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Elsoff

Kurz vor Neheim Hüsten halte ich, um das Navi zu anzustellen. Kaum habe ich das Ziel eingegeben, fordert es mich auf, die Autobahn zu verlassen. Sofort verändert sich das Bild. Wo vorher Autobahn war, ist jetzt eine Brücke über einen Fluss. Die Ruhr, nehme ich an, und die kleine Stadt. Ich war hier einmal gelesen, vier, fünf Jahre mag das her sein. Die kleine Stadt wird durchfahren, dann ist man in einem Tal, in einem Wald, immer sind Bächer und Flüsse in der Nähe der Straße, die Dörfer sind schwarz-weiß, Fachwerk, immer kommt man auf eine sich den Berg hochwindende Straße, mit dann und wann weitem Blick über das Land. 400 bis 500 Meter über NN. Buchen, die bunt werden, und je höher wir kommen, Fichten. Im Wittgensteiner Land, östlich von Bad Berleburg, wohnen wir in einem Dorf, das unter Denkmalschutz steht, zwei, drei Kilometer vor der hessischen Grenze. Wir haben eine kleines Haus mit atemberaubend steiler Treppe, nichts für Alte und Sieche, aber gemütlich. Keine zwanzig Meter entfernt ist ein Bach, der rauschen würde, wäre es nicht so trocken, hinterm Haus stehen Ziegenböcke, die mich skeptisch mustern. Wir hätten es kaum weltabgewandter treffen können. Gut getroffen.

Beim ersten Gang durchs Dorf sprechen wir mit zehn Menschen, wovon vier uns u.a. die Schieferverkleidungen ihrer Häuser erklären. Sie erklären, wie man den Schiefer in die Form bringt, der an den Fassaden ist. Wieviel das kostet auch. Und wieviel Arbeit es macht. Der Schiefer ist rund, Raute, Trapez, ist geschwungen und als eine Art Bordüre (Fachausdruck habe ich vergessen), die quer über die Fassade verläuft. Gesägt wird der Schiefer nicht, sondern mit dem Hammer gehauen.

Es gibt zwei kleine Flüsse, die südlich östllich fließen, wahrscheinlich zur Eder. Entsprechend viele Brücken gibt es. Vor einem Haus sitzt ein junger Mann mit ausrasierten Schläfen und langem, schwarzem, gefärbten Haar. Er stößt dicke Rauchwolken aus. Wir tun nix, sage ich. Wir sind Touristen. Er lacht. Später sehen wir ihn wieder. Diesmal hat er ein Mädchen bei sich. Dunkel gekleidet. Gruftie. Kiffer, sagt M. Wir landen in einer Gastwirtschaft. Garantiert keine Kiffer. Man erklärt uns, wie das so ist, in Elsoff. Dass man den dritten Tag nach Heiligabend maskiert durchs Dorf tobt und abends betrunken ist. Dass sie da von weither kommen, die Leute, dass sie Eier sammeln, unter anderem Eier und noch etwas, was ich vergessen habe, und dass das ein großes Fest wäre, aber woher dieser Brauch stamme, wüssten sie auch nicht, aber sie hätten ein Foto.

Ja, sagt die Wirtin, es hat hier mal einen Marrokaner gegeben, netter Mann. In Bad Berleburg, sagt ein junger, männlicher Gast, würde er abends nicht durch die Stadt gehen, zu viele Ausländer. Soviel zunächst. Wie das weitergeht? Wir werden sehen. Ich war lange nicht mehr so weit ab von der Welt.

Kaum 700 Menschen leben in Elsoff, die Kirche, überm Dorfniveau auf einem Hügel, ist 1000 Jahre alt, nebenan liegen die Pesttoten einer Epidemie im 17. Jahrhundert. Die Kneipen heißen Spiess-Peters (mit Pension) und Spiess Jörg. Die Spiess waren schon im 19. Jahrhundert Wirte. Wir haben das Dorf in südöstlicher Richtung verlassen, sind der Flanke des "Heiligen Berges" gefolgt, an dessen Fuß der jüdische Friedhof liegt, haben ihn halbwegs erklommen, ein Tal durch- und eine Straße überquert und sind am Hang zurück nach Elsoff gelaufen. Unterwegs wuchsen Parasole, groß, eindeutig identifiziert, aber wir haben sie stehenlassen. Bad Berleburg und das Schloss der Sayn-Wittgenstein hat uns nicht beeindruckt. Wenn man begreift, auf wessen Kosten Aristokraten sich hier im Nirgendwo zwischen Hessen-Nassau und Kur-Köln eingerichtet haben, kann man böse werden. Sie sind immer noch reich. Kein Wunder, dass viele Menschen dieser Region der Leibeigenschaft im frühen 19. Jahrhundert nach Amerika, Pennsylvania, flohen. Wir sahen heute in Bad Berleburg drei junge Afrikaner und zwei farbenfroh gekleidete afrikanische Muslima. Mit der Furcht ist es komisch. Je kleiner der Ort, aus dem man stammt, desto größer die Furcht vor der Stadt und dem, was man glaubt, was dort vorgehe. Furcht quasi ein reziprokes Verhältnis.

Man hat Franzbranntwein mitgenommen, man hatte es geahnt, man war schon einmal gewandert, man war nach 20 Kilometern abends vom Kamm des Teuto ins Dorf hinuntergetaumelt, hatte ins nächstbeste Hotel eingecheckt, ein Grauen, allein wäre man dort sofort verstorben, hatte in Franzbranntwein gebadet und war eingeschlafen.

Heute liefen wir höchstens zehn. Zunächst aber war da eine bequeme Fahrt über die Dörfer. Der Tag war mein erster Herbsttag der Saison, es nieselte eine halbe Stunde, entsprechend wirkte das schwarz-weiße Fachwerk. Unser Ziel war Kühhude, am Ende einer schmalen Straße, die einem mäandernden Bach folgte. Weiter südlich würde man Kühhude eine Alm nennen, glaube ich. Dort stehen zwei Häuser, ein Parkplatz ist da, und diese große, sich über den Hügel rollende Wiese mit weitem Blick auf die Wälder an den gegenüberliegenden, nahen und fernen Hängen. Hier führt der Rothaarsteig vorbei, links, rechts, man könnte hundert Kilometer laufen. Über weite Strecken ist er eins mit dem Skulpturenweg. Es geht auf, ab, aber nie spektakulär, man geht und geht und freut sich über den Wald, Buche und Fichte, und wundert sich, dass noch nicht ein wildes Vieh aufgetaucht ist. Es gibt neun Skulpturen, drei von ihnen haben wir heute gesehen. Ich hatte keine Einwände. Aber die Waden reißen.

 

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