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Hermann Mensing

Briefe an Annette von Droste Hülshoff

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Liebe Annette,

wenn es nach mir ginge, säße ich im Schatten und versuchte, zu verstehen, was geschehen ist, aber dieser heiße Sommer erschwert das Denken. Stell dir vor, man hat mich zum Poeta Laureatus gemacht. Ich werde Dorfdichter, Writer in Residence, aber nicht in Rom, Berlin oder New York, sondern in Everswinkel, wo die Deckenbrocks herkommen, deine Vorfahren. Im nächsten Jahr werde ich drei Monate dort leben und arbeiten. Leben und Arbeit sind mir seit fünfzig Jahren mehr oder weniger eins, aber dass mir plötzlich Menschen auf die Schulter schlagen und mich für etwas loben, das für mich normal ist, verunsichert mich. Vielleicht ist das die Angst der Torwarts vorm Elfmeter. Ach, Fußball kennst du ja nicht. Gut, dann nenne ich es anders: die Angst, Erwartungen erfüllen zu müssen, von denen ich nicht weiß, ob ich sie erfüllen kann und will. Ich erinnere mich an deine Furcht, als dein erster Gedichtband in Druck ging. Wie enttäuscht du warst, als die adlige Gesellschaft mit Spott und Ablehnung reagierte. Aber als ein Jahr später aus berufenem Munde Lob für deine Arbeit langsam die Runde machte, schwenkte der Adel ein. Jetzt hat man mich in den Fokus geschoben. Wie du bin ich bald schüchtern, bald zuversichtlich, und beydes ohne Grund, - Ehrgeiz habe ich wenig, Trägheit im Uerbermaß. Mal sehn, wie das ausgeht. Drei Monate Everswinkel mit festem Einkommen, und das einem, dem Geld - wie dir - immer knapp war.

PS.:
Ich habe dir Gedichte unter die Matratze geschoben und den Knaben im Moor vertont.
Oh, Annette, es ist zwei, ich muss los, die nächste Führung wartet. Vier Sachsen, zwei Schwaben, drei Hamburger. Steh mir bei, ich hab keine Lust.


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