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Hermann Mensing (1984)

Freeze oder Der Zauber zu Zweit

Auf dem Flur vor Unruhs Zimmertür tobten Kinder. An den auf- und abschwellenden Geräuschen konnte er ihre Routen verfolgen. Seine Tür war ihr liebstes Ziel. Um sicher zu sein, hatte er sie verriegelt. Aber nicht nur die Kinder stellten ihm nach, seine Frau auch.
Der Grund waren Briefe, die er im Keller gefunden hatte.
Einer war von Carina, die er mit achtzehn in Zandvoort kennen gelernt hatte. Darin nannte sie ihn mein Held.
Nach zehn Jahren Ehe fand er sich plötzlich in Erinnerungen verstrickt, in denen Niederlagen nicht vorkamen. Niederlagen wie die von vorhin, als seine Frau den Brief zerrissen hatte.
Er wusste nicht mehr, was er darauf gesagt hatte, er hatte nur kopfschüttelnd neben sich gestanden und zugehört. Er war eine automatische Sprechanlage und das Band musste jemand anders eingelegt haben.
Unruh legte eine Platte auf und stülpte sich Kopfhörer über.
Seine Laune besserte das nicht.
Carina war in seinem Kopf und seine Frau wusste es. Carina war in seinem Kopf und seine Frau wollte sie töten. Aber das ließ er nicht zu. Er brauchte Carina. Nach zehn Jahren war sie die bitter benötigte Pause.
Wenn er das Spiel mit der Eifersucht richtig spielte, würde seine Frau begreifen, dass es ihm bei aller Erschöpfung um sie ging, dass er ihr Held sein wollte - immer noch.
Trotzdem: er hatte Carina angerufen. Ihre Stimme hatte sich nicht verändert. Sein Herz schlug bis zum Hals, als sie sich meldete. Sein Name hatte genügt, zwanzig Jahre schmelzen zu lassen, ein Atemzug nur, sein Name war über zwanzig Jahre nicht verblasst.
Dieser Glanz hatte ihn geblendet.
Während auf dem Flur die Eisenbahn tobte, reiste er ab. Daran konnte seine Frau ihn nicht hindern. Er war ein Herumtreiber, der nie seinen Standort verließ, ein Geist, der durch jedes Schlüsselloch schlüpfte.
O. Die Liebe. Carina. Der Held aus unzähligen Filmen.
Nicht einmal eine Zahnbürste nahm er mit. Er war fort, weit weit fort. Ehefrauen kamen in diesem Spiel nicht mehr vor. Was blieb, waren der strahlende Held und die Heldin, Kurt Unruh und Carina Rosielle.
Er erwartete sie.
Ja, hatte sie gesagt, ja natürlich, ich komme.
Er hockte auf einem quietschenden Bett und schaute aus dem Fenster hinab auf den Markt. Das Zimmer war schäbig. Ein blinder Spiegel überm Spülstein, auf einer Anrichte standen von Kalk angegraute Zahnputzgläser, auf dem Nachttisch lag eine Bibel der Nederlandse Hervormde Kerk.
Eine Bö pfiff über den von zwei Reihen junger Platanen gesäumten Markt. Die Äste bogen sich, die Blätter klatschten gegeneinander. Ein Mann rannte einem davon fliegenden Schirm hinterher. Vom Kirchturm am Ende des Platzes schlug es eins.
Eine Frau in einem quietschgelben Webpelz rannte über den Platz, hinter ihr ein schniefender, siebenjähriger Junge.
Unruh beugte sich weit aus dem Fenster und rief so laut er konnte: "Nein, Carina, nein! Ich will keine Kinder hier. Alles, nur das nicht!"
Carina blieb stehen, sah zu ihm hoch, zögerte eine Weile und nickte.
Ein Windstoß wirbelte den Jungen fort.
Carina verschwand im Eingang des Hotels. Die Eisenbahn auf dem Flur kam schreiend zum Stillstand. Carina hatte einen weichen Mund. Ihr Haar war kastanienbraun. Vor sich her hatte er sie getragen. Sie hatte seine Beine um seine Hüften geschlungen. Sie war leicht wie Luft, und sie liebte es so. Gedreht hatten sie sich, gedreht und getanzt, und waren gekommen.
"Komm!" rief er. "Komm. Dieses Zimmer kennt keine Zeit, nicht einmal die Gegenwart. Komm. Keine Ehe, kein verschwiegener Wunsch, kein Betrug hat hier etwas zu suchen."
"Kom op, Kurt, in de golfen, wij gaan zwemmen!" rief sie.
Sand knirschte zwischen den Zähnen, die Zeltplane schlugen, die Nachbarn hörten Hilversum 3, Kinder greinten und auf dem Circuit hinter den Dünen drehten Touristen halsbrecherische Runden.
"Heute Abend gehen wir aus, weißt du noch?"
"Nein", sagte er. "Ich habe alles vergessen, wäre ich sonst hier?"
"Alles?" fragte sie. "Alles hast du vergessen?"
Er saß mit gekreuzten Beinen am Kopfende des Bettes und zog sich das Hemd über den Kopf. "So gut wie alles. Bis auf deine Umarmungen, deinen Hals, deinen Mund, und die Furcht, jemand könne kommen, den Reißverschluss deines Zeltes aufreißen und uns ertappen. - Komm, dreh dich! Raus aus dem Pelz. Oder willst du hier überwintern?"
Wenn er bloß wüsste, wie er sie kennengelernt hatte. "Du hattest einen Sonnenbrand auf der Nase, stimmt's?!"
"Siehst du", sagte sie, "du hast doch nicht vergessen."
"Küss mich!"
Sie beugte sich vor.
Seine Arme griffen um ihre Hüften. "Igitt. Du schmeckst nach Salz!"
"Natürlich. Ich komme vom Strand."
Hatte er sie am Strand kennen gelernt?
"Wie alt bist du jetzt?"
"Psssst!" machte sie und hielt ihm den Mund zu. "Was geht das dich an? Ich habe dich in mein Zelt gelassen, was willst du mehr? Glaubst du, ich ließe jedes dahergelaufene Kind hier herein?"
"Kind?"
"Ja, so wie du vorhin ins Meer ranntest, so, wie dir die Wellen die Beine unter dem Körper wegschlugen, warst du ein Kind. Das hat mir gefallen."
"So rennen fast alle!"
"Ja, aber niemand hat mir so gefallen wie du. Zufrieden?"
Unruh nickte. Seine Pause war da. Warum sollte er nicht zufrieden sein? Sie war ja ganz nah jetzt, sie saß auf seinem Schoß, ihr Atem war warm, Hauptsache, niemand riss jetzt das Zelt auf. Hauptsache, die Eifersucht ihrer Partner hatte hier keine Chance.
"Weiß du was?", sagte er. "Ich werde meine Frau und deinen Mann einfach verbannen. Ich banne sie an den Ort, an dem sie uns kennenlernen werden. - Wann hast du deinen Mann kennen gelernt?"
"Vor sieben Jahren", sagte sie und presste sich gegen ihn.
"Und zwischen mir und ihm, was war da?"
"Männer! - Du weißt doch, ich liebe Männer."
"Wo hast du ihn kennen gelernt?"
"Auf einem Fest!" sagte sie lachend und trieb ihn tiefer in sich hinein.
"Wie?"
"Ich bat ihn, mir etwas zu trinken zu besorgen, ich kam durch das Gewühl nicht an die Theke."
"Genauer!" sagte Unruh. "Um ihn bewegungsunfähig machen zu können, muss ich wissen, wie und wo du zum ersten Mal mit ihm gesprochen hast."
"Da. Mitten im Saal."
Unruh schloss die Augen. Schweiß perlte von seiner Stirn. "Freeze." sagte er.
"Was machst du?"
"
Ich friere ihn ein. Sieh doch, da steht er. Er hat den Mund geöffnet, er will etwas sagen, aber er kann nicht. Er fühlt sich wie ein Stotterer, der weiß, was er sagen will, aber nicht kann. Da lassen wir ihn stehen."
"Und was ist mit deiner Frau?"
"O - die Geschichte ist kompliziert. Sie kannte mich schon, als ich dich ab und an in Eindhoven besuchte. Sie kannte alle meine Geschichten, aber sie mochte mich nicht. Erst Jahre später verliebten wir uns."
"Wo?"
"In einer Diskothek. Sie stand dicht beim Eingang und es führte kein Weg an ihr vorbei."
"Freeze!" Carina schaute Unruh an.
"Bist du verrückt!" schrie er. "Warum frierst du mich ein und nicht sie. Sie soll bewegungsunfähig werden!" Seine Zähne schlugen aufeinander.
"Falsch!" sagte Carina. "Reingefallen. Du bist es, wärst du sonst hier?"
"Tau mich auf, los, mach schon!"
Carina lächelte, küsste ihn auf die Stirn und strich ihm den Frost aus den Haaren.
"Danke."
"Und jetzt sag mir, wie alt du bist!"
"Achtzehn. - Was hat das damit zu tun?"
"Nichts. Sag mir auch, dass ich deine erste Frau bin."
"Das kommt später...."
"...wann - später?"
"Morgen. Heute liegen wir im Zelt. Wir sind nackt...."
"...sag es trotzdem."
"Du bist die erste."
"Danke", sagte sie. "Es ist schon zwei. Ich muss gehen. Fahr nach Hause zurück und komm nie wieder her, nie wieder, hörst du!"
Auf dem Flur kreischten Kinder.
Unruh stand auf, öffnete seine Zimmertür, lief durch den Flur in die Küche und hoffe, er wäre nicht mehr als ein Schatten, der sich am Brotschrank zu schaffen macht und wieder verschwindet. Aber kaum hatte er sich Butter aufs Brot gestrichen, war sein Sohn heran, zog ihn am Pullover und forderte ihn auf, sofort mitzukommen, da sei eine Eisenbahn im Flur und er müsse unbedingt mitfahren.
"Lass mich in Ruhe! Lasst mich verdammtnochmal alle in Ruhe!" knurrte er.
Das war wieder nicht, was er hatte sagen wollen.
Sein Sohn rannte heulend davon.
Seine Frau trat auf den Plan. Unruh versuchte, ihrem Blick ausweichend an ihr vorbei zurück in sein Zimmer zu gehen, aber sie stellte sich ihm in den Weg.
"Weißt du, was du bist?"
Er hörte nicht hin. Er war gar nicht da.
"Ein gottverfluchtes mieses Schwein!" schrie sie.
Unruh hatte es immer gewusst. Sie war eine Hexe. Er spürte ein Reißen. Er geriet ins Taumeln. Keinen Augenblick länger wollte er auf Anstand und Würde achten. Er grunzte. Wie gut das tat! Sie sah ihn fragend an. Er schnaubte und rieb sich seinen borstigen Rücken an der Türfassung.
"Was soll das?" schrie sie.
Unruh, der noch vor Augenblicken von Rache geträumt hatte, von dumpfen, kurzen Schlägen, schlug die hellblauen Wimpern nieder und ließ den kurzen festen Ringelschwanz zappeln. Er hätte jetzt gern einen Kaffee getrunken und eine Zigarette geraucht, aber die physische Verwandlung ließ das nicht zu. Er trottete durch den Flur und verschwand in sein Zimmer. Alles hatte er erwartet, alles hätte er ihr zugetraut, das nicht, oder gerade das. Er wusste nur noch, dass er ein Schwein war. Ein Schwein im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte. Verstört legte er sich auf sein Sofa und hoffte, nach einem Mittagsschläfchen würde alles wieder so sein wie vorher.
Während er schlief, regnete es in Strömen. Vorm Haus bildeten sich große Pfützen. Als er erwachte, brauchte er einige Zeit, um zu begreifen, dass von nun an alles ganz anders werden würde, sehr viel anders. So gut es ging sprang er auf alle Viere, trottete hinaus und ließ sich grunzend in eine der Pfützen fallen. Ein ungewöhnliches Gefühl überkam ihn, und weil es überall juckte und kitzelte, rollte er mit hellem Quieken von einer auf die andere Seite.
Seine Frau trat vor die Tür. "Bist du verrückt!" rief sie entsetzt.
Unruh grunzte nur und folgte unwillig ihrer Einladung zum Kaffee. Da saßen sie nun, Unruh das Schwein, seine Frau, die Hexe, und jeder fragte sich, wie denn so ein normales Leben zu führen sei.
"Liebe mich!" sagte er, aber heraus kam nur ein trauriges Grunzen.


start

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