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Hermann Mensing

Briefe an Annette von Droste Hülshoff

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Liebe Annette,

erinnerst du dich an das Jahr 1815? Es regnete und stürmte in einem fort, die Sonne schien so gut wie nie, die Ernten fielen aus, und die Welt fragte sich, was geschehen wäre. Manche munkelten vom Weltuntergang. Ein seltsames Jahr, und doch gab es eine Erklärung. Ihr Damaligen hattet ja, falls überhaupt, erst mit großer Verzögerung Nachrichten aus der Welt. Was also war geschehen? Der Vulkan Tambora in Indonesien war mit ungeheurer Wucht ausgebrochen. Es gab unzählige Tote, und es gab diese Aschewolke, die um den Globus kreiste und den Himmel verdüsterte. Im Juli 2019, in den Hundstagen, die ihren Namen vom Erscheinen des Sirius ableiten, der immer zwischen Mitte Juli und August aufschien, stöhnen die Menschen unter einem historischen Hitzerekord. 41 Grad, Annette, stell dir das vor. Da das Universum aber ein riesiges, auseinander strebendes, in und um sich rotierendes Nichts ist, das sich niemand vorstellen kann, hat sich das Erscheinen des Sirius nach hinten verschoben. Die Hundstage sind geblieben, trockene, warme Sommertage.

Wenn es doch nur die Hundstage wären. Wir Gegenwärtigen wissen, was los ist. Jeder, und sei er noch so borniert. Wir haben eine Menge bornierter, an der Macht klebende Politiker (nein, keine Fürsten und Könige, jedenfalls kaum noch welche mit Einfluss), jeder also weiß, dass der Mensch das Klima beeinflusst. Das Wetter tut, was es will, das Wetter ist mal so und mal so, aber das Klima, Annette, das ist etwas, das unserem Einfluss unterliegt, wenngleich eben diese Bornierten sagen, das stimme nicht, das sei eine Verzerrung der physikalischen Erkenntnisse und statistisch nicht zu belegen. Wir wissen, was los ist.

Du ahntest auf einer deiner Reisen vom Niederrhein zurück ins heimische Westfalen auch schon, wozu der Mensch imstande ist. Du notiertest, dass die Eichenwälder, aus deren Stämme die Holländern kräftige Segelmasten machten, zunehmend den ökonomisch schnelleren Gewinn abwerfenden Fichtenwäldern wichen. Du sorgtest dich. Du beschriebst, wie aus dem kleinen Teichen Wolken bunter Schmetterlinge aufstiegen. Zumindest in deiner Fantasie hörtest du die Geräusche der aufz
iehenden Mechanisierung. Schmetterlinge gibt es kaum noch, Annette. Quakende Frösche in der Gräfte des Rüschhauses ja, auch die ein oder andere Libelle. Aber sonst leidet die Welt Not. Wir, die Gegenwärtigen, sprechen vom Klimawandel. Von Sommern, in denen Flüsse austrocknen, Stauseen bis auf den Grund leer sind, Borkenkäfer die Wälder befallen, Waldbrände um sich greifen, Menschen unter einer nie gekannten Hitze leiden. Wir zahlen, Annette. Wir zahlen für unsere Sünden. Gott existiert nicht mehr, alles ist Naturwissenschaft, aber es wäre schön, wenn Gott ein Einsehen hätte. Es sind einundvierzig Grad im Schatten, im Rüschhaus ist es kühl, Schlaun hat ganze Architektenarbeit geleistet, aber glaub mir, die beste Architektur nutzt nicht, wenn der Planet zuschanden geht.

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