiden, bis es nicht mehr geht. Herrlich! - Das nächste, woran ich mich erinnere, ist, dass ich die Hose, die ich schon im Herbst kaufen wollte, aber liegen ließ, weil sie damals weit über 200 DM kostete, jetzt aber um mehr als 50% reduziert ist,  anprobiere und kaufe. Geschafft! Ich liebe reduzierte Ware. Beim teuersten Herrenausstatter der Stadt habe ich einmal einen Wintermantel für DM 99.-- gekauft, den jeder sofort auf ein Vielfaches schätzen würde und den ich noch immer trage. - Vielleicht war das der Sinn dieses Tages, vielleicht war es meine Aufgabe, heute diese Hose zu kaufen. Für Männer meines Alters gibt es viel Langeweile in wenigen Variationen, man muss schon die Augen aufhalten, wenn man nicht wie ein Schnarchsack durch die Welt laufen will. Gut also. Ich fühle mich schon ein wenig besser. Jetzt noch die Handschuhe, dann noch ein Besuch im Ohr, wo ich mir zwei CDs von Bill Evans kaufe. Ich stehe auf Pianisten. Es scheint, dass ich meine Rock-Sozialisation Schritt für Schritt gegen eine Jazz-Ausbildung tausche. Yeah. Ich liebe die Beatles. 

 

Do 18.01.01  13:00

flashback: 18.01.1973 puno/titicacasee/peru: 

die letzte nacht mehr auf dem klo als im bett verbracht. heute entsprechend matt. morgen machen wir uns auf  nach la paz. ich freue mich, jetzt so langsam richtung brasilien zu ziehen. 270 dollar habe ich noch, in 5-6 wochen werde ich dort sein. die fahrt von cusco hierher war wunderschön. stunden über die karge hochebene, das altiplano, vorbei an herden von lamas, alpacas und vicunos. im hintergrund die schneebedeckten andengipfel. mal sehn, was als nächstes kommt. 

Fr 19.01.01   9:16 (19.01.1973 copacabana/titicacasee/bolivien)

Fensterplatz 1: Lothar der fette Sack. Theo, fast ebenso fett. Und ich. Wir drei. Wir drei hockten seit Wochen auf unseren Stangen und sahen zu, was draußen vorging. Mord- und Totschlag, soweit wir das beurteilen konnten, und niemand, der irgendetwas dagegen unternahm. Nicht, dass ich um einen Deut besser gewesen wäre als die, nein, auch ich hatte Leichen im Keller. Zwei, um genau zu sein, zwei wunderbare Exemplare meiner Gattung, aber immerhin hatten die sich nicht getarnt, so wie etwa Lothar sich tarnte hinter seinem fetten Bauch und seiner Unlust, sich zu bewegen. Nein, meine Leichen waren Damen aus edler Zucht, während Lothar von undefinierter Herkunft vorgab, ein Herr zu sein. Zu Anfang hatte ich das ja geglaubt, zu Anfang hatte er mir glaubhaft versichert, dass er, genau wie ich, über die entsprechenden geschlechtlichen Merkmale verfügt und ich hatte mich täuschen lassen. Ich muss wohl mit Blindheit geschlagen gewesen sein, meine Instinkte müssen vorübergehend nicht funktioniert haben, ich weiß nicht, wieso ich damals zu so einer Fehleinschätzung gelangen konnte, heute jedenfalls weiß ich, wer und was Lothar ist. Und wenn er nicht so fett wäre, ich würde keinen Augenblick zögern, ihn vom Leben in den Tod zu befördern. Außerdem ist da ja noch Theo. Beide, Lothar und Theo, bilden ein uneinnehmbares Bollwerk. Mit ihrer Ignoranz, ihrer Körperfülle, ihrer Lautstärke und ihren kalt blickenden Augen würde ich so einfach nicht fertig werden. 

 

Fr 19.01.01  10:55  

Ein kleine Geschichte des Fernsehens: Ende November letzten Jahres begannen die Bildes unseres Fernsehgerätes plötzlich durchzusacken. Schneller und schneller, bis sie sich nach einer Weile fingen. Vor dreißig Jahren waren von oben nach unten durchlaufende Bilder alltäglich. So etwas dauerte ein- zwei Minuten, dann fing sich ein Bild zwischen zwei schwarzen Balken, tanzte zitternd einige Momente, die Balken öffneten sich schließlich wie das Maul eines Krokodils und gaben das Bild in voller Größe frei. Man hatte schon mit der flachen Hand aufs Gerät geschlagen, in der Hoffnung, man könne die Dinge beschleunigen, und oft hatte das auch geholfen. Nun gehört unser Fernseher aber einer neueren Generation an, Handauflegen beeinflusst ihn in keiner Weise, und verborgene Knöpfe, Regler, mit denen sich so etwas unter Umständen regeln ließe, sind nicht vorgesehen. Man hat nur die Fernbedienung, und die beherrscht man bedingt. Also brachte ich das Gerät zur Reparatur. Am 23.11.00, etwa eine Woche nach Einlieferung des Patienten, kam dann der erlösende Anruf: das Problem sei gelöst. Ich löste das Gerät gegen Zahlung von DM 148,45 ein. Die AE-Fehlersuche in Regelstufe kostete DM 71,20, das Nachlöten einer Platine DM 44,95, die elektrische Prüfung nach VDE 0701 DM 19,50 und die Bereitstellung für Messgeräte und Service-Manuale DM 12,80. Kaum wieder zu Hause, installierte ich das Gerät und stellte fest, dass das Problem noch immer bestand. Ich brachte es auf der Stelle zum Händler zurück. Und dort steht es seit damals. Ich weiß schon nicht mehr, wie es aussieht. Wenn ich anrufe, erklärt mir der zuständige Techniker, man beobachte das Gerät, aber da der Fehler nur auftrete, wenn es kalt sei, und etwa fünfzig Komponenten den Fehler verursachen könnten, sei die Suche extrem schwierig. Ich möge mich bitte gedulden. Heute nun hörte ich, das Gerät sei freigegeben, der Techniker sei aber schon ins Wochenende gegangen, am Montagmorgen sei er zurück, dann könne ich mit ihm über alles sprechen. Ja. Ich will mit ihm über alles sprechen. Über alles. 

 

Fr 19.01.01    13:21  

Miniatur: dass es so einfach sein würde, zur  Struktur seiner Seele vorzudringen, hätte er nicht gedacht. Aber dann hatte er diesen Tipp bekommen: Naseputzen. Den Rotz mit Hochdruck aus den Stirnhöhlen blasen, keinen Blick mehr darauf werfen, wie er es sonst gerne tat, und ab dafür. Also gut. - Erstaunt spürte er eine Leichtigkeit, die nicht einmal Wolken erreichten. Das bin ich, dachte er? Diese Lebensfreude? Das will ich? Regelmäßigen Verkehr.  Tanzen bis zum Umfallen. Sorglosigkeit. Dann musste er niesen und die erreichte Klarheit zerstob wie die weißen Fallschirme des Löwenzahn. 

 

Fr 19.01.01  14:24

Mit einer Frau schlafen kann man für ungeheuer wichtig halten oder, umgekehrt, für nichts Besonderes. Es gibt sozusagen Sex als Selbsttherapie und Sex als Zeitvertreib. Es gibt solchen, der von A bis Z Selbsttherapie ist, und solchen, der von A bis Z Zeitvertreib ist. Außerdem gibt es Sex, der als Selbsttherapie anfängt und als Zeitvertreib endet und umgekehrt. Was ich sagen will, ist, dass sich unser Sexualleben grundsätzlich von dem eines Wals unterscheidet. Wir sind keine Wale - eine überaus wichtige These für mein Sexualleben. (3)

 

Di 30.01.01  11:38 

ciao tutti, sono io, chermann, si. Bin isch gewesste in Italia. Isse gekomme ganze plotzliche vorletzte Freitag. Lag auf Sofa, alse plotzeliche Antonia im Zimmer stehte. Sagte, isse gewesen zur Untersuchung in Clinica und fährte zurucke morgen, Samstag, haste nicht Luste, mittezukomme nach bella Italia. Iche denke und denke und denke und denke ja. Und so isse gekomme, dasse nixxe stand in Netztagebuch fuer so lange, aber nun ische binne zuruck, gestern, ausse wunderbare venecia und wien ische binne gekommen, aber dasse und noche viele mehr erfahrt ihr, meine lieben 442 Leser, die ihr euch in den letzten Monaten eingeklinkt habte, in den naechsten Tagen. Vorab nur soviele: esse war wunderschöne. esse ware eine Traume, si si, eine grande fascinatione. Si. Italia bella.   

 

Di 30.01.01  21:55 

lieblingssätze aus der elektropost der letzten monate noch am freitag pries ich den november als den buntesten monat des jahres, frisches getreide stünde handbreit, raps blühe hier und da und die bäume wären umwerfend schön ... josef war der erste, den ich traf, als wir hier einzogen, und wir mochten uns auf der stelle. nun ist er tot, er hat sich einen schönen tag ausgesucht ... it was only yesterday that I decided to get drunk because of the novels I have sold this year ... ich merke schon, du willst mich entwöhnen. das fällt mir schwer, denn so eine wie dich werde ich so schnell nicht wiederfinden ... so kommt eins zum anderen, und noch eh ich noch recht auf den beinen bin, hab ich mir schon wieder die finger wund geschrieben ... yes, i do nothing ... eigentlich wollte ich erst ein bisschen weinen, weil irgendwie gar nix mehr ging, aber dann hat mir der große uni-altsaxophonheld t. die oktavklappe wieder fast ganz heile gebogen ... hier scheint schon seit zwei Tagen die sonne, so dass ich gerade noch auf unserem bescheidenen balkon saß, tagebuch schrieb und dazu tee trank ... jetzt glaub ich ja tatsächlich, dass an diesem oldenburg nix dran ist und ich vielleicht die wirklichkeit geträumt habe ... ein flämmchen ist per definition schon klein, sie muss also nicht noch kleiner gemacht werden ... meinst du das jetzt als scherz??? - nein, mein ich nicht. könnte ja sein, dass agentin an deinem horizont strahlt ... cola, eis, belegte brote, rief jemand ... wir lassen den jährlichen wahnsinn kühl an uns vorüberziehen, ohne mit der wimper zu zucken ... das ist es wohl, was ich zur zeit tue, mir die zeit vertreiben... 

 

Februar 2001

 

Do 1.02.01  12:41   (1.02.1973 cochabamba/bolivien)

Also gut, hier bin ich. Gerade ist ein Stapel Belegexemplare gekommen, was nur bedeuten kann, dass es wahr ist. Ich bin Schriftsteller. Mangels Geschichte verstecke ich mich hinter fantasievollen Titeln. Ich will nicht, dass einer drauf kommt. Ich könnte es nicht ertragen. Ich will nur sein. Wer will, darf mir jetzt folgen. Es wird eine kleine Reise. Wir werden München besuchen, Padua, Venedig  und Wien. Aber ich warne euch. Ihr braucht ein wenig Geduld. 

Die Reise: 1

Padua. Sonntag 21.01.01, frisch geduscht, gegen 17.30 würde ich sagen. Also ihr Lieben, da hat Papa sich also auf die Socken gemacht, ziemlich pronto, wie ich finde, und da A. auf weiten Strecken gefahren ist, sogar noch mehr pronto, denn dieser klitzekleine Polo, in den ich mich da gestern morgen gesetzt habe, fährt dreimal so schnell wie unsere Gurke und A. zögert nicht, auch so schnell zu fahren. Ich habe also zwischen Münster und München häufiger Stoßgebete zum Himmel gesendet. Sie fährt nämlich nicht nur wie ein Ferrarista, sondern tut das auch noch mit einer Hand, während sie mit der anderen telefoniert. Ja. Gern und viel.

Die Einfahrt nach München war problemlos, Jasmins Beschreibung erstaunlich exakt. Kurz nach drei waren wir da, und da Paula und Jasmin auf einen Kindergeburtstag bei Nachbarn wollten, A. nach ihrer Raserei sofort in tiefen Schlaf fiel, tranken Graf und ich auf dem Balkon eine Flasche Tullamore Dew, was dazu führte, dass Graf bald im Schaukelstuhl einschlief und ich bei Wetten Dass. 

Heute früh gegen halb neun aus dem Haus. München war grau, die ganze Welt keinen Steinwurf weit, und A. war schon wieder drauf und dran, neue Rekorde zu brechen. Zum Glück fing es bei Rosenheim an, Schnee zu regnen, das zwang sie zur Aufgabe. Bei Kufstein, da, wo es ins Inntal geht, brach der Himmel auf. Als wir Innsbruck passierten, hatte ich dank Himmel und schneebedeckter Gegend plus österreichischem Radio das Gefühl, mitten im Winterurlaub gelandet zu sein.

Den Brenner haben wir ohne Probleme überquert, aus Bozen habe ich Chris vom Telofonini (???ooo???) angerufen, dann sind wir durch das Val di Sugano Richtung Padua getrudelt. Sonne, Palmen (ja, ich weiß auch nicht, wie diese Palmen das machen, gleich hinter den Alpen zu wachsen) und Gummibäume, die nicht erfrieren, Kirchtürme und das Gefühl, hier in Norditalien hören die Städte eigentlich nicht richtig auf und fangen nicht richtig an, sind eher flächige Metastasen. Und nun bin ich hier. 

Padua Mo 22.01.01
Café Pedrocchi 11.20 ...die venetianischen Löwen in Front, ein zentraler Raum mit Theke, sechs Säulen tragen das Quadrat, der Fußboden ist aus rosafarbenem Marmor, gesprenkelt in Flächen unterschiedlicher Größe und Form, kleine Tische an der Frontseite, je vier lackschwarze Stühle um jeden, gegenüber mit rotem Samt bezogene Sofas. Passanten flanieren durchs Café, die Sonne scheint herein, ich bin mit Paolo verabredet. (...) 

Padua Di 23.01.01 
Café Pedrocchi 11.30  Gestern mit Paolo eine Tour de Force. Rastloses Umherstreifen, Mittagessen und am Nachmittag Musik in der Musikschule, in der Paolo unterrichtet. Spielten Night in Tunesia als Dreier. Gleicher Ort, gleicher Platz jetzt. Mir gegenüber zwei Damen. Beide im Kostüm mit Hut, rot und schwarz. Ich schaue an ihnen vorbei auf die große, die gesamte gegenüberliegende Wand einnehmende Weltkarte, die ein Amerique Meridionale zeigt, ein A. Tentrionale, einen Grand Ocean Equirnorial, Ocean Boreal, alles Ozeane also, von denen ich noch nie gehört habe (Grand Ocean Australe) und woraus ich schließe, dass es sich um eine sehr alte Karte handeln muss. Bestelle Capuccino. Er ist umwerfend gut. Die geschäumte Milch hat die Konsistenz von Eierschnee. Die Damen plaudern angeregt. Elegant gekleidete Menschen hier. Sie haben Stil. Und die Damen tragen gern Pelz. 

Mi 24.01.01 nach zehn im Zug nach Venedig. Verhaltenes Wetter. Der goldene Bär in Wien ist gebucht. Zersiedeltes Land unter diesigen Schleiern, patschnasser Boden. (...) 12.30 in der Schatzkammer des Duomo am St. Marco. Zähne, Knochen, Finger und Hände, das alles in Gefäßen aus Gold und Silber, die spinnen die Christen, die haben vollständig den Verstand verloren. (...) 13.20 Ein postkartengroßes Ölgemälde vom St. Marco gekauft. Wunderschönes Bild, nichts von der Kunstmalerei der anderen Pinselquäler. Das Café Florian geschlossen. Der Nase nach durch die Stadt. Venedig die feuchte. Tropfender Regen, Stimmen, Tauben, Schiffsmotoren, die wie Löwen brüllen, und ich, der nur sitzt und schaut und sich freut.  (...) 16.15 zurück von der kleinen Reise zum Friedhof (Isola d. S. Michele). Auf fast jedem Grab frische Blumen und Lichter. Ein fröhliches Bild. - Tristesse auf der Insel Murano.  

Do 25.01.01 7.40 etwa, im Zug nach Mestre, von dort weiter Richtung Wien.
Gestern Abend kleine Spritztour in die Berge. Ich hatte A. zum Essen eingeladen, sie hatte gesagt, sie kenne ein Restaurant mit typisch ländlicher venetianischer Küche. Kurvten und kurvten und fanden schließlich ins Al Bosco. Aßen dort dicke Spaghetti mit in feine Streifen geschnittenes Kaninchen, dazu Gemüse, das mich an Grünkohl erinnerte, Polenta, gebratene Kartoffeln, eine Grillplatte. (...)  

8:22 Falls es denn so etwas geben sollte wie die Muffigkeit Österreichs, hat sie schon im Zug begonnen. Kein Speisewagen, alte Abteile, ans Scheißen mag ich nicht einmal denken. (...) Sogar hier, nach Udine Richtung Ö., wo es (Tarcento) langsam in die Berge geht, findet sich noch die Verheißung des Südens, die Palme. Sie steht dort und wartet und friert. (...) Werde wohl verhungern. (...) Nebel verhangen, kaum Welt vorhanden. Was sich dem Blick dennoch behauptet, braucht Trost und Zuspruch. (...)

Da! Die Berge (10:13) mit dramatischen Nebel- und Lichtinszenierungen. (Gemona del Friuli) 10:19 Wildes Flussbett, Kiesel und sich teilende Rinnen, die sich im Falle eines Falle schnell zu einem wütenden Strom vereinen. Auf Inseln Kroppzeugs. Folgen dem Fluss (Venzone). Das Wasser schäumt milchig türkis. Herrlich unbeherrschtes Land. Aber auch Mutige, die hier Häuser bauen. Müssen sich nicht wundern.  (...) Traue meinem Kompass nicht so recht. Ost, sagt er jetzt (Carnia) (...)

So. Die Inszenierung gewinnt an Dramatik. Es werden wohl Tunnel kommen, anders wären die Berge vor uns kaum zu überwinden. (...) Ja. Schon drin in einem. Zähle 1,2....160...Zug hupt ... 260 ... Flecken Schnee, Pontebba, noch Italien, noch immer nichts zu essen. 10:45 schon grob geschätzte 15 Minuten durch Tunnel. Grandiose Bauwerke, die ihre Erbauer in der Sicherheit wiegen, man könne die Welt beherrschen. Aber das ist ein Trugschluss. (Ugovizza Valbrunna) Schmutziger Schnee. Autobahn auf Stelzen.  11:04 Fahren jetzt seit fast 30 Minuten durch Tunnel. Vielleicht geht es ja gar nicht nach Wien, sondern in die Hölle. Oder Wien ist die Hölle. Könnte auch sein (Tarvisio).

11:07 Boscoverde. Grüner Wald. Ein österreichischer Schaffner hat den Zug betreten und versichert, dass in Villach jemand zusteigt, der einen Wagen mit Sandwiches und Getränken durch die Abteile schiebt. Na endlich! (..) In diesen Tälern hier braucht der Mensch starke Nerven. (Thörl-Maglern) Sind wir nun also in Ö., si? Ja. In Kärnten. Heider Land. Fickfresse. Amoldstein Pöckau. Es schneit. Wir haben die wildesten Berge einfach durchfahren. Kein Schnee auf den Matten. (...) Stangen an den Wegrändern links und rechts. Schätze, dass sie den Verlauf der Strasse bei hohem Schnee markieren. (...) 11:48 Warmbad Villach. Ob's auch ein Kaltbad gibt?  

So weit der atemlose Reisebericht unseres Korrespondeten M. auf dem Weg nach W. Wie er die wilden Karawanken, den schroffen Simmering und schließlich sogar die Wiener Innenstadt ohne Schaden durchquert, erfahren Sie morgen....

 

Fr 2.02.01  9:27  (2.02.1973 cochabamba/bolivien)

Der Kopf voller Pläne. Ja. Es ist schön, Schreiber zu sein. Manchmal. Draußen fallen vereinzelte Schneeflocken, eher fremd und verwirrt, als wüssten sie nicht so recht. Die Reise geht weiter, nur keine Sorge....  

 

Fr 2.02.01  18:17

Die Reise: 2

12.22 bei Abfahrt in Villach scheint Sonne. Gehe dem Wagen mit Erfrischungen entgegen. Lire 1000 ca. 7 Schillinge. Kaufte einen Dreikäsehoch, ein Baguette und eine Dose Cola. Draußen der Wörther See. Fettige, schleimige, halbseidene Playboys auf Motorbooten. Dazu Peter Kraus. Roy Black eher. Damals.  (...) 

12:40 Klagenfurt. Karawankenwinkel heißt eine Straße und eine Aufschrift an einer Hauswand weist auf eine Volksküche. Hier wird also der jährliche Bachmann Preis ausgekungelt! Hatte mir das erhabener vorgestellt. Und sonst? - Das angenehm Fremde ist weg, dies könnte schon fast zu Hause sein. Bis auf Volksküche, Karawanken  und die Häuser auf dem Land.  Fürchte, das Aufregende der Reise ist vorüber. Jetzt heißt es Ankommen. (...)

Ruhige Bilder. Gewelltes Land. Berge in Wolken gekleidet, Herrschaften, die nicht in Eile sind. Restschnee und Sonne.  (...) Schön ist es zwischen Friesach und Unzmarkt. Möglich, dass das jetzt die Karawanken sind? (...) Bruck an der Muhr 14:58 rauchende Schornsteine. Von hier hätte ich Verbindung nach Graz.

Und überall (selbst auf Murano) haben die Jungs keine Ärsche mehr und können wegen ihre Baggi Pants nicht fliehen. Norske Skog heißt die Fabrik mitten im Ort. (...) Nicht mehr allein. Ein Mensch in grauem Anzug steigt ein und ist sich nicht zu blöd, gleich zu telefonieren. Ob es Neues gäbe, fragt er, und er sei jetzt gerade losgefahren. Entweder bin ich ihn ab Münzzuschlag wieder los (gleich), oder er hockt hier bis Wien. (Damals in den Karawanken, wollte ich ... nein.)

An den Hängen treten die weidenden Rinder sich ihre Treppen selbst. (...) Die Schneestangen (???) an den Straßen sind orange/schwarz und ich nehme an, daß man an diesen Markierungen auch die Höhe des Schnees ablesen kann.  Wie hoch? No, halb orange etwa! (...) Keine zugefrorenen Gewässer. (...) Tja, he goes to Vienna. Graues Monster mit rundgebogenen Schultern. Raucht stinkige Zigaretten.  (...) Leute beim Eisschießen auf einem Hinterhof. Die Bahn sah aus wie selbst angelegt. Im übrigen schmutziger Matschschneematsch. (...)

Spital im (am) Simmering. Mitten im Nirgendwo eines Waldes links der Bahn ein blauer Sanobub Plastikmülleimer.  Semmering! heißt das, kommt mir bekannt vor, irgendwie. Wild zerklüftetes Land, das mir gut gefällt, überaus gut, das Beste seit langem (Breitenstein). Der Zug kriecht durch Kurven bergan, Nebel lässt die übrige Welt nur noch ahnen. Mein Nebenmann spricht plötzlich (nicht wie vorhin) Schmäh. Hat er vorhin also nicht - wie ich dachte - mit seiner Frau telefoniert, sondern eher mit seinem Büro. (...) Lese in der "Wilde Schafsjagd von Murakami auf Seite 276 dass Ohren "brimmsen" vor Kälte. Kenne ich nicht, dieses Wort. Nie gehört. (...)

16.00 und es scheint, als hätten die PKW auf den Straßen schon Wiener Kennzeichen. Ja.  Nebel noch. Trostloses Nichts, das alles Licht schluckt und will, dass ich weine.  (...) An Wiener Neustadt vorbei volles Rohr stadteinwärts. Der Zug rennt ihr entgegen. Stroh/Deichmann/Spar/Magnet/ erste Lebenszeichen aus gespenstischem Wiener Nebel.  (...)

18:30 Hotel Goldener Bär: geduscht, jetzt ein wenig lang legen & das Dröhnen der Großstadt genießen. (...) 23:45 Im Beisl an der Ecke (Lechner/Goldfassl) gegessen. Ich glaube: Erdäpfelgulasch. Wusste nicht recht, ist das Szene hier oder tiefes Bunkentum. Mir gefiel das. Anschließend im Boltzmann, eine Kneipe an der Währinger Strasse. Trinke noch einen Obstler, eh ich ins Hotel zurück gehe.

Hier bin ich also, die Fugees singen und ich freue mich, dass ich hier bin. (...) erste Eindrücke vorhin: Südbahnhof: große weite Tristesse. Schlechte Beschilderung. Ich finde weder U- noch S-Bahn (letzteres wegen eigener Blödheit). Gruppen von Jugoslawen unterm weiten Bahnhofsdach. (...) Beim Geldautomat rückt mir ein herunter gekommener Mann um die 30 sehr auf den Leib, so dass ich ihn schließlich bitte, er möge ein wenig mehr Abstand halten. Worauf er spricht, ich aber nicht weiß, was. Denke Scheiße, das könnte Ärger geben, aber er tritt zurück. Bedanke mich. Bin ein wenig erstaunt über meine Bereitschaft, mir gleich bei Ankunft Ärger einzuhandeln. 

Fortsetzung folgt....

 

Sa 3.02.01  13:33 (3.02.1973 santa cruz/bolivien)

Die Reise: 3

Also, kein chronologisches Erinnern mehr, stattdessen Gesichter? Jugoslawen im Hauptbahnhof. Dobcze. - Taxifahrer. Die Fahrt durch das imperiale Wien. Ich bin's, der Kaiser. - Die Bedienung im Lechner: rotblond, kräftig, folkloristische Kleidung, ja. Frech schaut sie aus. Schlagfertig ist sie. Behauptet, sie sei auch nur ein Mensch. -

Der Rasta in der Hotelrezeption fragt, ob ich noch Kaffee oder Tee wolle? Marihuana! sage ich. Er stutzt. Dann bedauert er, das hätte er leider nicht hier. - Die langen Wege am ersten Morgen. Jogger am Donaukanal. Die Enttäuschung im Würstl-Prater. Das hatte ich mir romantischer vorgestellt. - Aber für den Praterstern hat sich's geleohnt. Aß Maroni 15 Stück zu ??? Sehr gut. -

Ins Zentrum dieser grandiosen Stadt. Wie es Herrscher verstehen, Völker auszubluten, um ihre eitlen Moden zu leben. So etwas ist Wien: der überhebliche Traum verbrecherischer Aristokraten. - Denke gleich an den kleinen desillusionierten Adolf Schickelgruber, späterer Hitler. Wie er da abgewiesen herumwandert und über Träumen brütet. Heil Schickelgruber! Wie er sich durch die habsburgischen Prachtstraßen fantasiert und schon mal die Ovationen von Millionen Toten entgegennimmt. -

An das Grüß Gott werde ich mich gewöhnen. Mögliche Antwort: wenn du ihn siehst.... Besuch im Verlag. Ich glaube, ich hinterlasse einen guten Eindruck. Man fragt, wie ich den Verlag fände. Nun, ich hatte an Stahlrohrmöbel und schwarzes Leder gedacht, postmodern, sage ich. Kleines freundliches Gelächter. -

Obwohl ich eine Tageskarte für öffentliche Verkehrsmittel gekauft habe, laufe ich bis zum Umfallen. - Ort für Sehnsucht: der Praterstern mit Hinweisschildern: Prag. Budapest. Brünn. - Erschreckend: die Demutsgesten der Bettler: kniend mit gesenktem Kopf, die Hand zu einer empfangsbereiten Schale vorgestreckt. Sah gleiches auch in Venedig. Erinnere mich nicht, je so etwas in Indien gesehen zu haben. Auch nicht in Südamerika. In Japan schon gar nicht. - 

Vielleicht hat die allgegenwärtige Tristesse Wiens mit der schlechten Beleuchtung der Strassen zu tun? - Worte wie: Knopfteigbletschen. - Die quadratischen Ampeln mir ihren altmodischen Ampelmännchen. Und die, die über Kreuzungen baumeln.- Vielleicht riecht Österreich nach Bohnerwachs? - Möglich. - Eislaufen. Wir waren Eislaufen. Und haben Punsch getrunken dazu. Wir waren am Zentralfriedhof und im Schlosscafé Condordia. Und im Hawelka. Ja. Wien. Wien war wundervoll. Vienna vass vondervull.  Wien was leuk. Vienna tutto buono. Si. Tschüss Gudrun. Buon giorno Antonia. Ciao Paolo. Bellissima.

Vergaß den Pianisten bei Lechner. Saß da im stockdunklen Gesellschaftszimmer vorm verstimmten Klavier und sang "...it's a little bit funny this feeling inside (...) während sein Freund ihm mit einer Taschenlampe Licht spendete.

Sa 3.02.01  16:58  

Yes then. The publisher wants one short sentence, that stands for the novel. Einen Satz für die Innenklappe. Hier kommt er: (...) schließlich lag Kasia in meinen Armen. Wie eine Feder so kühl und so warm, wie ein Schatz, etwas, das ich nie mehr weggeben würde, nie, nie, nie. 

 

Sa 3.02.01  18:17  

Und euch Nazis sei versichert: ihr gewinnt nicht.

 

So 4.02.01  19:46   (4.02.1973 santa cruz/bolivien)

1: Ich heiße Erna Danzenberger

Ich komme nicht aus Böhmen. Nein (empört), der Hawelka (lacht), der Hawelka,  der kommt daher. Ich komme aus Oberösterreich. Mein Vater war Fleischhauer. Deshalb weiß ich das alles auch so genau; wie das sein muss mit dem Fleisch und wie das war, als der Hawelka und ich das Café eröffneten. Der Hawelka war grad aus dem Krieg zurück. Hatte Glück gehabt in Stalingrad, kurz bevor der Ring sich schloss, war er noch draußen, und als er sich schloss, war der Befehl, vorzurücken, nicht bei seiner Einheit angekommen. Und so hat er Glück gehabt, der Hawelka. Der jetzt 90 ist, sagt Erna, und schon mal vergisst. 1945, sagt sie, sah es hier schon fast so aus, wie es jetzt aussieht. Die Gäste wollen das heute so. Das ist gefährlich. Da kann man nicht einfach so was verändern. Deshalb bleibt das auch. Und 45, wissen Sie, das war eine Zeit, da verschwanden schon mal Leute. Junge Mädchen. Verschwanden einfach. Gingen weg und kamen nirgendwo an. Und dann konnte man wieder Fleisch kaufen. Ja - (hinter vorgehaltener Hand) - das wollte damals auch niemand wahr haben. Menschenfleisch. - 

2: Ich heiße Erna Danzenberger.  

Ich habe viele kommen und gehen sehen. In meinem Kopf spielen viele Geschichten, und die würde ich gern erzählen, eh ich sterbe. Aber es hat sich noch keiner gefunden, dem ich sie erzählen wollte. Die, die es hören wollten, wollten es nur wegen dem Geld, und das wollte ich nicht. Und ich habe ja auch nicht viel Zeit. Mit dem Geschäft. Und so ein Tonband, dem ich es erzählen könnte, das müsste ich ja auch erst mal hinkriegen. Mit den ganzen Knöpfen. Und wie das geht. 

3: Ich heiße Erna Danzenberger. 

Meine Familie ist aus Bayern nach Oberösterreich eingewandert. Der Hawelka und ich, wir haben zwei Söhne. Enkel sind auch da. Das erste Café haben wir 1939 eröffnet. Aber nicht hier. Hier haben wir 45 eröffnet. Der Hawelka ist immer raus in den Wald, Holz holen. Wir hatten aber Glück. Wir haben immer viel Glück gehabt. Damals hatten sie ja den Gleichstrom und den Wechselstrom. Und hier, hier hatten wir sofort den Wechselstrom. Das war gut. Da kamen die Leute und saßen und lasen. Wir kochten ihnen Kaffee. Blümchenkaffee. Der Hawelka hat das Geschäft von der Pike auf gelernt. Im Krieg hat er gekocht. Das hat ihm Vorteile gebracht. Und gemuckt hat er sich nicht. Hat sich immer im Hintergrund gehalten, dass er nicht auffiel. Das hat ihn gerettet. Das Hawelka ist ja in einem Haus, das ist vier Stockwerke tief und voll Beton. Das war auch gut. Und nebenan war ja eine Bar. Ist ja jetzt immer noch so etwas wie eine Bar. Und da war dieser Mann, der hatte sich Fleisch gekauft. Und er hatte das liegen lassen so einen Tag oder zwei, und dann war das so merkwürdig aufgegangen. Und ich sage Ihnen, das war Menschenfleisch. Ja. Das will keiner hören. Aber so war das, damals. Hier in Wien.

 

Mo 5.02.01  9:47

flashback. montag 5.02.1973 santa cruz/bolivien: wir sind auf dem sprung in ein billigeres hotel. von katherine gestern gute tips und wichtige addressen für rio bekommen. sie unterrichtet am cultura inglesa englisch und meint, das könne ich auch. mir gefällt die idee. ich würde dann eine weile in rio leben. katherine sagt, sie hätte ein zimmer frei. also. niemand hindert mich. es ist nicht mehr weit. nur noch quer durch paraguay, ein stück argentinien und quer durch brasilien. 

 

Mo 5.02.01  14:29

Gleich zum Zahnarzt, heute Abend vielleicht zur Session nach Dortmund. Festzuhalten bleibt: ich fange wieder von vorn an. Vergesse, was war und beginne von Neuem. Einen anderen Weg gibt es nicht.  

 

Di 6.02.01  10:15  

In Georgs Garten gehen Krokusse auf. Vor unserem Balkon blühen Schneeglöckchen. Es regnet, aber man kann diesen Regen nicht fassen, es ist eher ein anderer Aggregatzustand der Luft.  Ich bin noch weit vor meinen Gedanken. So weit, dass ich jede Vernunft weit hinter mir weiß. 

Traf am Sonntag einen jungen Bildhauer, der Anfang der 90er drei Jahre in Wien gelebt und bei Ernst Fuchs studiert hat. Er erzählte mir von österreichischer Bürokratie. Damals brauchte man noch ein Visum, um in Ö. zu leben. Die zuständige Behörde gab täglich hundertfünfzig Besuchernummern aus, ab drei, halb vier morgens waren die zu haben, aber jeder wusste, dass man mit einer Nummer über 40 nie an die Reihe käme. Und so kämpfte er tagelang, um endlich den zuständigen Sachbearbeiter zu sehen. "Sssoo, a  Piefke saanns..." Solche Sätze, sagt er, hätte er in Amtsstuben gehört. Aber natürlich: auch er liebte Wien. 

Wir trafen uns auf einer Vernissage. Der Galerist war schon betrunken, als ich kam. Ich sage "du bist betrunken, stimmst?" "Merkt man das?" sagte er beunruhigt. "Sag mir, wenn ich drüber bin." "Okay." Als die Reichen und Einflussreichen gegangen waren, saßen die, die wegen der Kunst oder aus Freundschaft zum Galeristen gekommen waren, in seinem Büro und tranken, was das Zeug hielt. Pinot Grigio an einem Sonntagnachmittag mit Tauwetter. Dazu Häppchen vom Italiener.

 

Mi 7.02.01  8:55 (7.2.1973 santa cruz/bolivien)

Ballade von einer Kanaken Stadt

Ich weiß noch  
wo die Fabriken standen 
ich roch und sah, dass viel Arbeit da war
dass niemand sie wollte  hab ich nicht verstanden
dann wollten sie welche mit schwarzem Haar.

Ich war zehn und sah sie samstags im Park
sie spielten Fußball mit Feuer
sie waren schnell und ich fand sie stark
und beim Lachen so ungeheuer.

Ich ging näher heran und verstand nicht ein Wort
ihr Ball tropfte mir vor den Fuß
sie riefen,  ich dachte,  sie jagen mich fort
stattdessen winkte mir einer zum Gruß
also schoss ich zurück, der Ball drehte ins Tor 
und der kleinste Spaghetti schrie „Deutschlande vor!“ 

Die Eltern sagten, geht nicht zu nah ran
diese Kerle sind sehr gefährlich
doch ich kannte Mädchen, die fassten sie an
und fanden Spaghettis herrlich.
Sie heirateten sie, gingen fort von zu Haus
sie kriegten Kinder, sie bauten ein Haus
sie leben und kaum einer fragt noch, woher
dieses Kind mit den dunklen Augen wär.

Wo ich herkomme
wurden Tuche gewebt
und schon immer waren da Fremde
wo ich hingeh
hab ich noch nicht gelebt
es ist wohl am anderen Ende.

Ein Hörnchen Eis und schwarzes Haar war’n der Grund
dass ich von der weiten Welt träumte
ich schaute mich an Weltkarten wund
damit ich bloß nichts versäumte. 

Während ich im Traum das Meer überquer
kam die Welt her, um Tuche zu weben
Portugiesen, Spanier, Türken und mehr
alle, alle konnten hier leben.

Ich wurde groß, meine Stadt mir zu klein
ich spür noch,  wie wild mein Herz schlug
als ich sie verließ, ich reiste allein
übers Meer, weit weit fort ging der Flug
doch wo ich auch hinkam, Menschen waren längst da
ich war weiß, sie  war’n bunt, und wir wunderbar.

Eine Weile vergaß ich die kleine Stadt
an der Grenze und all ihre Wunden
eine Stadt, die sich geschunden hat
denn ich hab sie verändert gefunden.
Erst dröhnten die Werkshallen nicht mehr so laut
dann bevorzugte man wieder weiße Haut
und als den Fabriken der Atem ausging
gab's für niemand kaum mehr als 'nen Pfifferling.

Und alle hielten den Atem an
Und jeder schaut auf den Nebenmann
Und jeder glaubt, dass er’s schaffen kann
Und so fängt es von vorn wieder an.

Ich bin fünfzig
und seh die veränderte Stadt
aus aller Welt sind sie dort
gäbe jeder, was er zu geben hat
niemand müsste je wieder fort.
Aber es ist, wie es ist, und wie ich es nicht will
die Dummen sind laut und die Klugen sind still
es ist, wie es ist, doch ich glaube daran
das alles noch gut werden kann.

Wo ich herkomme
wurden Tuche gewebt
und schon immer waren da Fremde
wo ich hingeh
hab ich noch nicht gelebt
es ist wohl am anderen Ende.  (5)

 

Mi 7.02.01  12:06 

Bügelwäsche liegt auf dem Sessel. Erik Truffaz "bending new corners" läuft, ich bügle in den abwartenden Morgen. Irgendwann kommt ein Junge vorbei, dreizehn vielleicht, hat einen Hund und der setzt sich auf den Rasen vorm Balkon. Ich denke, mal sehn, ob er ihn scheißen lässt, denn so sind die meisten, die mit Hunden hier vorbeikommen. Tatsächlich. Er lässt ihn seelenruhig scheißen und geht weiter. Ich mach die Balkontür auf und rufe ihm nach, er solle den Hundedreck gefälligst mitnehmen, aber er tut, als würde er mich gar nicht hören, geht aber merklich schneller. Ich bin mit zwei Sätzen draußen und schnappe ihn mir. Nicht, weil ich was gegen Hunde habe, sage ich ihm, sondern, weil ich was dagegen habe, dass sie vorm Balkon immer alles zuscheißen. Außerdem gibt es jede Menge Kinder im Haus. Also nimm das mit! Er sieht mich treuherzig an und sagt, er hätte aber jetzt gar nix dabei, um das wegzumachen, hätte zu Hause aber so eine Extragreifzange, die wolle er holen und dann käme er gleich. Okay sage, dann sind wir ja einig und gehe. Jetzt bin ich fertig mit Bügeln, aber er ist noch nicht gekommen. Ich hasse das. Ich könnte explodieren, wenn Leute nicht tun, was sie versprochen haben zu tun. Soll er zur Hölle fahren. 

 

Do 8.02.01  15:04 (8.02.1973 embarcation/argentinien)

Mal angenommen, diese Welt wäre die andere Welt, also die, von der man immer träumt, weil man in dieser nicht voran kommt, sie nicht mag, ihr misstraut oder einfach, weil man ein Träumer ist, also angenommen, dies wäre die andere Seite der Welt, was wäre ich dann, heute, jetzt hier, um diese Zeit, bei ca. 15 Grad Celsius? - Nun. Bis mittags wäre ich ein glücklicher Schläfer, ab Mittags ein Wolken- und Lichtmaler, der sich vor allem darauf verstünde, die Dynamik des wechselndes Lichtes darzustellen, wenn es urplötzlich hervorbricht und die Landschaft blitzblank putzt, so dass alles, was schäbig aussieht, schäbig aussieht, aber das, was schön ist, wunderschön wird. Ja. Das wäre ich am Nachmittag. Ich würde nicht mit Farben geizen. Ich wüsste für jede Wolke den passenden Namen. Ich könnte mit Vögeln sprechen, während ich vor meiner Staffelei stünde und atmete. Das würde schon reichen. Abends aber wäre ich dann Bassist. Bassist einer Band, der es ohne sichtbare Mühe gelänge, Säle voll skeptischer Menschen zur Raserei zu treiben. Ja. Das wäre ich wenn. Aber da ich bin, was ich bin, bin ich. 15 Grad Celsius. Westeuropa. Ich kann die See riechen. Gestern, 17.42,  hörte ich zum ersten Mal in diesem Jahr eine Amsel singen. Und als wäre das alles noch nicht genug, die italienische Eisdiele rüstet sich auch zur Eröffnung. Also. Nur Mut. 

 

Fr 9.02.01  10:43  (9.02.1973 embarcation/argentinien)

4-5 Schulkinder, acht Jahre vielleicht, rufen "wer findet alles, das Andreas Schrick Scheisse ist, Finger hoch!" Ich stelle mir vor, ich wäre Andreas Schrick.

 

Mo 12.02.01  11:12 

flashback: 12.02.1973 Formosa/Argentinien: 

Na endlich. 95 Stunden, seit ich Santa Cruz verlassen habe. Und die Aussicht, heute noch nach Asuncion zu kommen!  Ich ahnte ja nicht, wie langsam Züge sein können. Und wie überfüllt. Aber ich hatte Glück. Ich ergatterte einen leerstehenden Postwagen. Darin ein kleiner Ofen, eine Bank, ein Tisch, eine Art Veranda davor, auf der ich sitzen konnte. Mein Reisepartner: ein im Waggon angebundener Ziegenbock. Wir  verstanden uns. Der Zug hielt ständig. Man kuppelte Waggons ab und wieder an. Fuhr vor und zurück. Niemand außer mir fand das beunruhigend. Die Leute stiegen einfach aus und bereiteten sich ihren Mate-Tee. Ich saß oft auf meiner Veranda. Um mich die Pampa. Über mir ein Himmel der nirgendwo endete. Hoch und weit. Der Sonnenuntergang färbte den Himmel lila, orange, blau und rot.  Nachts das Konzert der Heuschrecken, Käfer und Frösche. Ich fühle mich wohl. Muchilléro nennen sie mich. Muchilla heißt Rucksack. Muchilléro: der mit dem Rucksack reist. Ich verliere mich. Ich finde mich. Ich zeige mir, wer ich bin. Ein gefährliches Spiel. Gleich könnte ich tot sein.

 

Mo 12.02.01  12:31

Der Metzger um die Ecke bietet: Känguruh-Fleisch, Krokodil-Filet, Straußen-Fleisch. Ich hätte gern: ein Viertel Nonnenvötzchen, eine Tüte Nachtigallen-Zungen und vielleicht ein klein wenig Rinderhirn. 

 

Di 13.02.01  16:07  (13.02.1973 asuncion/paraguay)

Also geht das Spiel weiter. 

 

Mi 14.02.01  17:36 (14.02.1973 asuncion/paraguay)

Aber welches Spiel? - Das Spiel des Dichters, das des Trommlers, das des 51jährigen, das des Vaters, das des Alltags oder das der Ausnahmen, das nur an wenigen Tagen des Jahres gespielt wird, in manchen Leben nicht einmal das, das Spiel der Ausnahme, die sich nie einstellen wird, das Spiel? - Ja. Vielleicht. Fragen führen zu Antworten. Und so bleibt alles spannend. Gestern Venedig, vorgestern Wien, übermorgen Rom. Das Spiel ist schön.  

 

Fr 16.02.01   10:12

flashback: 16.02.1973 encarnation/paraguay

seltsames pflaster dieses encarnation. blonde menschen, saubere straßen. musste durchatmen, eh mir klar wurde, dass in dieser kleinen stadt am fluss parana mehr menschen deutsch sprechen als spanisch. religiöse siedler sind es, die hier colonien gegründet haben, mennoniten. und so sitzen in dem café, in dem ich schreibe und über den fluss auf die argentinische seite schaue, mädchen in dunkelblauen schuluniformen mit blonden zöpfen und unterhalten sich in einem deutsch, das zwar deutsch klingt, aber aus einer anderen zeit stammt. flussabwärts ist die provinz missiones, urwald bis hin zu den iguazu wasserfällen am dreiländereck paraguay, argentinien und brasilien. vielleicht setze ich heute noch über. von posadas, sagt man, gäbe es busse und boote. 

 

Sa 17.02.01  13:35  

der abgeschlossene roman: 

der zug verließ die station. ich saß im letzten waggon. eine junge frau hinter mir sprach ins handy. "siehst du mich? - ja. gerade. volksoper, glaube ich. ja. bis gleich." ich seufzte. ich dachte an die lügen, die vor ihr lagen. schade, dass niemand die wahrheit erträgt. der zug begann zu vibrieren. ein schütteln erfasste ihn, ein reißen fraß sich in meine gedanken, dann war stilles dunkel. tot? dachte ich? bin ich - tot?

 

Mo 19.02.01    10:13 (19.02 1973 cataratas iguazu/argentinien/brasilien)

Fußballschlachtgesänge. Die Anhänger des HSV in der Nordkurve, die von Borussia Dortmund in der Südkurve. Max und ich hoch oben auf der Westtribüne, die atemberaubend steil vor uns abfällt. Schallwellen fangen sich unterm Dach und begraben uns. Mir ist mulmig. 65000 Menschen in unmittelbarer Umgebung und mindestens 60000 wollen sehen, wie Dortmund den Hamburger  Sportverein besiegt. In den Fanblocks glühen bengalische Höllenfeuer. Pauker treiben die Mannschaften an. Fahnen werden geschwenkt. Menschen reißen die Arme hoch wie Ertrinkende. In unserer Nachbarschaft ist es ruhig. Analysierendes Betrachten. 65000 Schiedsrichter und Trainer begutachten die Arbeit ihrer Akteure. Max und ich essen Chips und trinken Cola.  

 

Mo 19.02.01  12:00

flashback: 19.02.1973  cataratas iguazu/argentinien/brasilien: übernachte draußen. als ich zum sonnenuntergang bei den wasserfällen sitze und hinüberschaue, setzt sich jemand zu mir. anfang 30, sportlich, sieht aus wie ein italiener, jedenfalls keine spuren indianischer herkunft. sagt "guten abend" und es geht ein lockeres gespräch los über woher und wohin, und wie so oft, wenn ich sage, dass ich aus deutschland bin, erfahre ich merkwürdiges. diesmal geht es darum, mein großdeutsches erbe zu rühmen. und irgendwann zieht dieser mann einen revolver. damit, sagt er, mache er kommunisten kalt. er arbeite für die argentinische regierung. so eine art spezial- polizei sei er. sowas wie gestapo, sagt er  und lacht stolz. er ist ein freundlicher mann. ich soll die pistole ruhig mal halten sagt er. und dann hat er auch noch wein im rucksack. weißen, kühlen wein, den wir gemeinsam trinken. 

 

Mi 21.02.01  14:56 (21.02.1973 sao paolo/brasilien)

die in fragezeichen aufgelöst leben, wer liebt die? 

 

Mi 21.02.01  21:33 

übern himmel kreischt es, kreischt: mein bist du, mein, dich mach ich tot, dich werd ich matschig haun, kreischt und schleppt schall hinter sich, übern himmel nach süden, damit die endlich wissen, die südler, dass sie auf immer am arsch sind, dass wir sie nicht nur ausbeuten, nein, kreischt: jetzt hetzen wir euch auch noch das klima auf den hals, ja, das machen wir, basta, ihr schweine. fresst staub, kreischt: fresst staub, damit ihr krepiert.

 

Do 22.02.01  18:11     (22.01.1973 sao paolo/brasilien)

Die erste "Sackgasse 13" Lesung wird am 30. März um 17.00 über die Bühne gehen. Der Ort: die Stadtbücherei Münster. Ein guter Platz. Ein wundervoller Bau, um den die Stadt viele beneiden. Ich werde mit Kindern der Geist-Schule zusammen arbeiten. Wir werden uns eines meiner Hörspiele anhören, dann werde ich ihnen aus der Sackgasse erzählen, wir werden uns den Raum in der Stadtbücherei anschauen, und dann werden die Kinder sich an die Arbeit machen. Sie haben freie Hand. Sie können den Raum gestalten. Ich werde die Presse scharf machen, so dass wir aus der ganzen Aktion ein wenig Kapital für die Geist-Schule, für fächerübergreifenden Unterricht, für meine Lesung und natürlich für das Buch schlagen können. Die Leute der Stadtbücherei sind sehr kooperativ. Einen Büchertisch wird es auch geben. Also Leute: kauft. Macht mich reich, wenn schon nicht glücklich. 

 

Fr 23.02.01    (23.01.1973 parati/brasilien)

gestern, halb zehn: es schellt. ich gehe zur wohnungstür, drücke den summer und gehe hinaus in den flur. die haustür schwingt auf. eine dunkelhaarige frau kommt herein, bleibt stehen, schaut zu mir hoch und fragt: kann ich mal die hausfrau sprechen. ich bin die hausfrau, sage ich. was gibt's? ich hätte da was zu verkaufen, sagt sie. ich: ich will nichts kaufen. sie: ja, aber sie wäre vom zirkus karl krause und sie hätten die genehmigung, hätte ich denn was für die tiere? dabei sieht sie mich herausfordernd an,  und ich mag sie sofort. ihr seid roma, oder? frage ich. deutsche, sagt sie. klar sage ich. deutsche roma. nein, sagt sie, sinti, und ich vergesse zu fragen, wo da der unterschied liegt. ob ich denn was geben wolle? fragt sie. ich schaue im portemonnaie nach. hab nur einen zwanziger, sage ich. sie könne wechseln, sagt sie und ich sage: okay. fünf mark dann. sie nimmt den schein und holt eine hand voll silbergeld aus ihrer jackentasche. du hast mehr als ich, sage ich und sie sagt: ist für die tiere. 

 

Fr 23.02.01  18:01

Die Stadt Ellwangen lobt den Jugendliteraturpreis 2001 aus. "Herz-Los" das Thema. Um fiktionale Prosatexte soll es sich handeln, die sich mit dem genannten Thema auseinandersetzen. Lesealter 13-17: ich denke an eine deutsch-holländische Geschichte. 

 

Sa 24.02.01  15:49   (24.02.01 parati/brasilien)

vorhin: gegen elf: frost legt sich aufs gesicht und formt stille masken. sie sind zu fuß unterwegs. über die autobahn, durchs aa-tal: sie gehen zum markt in die große stadt. irgendwo spricht er: sagt: diesen minderwertigkeitskomplex, dieses: es nie gut machen zu können, nie zu erreichen, was angeblich erwartet wird, diesen komplex habe ich mir schon vor jahren in eine vitrine gestellt. doch obwohl ich herumgehen und ihn mir anschauen kann, habe ich keine chance, ihn zu ergründen. er begleitet mich seit ich fühle. ich kann nichts gegen ihn tun. sollte ich dich also verlassen, dann nicht, weil erfolg uns trennt, nicht, weil eine andere frau im spiel ist, sondern, um mir zu beweisen, dass ich es wert bin. sagt er. 

 

Sa 24.02.01   17:34

flashback: samstag 24.02.1973: parati/brasilien.

auf halbem weg zwischen sao paolo und rio de janeiro. ich weiß noch, dass der bus von der  küstenstrasse nach rio scharf rechts abbog und dann ging es hinab durch feuchtwarmen wald richtung meer. parati war nicht groß. parati war ein dorf. es lag da in der sonne. es gleißte. einen arkadengang gab es, eine kirche mit glocken in durchbrochenen türmen, kolonial aufgeräumt, nicht indianisch arm. ein strand gleich beim marktplatz? ja, so weit ich weiß, ja. kein schatten. ein zimmer in einer pension mit dunkel gebeizten möbeln, ein herrschaftliches bett, fast familienanschluss. was ich hier tue? ich bin auf dem heimweg. seit fast einem jahr laufe ich vor mir davon und suche den heimweg. jetzt, wo ich näher und näher komme, wo ich so viel gesehen habe, dass ich nichts mehr aufnehmen kann, jetzt wird mir unwohl. ich werde bald wieder da sein, wo ich gestartet bin. mutter. vater. tante. schwester. und gleich am ersten abend wird meine ehe besiegelt. mein kinder werden gezeugt. der rest meines lebens entschieden. ich werde keine zeit haben, nachzudenken. ich werde die treppe zur "lila eule" hinunter steigen, werde die tür öffnen und hineingehen, und da wird sie vor mir stehen. als hätte sie gewartet. ich kannte sie vorher. ja, es war nicht so, dass ich nicht gewusst hätte, wer sie ist. aber an diesem abend beschlossen wir unsere zukunft. im abgedunkelten zimmer meiner pension in parati  male ich mir das alles nicht aus. ich bin einsam und müde. ich will nicht mehr reisen. ich will zurück in die stadt an der grenze. ich fühle mich zu ihr gezogen, aber weiß auch, dass es kaum einen tag dauern wird, bis ich wieder fort will. immer will ich fort. nie will ich bleiben. hier in parati, wo es am strand nicht einen schattigen ort gibt, hier in parati, wo sie mich anstarren wie einen geist, hier in parati stelle ich mir vor, dass meine plantagen im hinterland reichen profit machen und ich, von schwarzen sklaven mit palmwedeln umfächert, auf meiner veranda liege und in die hände klatschend limonenlimonade verlange. limonenlimonade. und dann verschwindet die sonne und die nacht schlägt auf wie ein vom himmel gefallener schreck und die tiere schreien und winseln um ein bisschen licht vom mond. ich sitze auf meiner veranda, allein seit fast einem jahr, und vermag mir nichts vorzustellen. weder sehe ich mein leben vor-  noch das hinter mir. ich habe keine vision. nichts fesselt mich. gar nichts könnte es mir recht machen. ich sitze nur und langweile mich. hier bin ich, hier, rufe ich und von den türmen der knochenweiß gebleichten kirche rufen die glocken die zeit hinaus aufs meer und ich fürchte mich fürchte mich fürchte. noch ein paar tage, und ich werde ich rio geburtstag feiern. 

 

So 25.02.01  13:18     (25.02.1973 parati/brasilien)

wunderbare wunder: jakob d., dreissig jahre im dienst der römisch-katholischen kirche, erwachte mit einer gewaltigen erektion. all die jahre hatte er versucht, gefühle im keim zu ersticken, nicht eines hatte er sich zugestanden, aber an diesem morgen war es nicht zu übersehen. überwältigt vom ruf der natur stand er auf, um ihn seiner haushälterin zu präsentieren. 

 

Mo 26.02.01  13:03  (montag 26.02.1973 rio de janeiro/brasilien)

Lindwürmer der Narretei winden sich über Land, nur der kleine Hermann ist still und antwortet nicht, wenn man Helau ruft. Der kleine Hermann ist bockig. Er will nicht fröhlich sein. Er findet Männer mit gezackten Mützen zum Kotzen und beschließt, keinen Schritt vor die Tür zu tun. 

 

Di 27.02.01   7:56 (27.02.1973 rio de janeiro/brasilien)

Metallischer Morgen. Reif auf Dächern. Lichtgeflutete Hauswände. Frühstück. 

 

Di 27.02.01  11:42   

Ich muß mich  entscheiden. 

Schreibe ich....

Der Mohr  von Roxel. 

Die Geschichte eines afrikanischen Sklaven, der mit dem Ur-ur-großvater der Annette von Droste Hülshoff nach Westfalen kam, hier das Orgelspiel erlernte, Organist an der Pantaleon Kirche wurde, die Tochter des Organisten heiratete, fünf Kinder mit ihr zeugte, und dann nur 14 Tage nach ihrem Tod 1756 starb. Eine Liebesgeschichte. 

 

Die Cash-Money-Brothers

Die Geschichte eines Türken, eines Deutschen und eines Roma-Jungen. Der Türke verliebt sich in ein Mädchen, dass ihn abblitzen lässt. Aus Enttäuschung stiftet der türkische Junge seine Gang, die Cash-Money Brothers, dazu an, das Schulfest der Schule des Mädchens aufzumischen. Dabei kommt es zu einem tödlichen Handgemenge.

oder...

Der heilige Bimbam

Ein Weihnachtskrimi.

Alles eine Frage des Geldes. Ökonomisch sinnvoll wäre es, mal wieder fürs Radio zu schreiben. Ein Hörspiel zum Beispiel. Oder einen Ohrenbären. Ja. Das wäre vernünftig. Aber wer ist schon vernünftig? 

 

Mi 28.02.01  8:04 

flashback: mittwoch 28.02.1973 rio de janeiro

es ist ganz unmöglich, in dieser hitze etwas zu tun. auch nachts kühlt es kaum ab und schon am frühen morgen ist es wieder so unerträglich warm, dass ich mich von einer ecke in die andere drücke. rio ist noch hektischer als sao paolo. die karnevalsvorbereitungen laufen auf vollen touren. ich bin gespannt. post von michael aus new york. michael wird popstar. ich sehne mich nach einem dreiblättrigen joint. heute abend gehts auf eine samba party in die favellas. 

 

Mi 28.02.01   17:11 

553 Besucher haben die Seite bisher besucht. Ein paar kenne ich. Aber vom Rest ist unbekannt, und das ist ein merkwürdiges Gefühl. Allein 109 im Februar.

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Zitate:  1.Haruki Murakami  "Hard Boiled Wonderland" //  2. Haruki Murakami  "Hard Boiled Wonderland" //  3. Haruki Murakami. "Wilde Schafsjagd" // 4. Hermann Mensing "Große Liebe Nr.1" // 

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