Januar 2012                                        www.hermann-mensing.de          

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So. 1.01.12 23:53

Stellte heute nachmittag fest, dass ich den Dezember 2011 versehentlich zerschossen habe und nirgendwo wiederfinde. Vielleicht kann mein Provider helfen. Ich habe ihn gefragt. Ansonsten guter Stimmung. Ich hatte ein interessanten Jahreswechsel. Ich weiß, was ich erzählen und nicht erzählen werde. Über die Berufe der Anwesenden zum Beispiel könnte ich sprechen, ohne Geheimnisse zu verraten. Über die Straße, über das Viertel, durch das ich gefahren bin. Über den Weg dahin auch. Vor allem über den Weg, denn der war kompliziert. Aber nicht heute. Morgen vielleicht.



Mo 2.01.12 00:22


heute wird das schwere leicht
schwebt, zerplatzt, wird unauffindbar
wird von mir an dich gereicht
denn du bist ja unverwundbar

dir kann niemand, du bist gott
mir kann jeder, du bist tot
dir droht allerdings die auferstehung
und verehrung bis zur wortverdrehung

mir hingegen lauert stille
und im winkel hinterm augenlicht
wütet schon mein letzter wille
wille will schon, oder will er nicht

ach, egal, ich bürste meinen hobel
weiß ja nicht, was da noch kommt
als galan getarnt und nobel
werde ich dezent besonnt

seh schon aus wie eine frikadelle
macht nichts, auch der papst kackt braun
schiebe eine meterhohe welle
vorsichtig an meinen gartenzaun

lasse drohnen steigen und gerät
das laut knallt und feinde brät
hebe hier und da den saum der schönen
frohes neues, ich lass mich verwöhnen.


Di 3.01.12 11:23


Geriet vorm Fernseher über Good bye Lenin gestern in eine düstere Wolke. Plötzlich saßen alle neben mir, von denen ich mich in den letzten Jahren verabschieden musste. Ich kroch ins Bett, aber die Wolke hatte sich vor mir hingelegt, und so dauerte es, eh ich Schlaf fand. Heute früh geht alles schon wieder besser. Zwar hängt der Himmel knapp über den Dachfirsten und ein kräftiger Wind weht, man möchte keinen Hund auf die Straße jagen, aber das Verlorensein der Nacht hat sich verflüchtigt und ist wütendem Trotz gewichen.

Auch die Sprachlosigkeit der letzten Tage scheint vorüber. Weihnachten, Silvester, das ist schwerer Tobak, alles hängt voller Erinnerungen, manche schmerzen, aber nichts geht so schnell vorbei, wie die düsterste Stimmung des Vorabends. Zum Glück, denn sonst sprächen wir von einer Depression.

Auch der Dezember 2011 ist zurück. Mein ältester Sohn hat mich darauf hingewiesen, dass ich ihn im Google-Cache finden könne. Und tatsächlich, dort war er, immerhin bis zum 22.12.11. Ergo habe ich ihn heute früh restauriert und wieder online gestellt.

Was über Silvester war, ist noch immer schwer in Worte zu fassen. Ich habe zwar schon eine Ahnung, wie ich das Gehörte und im Halbdunkel Gesehene erzählen kann und wie die Anwesenden am Morgen danach, als die Aktiven abgereist waren, sich die Mäuler zerrissen und sagten, dass die so etwas schon immer getan hätte, dafür sei sie bekannt, erst betränke sie sich, begänne wie ein Wasserfall über sich und nichts anderes als sich zu reden, (andere zuzuschwallen, nannten sie das) und schnappe sich einen, aber dass sie es immer noch tue, jetzt, wo sie nicht mehr zwanzig sei, und gewissermaßen in der Öffentlichkeit, sei ein starkes Stück.


13:28

das orkantief streift das dach
untem plümo ist es warm
alles hat ein ja und ach
manchmal schlägt es auf den darm

14:06

Was soll ich im Weltall,
mir war nach dem Urknall
schon ein wenig schlecht,
jetzt stöß´t mir's erst recht
auf. Übel bis zur Unterkante,
hab ich dort Verwandte?

Nein,
Verwandte leben auf der Erde,
groß die Zahl
und viele haben nichts zu beißen,
warum also in die Ferne,
zu den Sternen reisen?

Wenn Sie wollen, bitte, fahr'n Sie,
aber nicht von meinem Geld,
ich bleib hier und hark das Laub
meiner kleinen Welt.


Mi 4.01.11 10:28

Sie sagte mir ihren Namen, aber der Name sagte mir nichts. Sie nannte mir Orte und Gelegenheiten, an die ich mich zwar erinnerte, aber nicht im Zusammenhang mit ihr. Na auch egal, meinte sie, es gehe ja nur darum, ob ich sie mitnehmen könne nach Dortmund zur Silversterparty. Natürlich, sagte ich und schlug vor, sie solle mit dem Bus zu mir kommen.

Kleine, drahtige Person, nicht unsymphatisch, sehr schmaler Mund. Ich hatte mein Handy kurz vorher noch aufladen wollen, aber die Tankstelle hatte sich schon ins neue Jahr verabschiedet, zum Programmieren meines Navis war ich auch nicht mehr gekommen, ich hatte noch den Sohn in die Stadt gebracht, und so schlug ich vor, den nächsten Rastplatz an der A1 anzufahren, denn Dortmund ist eine große Stadt, in der ich mich nicht auskenne.

Als ich auf den Rastplatz fuhr, hatte sie mir längst ihre Geschichte erzählt, von den Selbstmorden in ihrer Familie, von ihrer Bulimie als junge Frau, dem vergeigten Studium, mir schwirrte der Kopf und ich dachte, diese Frau hat es nicht leicht.

Ich stellte den Motor ab, programmierte das Navi und wollte weiter, aber der Anlasser klackte nur. Ich wurde nervös, ich probierte es wieder, wieder dieses Klacken, das nur zwei Dinge bedeuten konnte: Batterie oder Lichtmaschine kaputt. Keine Taschenlampe an Bord. Anflug leichter Panik, allerdings noch fast vier Stunden bis Mitternacht. Ich glaube, du hast ein schlechtes Karma, sagte ich. Das sage ihr Vermieter auch, sagte sie. Aber immerhin, sie hatte ein Handy, also riefen wir den ADAC.

Wie der Rastplatz hieß, wusste ich nicht, das einzige Schild dort verwies auf einen Rastplatz in drei Kilometer Entfernung, der Eichengrund hieß. Aha, sagte man beim ADAC, dann stehen sie auf dem Rastplatz Westerwinkel. Möglich, sagte ich. Etwa 60 Minuten werde es dauern, eh Hilfe vor Ort sei, sagte man mir. Gut, sagte ich.

Der Rastplatz war ein sehr düsterer Ort. Auf der A1 war kaum Verkehr. In der ersten halben Stunden fuhren zweimal PKW auf den Platz, beide Male dachten wir, es sei der ADAC, aber er war es nicht. Nach etwa eineinhalb Stunden rief ich noch einmal beim ADAC an. Man sagte, der Mechaniker habe eine Fehlfahrt gemeldet, wir hätten nicht auf Westerwinkel gestanden. Ich hatte mich in der Zwischenzeit an der Notrufsäule erkundigt, wo wir eigentlich wären, und man hatte gesagt, es handele sich um Kilometer 287,5. Ob es allerdings Westerwinkel sei, könne man nicht sagen. Ich konkretisierte also, der ADAC sagte, das sei nicht Westerwinkel. Na wunderbar, sagte ich, und jetzt? Man werde Kontakt mit dem Mechaniker aufnehmen.

Nach einer halben Stunde meldete er sich, sagte, er sei über den Rastplatz Westerwinkel gefahren, habe dort niemanden angetroffen, jetzt sei er im Sauerland, und benötige mindestens 40 Minuten, um uns zur Hilfe zu kommen. Es ging auf zehn. Ob das nicht schneller zu machen sei, fragte ich, schließlich warteten wir jetzt schon fast zwei Stunden. Er werde sehen, sagte er.

Kurz vor elf kam ein Kollege, prüfte die Batterie und sagte: die ist mausetot. Das freute mich. Für eine tote Batterie braucht man ein Startkabel. Eine defekte Lichtmaschine hätte bedeutet: Abschleppwagen nach Hause. Feierabend. Der ADAC Mechaniker verkaufte mir eine hochpreisige VARTA Batterie. Um 23:25 erreichten wir Dortmund.


Do 5.01.12 11:20

Das Abfackeln von Feuerwerk begann kaum zehn Minuten nach unserer Ankunft in der Nordstadt. Es war ein gewaltiges Krachen und Pfeifen. Wir standen an den Fenstern und schauten zu. Gegenüber wurden Vorhänge vorsichtig beiseite geschoben. Ich konnte in ein Wohnzimmer schauen und sah vier junge Frauen in arabischen Gewändern, nur die Gesichter waren frei. Sehr junge Frauen, sehr schüchtern traten sie an die Fenster und schauten hinaus, und ich dachte, jetzt fühlen sie sich wie zuhause in Bagdad, Homms oder Tripolis.

12:22

Es gab in dem sauerländischen Dorf zwei Bands. Die eine hatte einen hohen Anspruch und einen gewissen Hochmut gegenüber den, sagen wir, volkstümlichen Spielarten des Rock n' Roll, die andere träumte von nichts weiter, als in eben diesen Rock n' Roll Himmel zu kommen. Man dachte, dazu gehöre eine Portion Sex und Drogen.

Die Sängerin, heute eine Qualifikations-Disponentin, erzählte, wie die noch träumenden, zukünftigen Volkshelden (die es allerdings nie schaffen werden) sich einen Bulli liehen und zu einem Auftritt in irgendein anderes Dorf ihrer weltabgelegenen Gegend fuhren. Bis alles eingeladen war, waren einige schon betrunken, und als man dann ankam, wo man am Abend auftreten sollte, als man die Schiebetür des Bullis öffnete, fiel der Bassist heraus und blieb bäuchlings liegen.

So hatten sie sich das vorgestellt mit dem Rock n' Roll, aber da war ja auch ein Wirt, und der fand den betrunkenen Bassisten nicht witzig, der machte einen Aufstand und sagte, so ginge das nicht, während alle dachten, so müsse das gehen, aber da der Wirt Gage zahlen würde, hatten sie alle Mühe, den Bassisten in der noch verbleibenden Zeit bis zum Auftritt halbwegs nüchtern zu bekommen.

18:37

Romananfänge 1/2012

Das geht ja nicht. Das kann ich so nicht stehen lassen. Ich kann mich ja nicht einfach in die Einsamkeit verabschieden, ohne zumindest letzte SOS Signale zu senden. Ich muss zumindest so tun, als fände ich in den Resten meiner Existenz noch Sinn, den ich mir mühsam zusammen klaube. Egal. Ich flüchte. Ich bin ein von Geburt an Flüchtiger und habe es nie verstanden, einen Augenblick bei mir zu sein. Alles rannte immer und ich dachte, ich müsse dabei sein. Ich habe die Nase voll von diesem Wirrwarr und weiß nicht, was ich tun soll. Ich bin eine Karikatur, die Frage ist nur, von wem.

Wo denn anfangen? Bei meinem Beruf? Gut, bei meinem Beruf. Ich verdiene gut. Ich habe damals nicht darüber nachgedacht, ob ich je gut oder schlecht verdienen würde. Ich habe nur das Naheliegende getan, und das Naheliegende war unabwendbar, denn hätte ich mich dagegen entschieden, wäre das einem Affront gleichgekommen. Ich hätte meinem Vater und meinem Großvater vor den Kopf gestoßen und das wollte ich nicht. Außerdem gefiel mir die Idee. Sie hatte mir ja bisher ein komfortables Leben geschenkt, weshalb hätte ich das aufs Spiel setzen sollen?

Ich habe einfach angefangen. Ich nehme an, dass das den meisten so geht. Entweder man fängt an oder man lässt es bleiben. Egal, wie man entscheidet, man entscheidet und hat ein Problem. Das liegt in der Natur der Sache. Welches Problem einem lieber ist, wird nicht nachgefragt. Es ist einfach da. Es liegt da und wartet.

Ich fuhr schon mit fünfundzwanzig Autos, von denen andere ein Leben lang träumen, aber glauben Sie bloß nicht, dass mich das glücklicher gemacht hätte. Das Auto hatte sich mir aufgedrängt. Ich hatte Geld, also habe ich es gekauft. Und weil es ein schnelles Auto war, fuhr ich eben schnell. Und da schnelles Fahren die Risiken erhöht, lebte ich unter erhöhtem Risiko. Na und? Ich war als Junior geboren.

Die Senioren hatten die Firma so aufgestellt, dass sie, als ich noch klein war, schon europaweit funktionierte. Als ich dazu kam, ich hatte studiert, ich hatte Praktika absolviert, die Senioren hatten mich zu befreundeten Unternehmen in Amerika, Australien und England delegiert, arbeitete sie weltweit. Ich rieb mir die Hände. Ich fand das aufregend. Ich war dabei und dachte mir nichts Schlimmes. Natürlich wusste ich, dass es Arme gibt. Aber Arme hatte es immer gegeben, oder, und nur, weil die arm waren, musste ich es ja nicht auch sein, und solidarisch, so, wie die Protestierenden auf den Straßen damals, war ich nur mit Meinesgleichen. Ich kannte niemanden, der arm war, ich war sicher, dass ich nicht arm sein wollte, aber solidarisch, nein. Sollten die arm sein, ich war reich, und ich fand (und finde das) ganz normal.

Ich glaube, kompliziert wurde es, als ich meine erste Frau heiratete. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob ich sie liebte. Ich weiß wohl, dass sie schön war, umwerfend schön, und dass sie mir vorkam, wie ein Preis, den zu gewinnen oder zu erobern einiges an Energie gekostet hat. Jedenfalls glaube ich das, heute glaube ich, damals aber werde ich aller Wahrscheinlichkeit den Kopf verloren haben, ich werde wie jeder Normalsterbliche geglaubt haben, ich wäre verliebt in sie, habe aber nicht bemerkt, dass es ihr um nichts weiter ging, als sich in der Gesellschaft der Reichen zu etablieren, denn sie kam woanders her.


Fr 6.01.12 11:01


jetzt sagen sie
das war vorletztes jahr
wie die zeit vergeht
nicht herr m.
ich aber weiß
dass es gestern war
mittwoch
17 grad leicht bewölkt
und das bleibt so
und bleibt so und bleibt
auch beim lachen
auch beim tanzen
ich bin tätowiert
ich bin stolz
dass du
mich tätowiert hast

12:45

Mache jetzt einen Spaziergang am Meer.



Sa 7.01.12 22:11

ruhelos geht er umher
isst zwei schokoladen
einmal noch geschlechtsverkehr
danach ging er baden

Mehr kann man nach so einem Tag nicht erwarten.
Ein Romananfang wäre noch einen Versuch wert, aber viel schöner ist das Schweigen. Ade.


So 8.01.12 16:57

Will ma so sagn, vor zwei Wochen war's um diese Tageszeit dunkel.


Mo 9.01.12 13:18

Ich sah, wie sie gegen ein Auto stieß, sich rechts hielt, mitten auf der Straße landete, keine stark befahrere Straße, ich dachte, da greife ich ein, obwohl Blinde das ja manchmal als Eingriff in ihre Autonomie begreifen, ich sagte also guten Tag und fragte, ob es ihr recht sei und sie sagte, ja, sie hätte sich wohl ein bisschen verlaufen, also bot ich an, sie zur Bushaltestelle zu bringen. Gut, sagte sie und verstolperte den nächsten Bordstein, worauf ich sie fragte, ob sie neu in dem Geschäft sei. Sie sagte lachend nein, ich lief halblinks neben ihr. Als wir die Bushaltestelle erreicht hatten, sagte sie, sagen Sie, Roxel Mitte ist das doch nicht? Nein, sagte ich, das ist die Dorffeldstraße. Und Mitte? sagte sie. Da müssen Sie nur die Straße hoch bis zum Ende und dann rechts. Gut, sagte sie, und marschierte los.

16:18

Ich fand die Blinde symphatisch.
Mir gefiel mir, dass sie über sich lachen konnte.

Ich kann auch über mich lachen.

Das allerdings liegt daran, dass ich ein Idiot bin, der von von Sehnsüchten gesteuert wird. Tag für Tag lassen sie mich Blicke senden und Sätze sagen, die, träfen sie auf fruchtbaren Boden, zu weiteren Sätzen führten und Blicken. Ich spräche so gern mit den Menschen, aber nur wenige trauen sich, etwas zu erwidern. Das sind dann lichte Momente. Aha, denke ich dann, die Menschen sind gut. Ja. Die Menschen sind gut. Müssen erst Blinde kommen. Ich hätte sie zum Kaffee einladen sollen.

Aber die andern - die andern wollen's meist nicht, weiß der Teufel, warum. Dabei geb ich mir Mühe. Ich grüße so gut wie jeden. Schon der Minimalkonsens kann glücklich machen. Aber selbst da hapert's. Bei den ganz harten stelle ich das Grüßen nach einem Jahr ein.


Di 10.01.12 9:44

so eine große nase
dachte der mann
was man alles röche
hätte man so eine nase
den staub aus dem all
das essen der afrikaner
die vergeblichen düfte der frauen
den anderen wind
und das leben dahinter
das alles
dachte der mann
und schaute die frau an
die behauptet nicht tanzen zu können
dabei hatte sie was man braucht
nur die schritte kannte sie nicht
was soll's
dachte der mann
die nase nehme ich mit
also nahm er sein opinel
machte einen schnellen schnitt
und war fort mit der nase
eh jemand alarm rufen konnte
die arme frau
dachte er später
nun ist ihre nase futsch
und sie riecht nur noch das naheliegende
das tropfende blut und die anästhesie
aber vielleicht kommt ein doktor
und baut eine neue
das ist ja möglich
so etwas geschieht alle tage
dachte der mann
stieg ins auto
und fuhr nach hause
aber irgendwo unterwegs
hat er die nase verloren
und wer eine nase verliert
das weiß jedes kind
hat nichts mehr zu lachen


15:37

wenn wir anfingen
sprachen wir bände
wir liebten unsinn
als aber der satz fiel
verstummten wir
weil er drohte
und wir - keine krieger
und die waffen nicht scharf
trotzdem
mussten wir in den krieg
wir lasen die bulletins
anfangs noch frohe botschaften
aber wie in jedem krieg
täglich düsterer und die einschläge
schließlich tödlich
so kam mir der unsinn abhanden
und alles übrige auch


Mi 11.01.12 11:53

ich brauche literweise leben
ich sehne mich nach deinem nein
ich habe mich noch nicht ergeben
doch morgen kann es aus sein


14:03

das meer
hat spiegelfolie
übern strand gestreckt
darin stehn du und ich kopfüber
die sonne
hat am späten nachmittag
frisch eingedeckt
und ich hab dich
am liebsten hier
kein vorhin kein gestern
kein morgen
HIER


Do 12.01.11 11:29

Die Situation wäre natürlich eine ganz andere, lebte ich dort und nicht hier. Hier weiß jeder sofort, wer gemeint ist, wird er erwähnt, dort wüsste es noch lange nicht jeder, ich hätte also mehr Freiheit. Die Freiheit der Anonymität. Aber es ist wie es ist, deshalb habe ich mich entschlossen, eine geheimen Ordner anzulegen. Ich nenne ihn: die Protagonisten. Darin finden sich Männer und Frauen gleichermaßen, mit dem Unterschied, dass ich sie hier nie so darstellen könnte, wie sie darzustellen wären, weil die Enge des Dorfes berücksichtigt werden muss.

Einen aber kann ich sofort nennen, denn er kennt weder mich, noch kenne ich ihn, Anfang fünfzig, roter Rautenzopfpullover, ca 1,80, grauhaarig, Brille, den Kopf gesenkt, so dass jeder gleich denkt, der Mann hat es nicht leicht. Könnte Lehrer sein oder in einer Versicherung arbeiten.

Als ich mit ihm ins Gespräch kam, war sein zweiter Satz, er sei seit kurzem geschieden. Harte Sache das, das kann ich ihm nachfühlen, aber dass er so sehnend am Rande der Tanzfläche steht und meint, das würde die Dinge ändern, dass er vielleicht sogar denkt, bei den Tänzern wäre ohne Körpereinsatz etwas zu holen, das ist nun doch ein bisschen sehr wolkig spekuliert, denn bei Tänzern gilt nur, wer Höchstleistung zeigt.

Ja, ja, das ist so, jeder für sich und keiner für alle, ich bin so und die anderen auch, was nicht ausschließt, dass ich hin und wieder auf Menschen stoße, es ist nur so mühsam, sie zu erkennen. Wenn man sie dann erkennt, wird die Sache schon ein wenig leichter.

Der Mann im roten Pullover sagt zu mir, dass er auch gern tanzen würde und wo er das lernen könne. Ich frage, ob er früher schon getanzt hätte, und denke, dass er eher aussieht wie jemand mit einem Stock im Arsch, ja, sagt er, in Discos und so und ich seh ihn vor mir, wie er da herum taumelt und torkelt. Und dann denke ich noch, Verlassensein ist eine gemeine Sache, nicht einer ähnelt dem anderen, jedem hängt eine Geschichte nach, Hilfe ist nicht möglich, da muss jeder allein durch.

Gut.

Ich glaube nicht, dass er je tanzen wird, er sollte sich ein andere Hobby suchen, eines, bei dem er täglich ein wenig mehr in sich zusammen fällt, so, wie mir das ja auch bevor steht, aber bis dahin werde ich wie ein Löwe kämpfen, darauf können Sie Gift nehmen. Bis dahin hau ich alles raus, was drin steckt, egal.

Kein Wunder, dass ich schon schweißnass war, eh die Veranstaltung richtig los ging, ich hatte schon drei oder viermal getanzt. Später saß ich mit dem sehr großen, schüchternen dunkelblonden Tänzer und beobachtete das Geschehen. Wir sind uns symphatisch.

Tänzer zu beobachten macht Spaß. Manche flechten in ihre Figuren hin und wieder den Shimmy ein, eine Bewegung der Schultern, links vor- rechts zurück- vor-zurück usw., Bestandteil des Bauchtanzes, damit der Muslim was zu träumen hat. Frau Turner singt davon, und natürlich ist der Shimmy, wenn eine Frau ihn tanzt, etwas ganz anderes, als wenn das ein Mann tut.

Während der Schüchterne und ich also da so sitzen und die letzten Tänze ausschwitzen, tanzt so ein drahtig bulliger
Mittdreißiger mit seiner Partnerin den Shimmy, offenbar, dass er das für Leidenschaft hält. Dabei macht er ein Gesicht wie ein Bulle kurz nach der Kastration. Das flüstere ich dem Schüchternen ins Ohr und wir brechen in Gelächter aus. Der macht das immer, immer die gleiche Show, sagt der Schüchterne.

Da haben wir es.
Schon wieder, alles Show, jeder führt sich vor, basta.

Schönes Leben, oder, ja, ich finde schon, es ist ein schönes Leben, wenn es nur nicht so verflucht anstrengend wäre, in jeder Lebensphase ist es so anstrengend, dass man manchmal nicht weiß, wo einem der Kopf steht.

Liebe Spanner und Freunde der Weltliteratur, ich wende mich nun meinem Geheimordner zu, in dem unter anderen auch Sie auftauchen werden, die ganze Welt ist ja nur dazu da, damit wir, die Schreiber, sie unsterblich machen.

Vorher aber muss ich sehn, dass ich eine gehaltvolle Suppe zaubere.

Zum Schluss sollte ich noch erwähnen, dass ich mit einer Frau tanzte, die die Dinge so sieht wie ich. Nicht, dass wir lange darüber gesprochen hätten, nein, beim Tanzen hat man so viel zu tun, dass man (jedenfalls ich) kaum ans Sprechen denkt. Sie passte perfekt in meinen Tanz. Nicht affektiert wie so viele, temperamentvoll wie wenige, auf dem Beat wie kaum eine, so eine also, keine dreißig. Wir hatten kaum angefangen miteinander zu tanzen, als wir es schon voneinander wussten.

Deshalb gehe ich da immer wieder hin. Es gibt Gleichgesinnte. Man muss nur rausgehen. Nach Hause kommen die nicht. Danke für Ihre Aufmerksamkeit.


Fr 13.01.12 11:43

Was liegt näher, als an einem 13ten Freitag vom Weltuntergang zu berichten, der - einige von ihnen haben sicher davon gehört - am 21.12.2010 um 12:12 stattfindet. Ich kenne eine, die glaubt das. Außerdem glaubt sie, dass sie irgendwie überlebt, weil sie sich vorbereitet hat.

Dieses Irgendwie kann leider nicht näher erläutert werden. Das ist bei Glaubensfragen so üblich, deshalb heißt es ja Glauben, man glaubt oder bleibt außen vor und schmort in der Hölle, die (wie Evangelikale vor über dreißig Jahren herausgefunden haben) ca. 4500 Meter unterm sibirischen Permafrost liegt. Die Russen hatten das zu einer Zeit, als sie noch böse Kommunisten waren, durch Zufall bei Tiefbohrungen festgestellt, aber immer geheim gehalten.

Das Spektrum des Glaubens ist bunt und vielfältig.
Da ist für jeden etwas dabei.

Deshalb fuhr ich Anfang der Woche zum Planetarium, um einen Vortrag über den Zeitbegriff der Maya und deren Prophezeiung des Weltuntergangs zu hören. Als ich dort ankam, reichte die Schlange von der Kasse quer durch das große Foyer, machte einen Bogen und noch einen und endete an der Eingangstür. So viele Menschen also, die sich Sorgen machten.

Ein Astronom aus Stuttgart berichtete. Die, die vielleicht auf einen gehofft hatten, der geheime Zeichen deutet und Hinweisen nachgeht, die er mit wie auch immer gearteten Unerklärbarem aufbrezelt, wurden enttäuscht. Stattdessen Zahlen, Fakten, Erläuterungen zu dem Zeitverständnis der Maya. Der Professor sprach schnell, das mühsam unterdrückte Schwäbisch machte das Zuhören nicht leichter, aber denen, die blieben, wurde schnell klar, dass die ominösen Maya Prophezeiungen nichts weiter sind, als das Ende einer von ihnen als zyklisch empfundenen und berechneten Zeit. Erstaunlich genaue Berechnungen übrigens. Und einer dieser Zyklen endete am 21.12. Dann bricht ein neuer Zyklus an, mehr nicht.

Das Schönste an diesem Abend aber war nicht die Erleichterung darüber, dass der Weltuntergang zwar stattfindet, aber nicht unbedingt am 21.12., sondern die Kassiererin, der ich mich ja nur langsam nähern konnte. Schon im letzten Bogen der Schlange war mir aufgefallen, dass sie ein außergewöhnlich schönes Kleid trug, schwarzgrüner Grund mit mondrianählichen, vertikalen und horizontalen, etwa ein Zentimeter breiten, orangeroten Streifen, die sich zu Recht- und Vierecken kreuzten. Als ich schließlich vor ihr stand und die Eintrittkarte kaufte, sagte ich zu ihr, dass sie ein wunderschönes Kleid trage. Da glühte sie auf und ich dachte, guck mal, ein Satz, und schon ist jemand für einen Augenblick glücklich, und dann sagte sie noch, das hätte sie erst letzte Woche gekauft.


So 15.01.12 17:20

Zensiert.




Mo 16.01.12 10:24

Es bügelt sich die Seele platt
Herr Mensing, der ein Eisen hat.

später:

Es wäscht, bis alles porentief
Herrn Mensing aus der Nase lief.

noch später:

Es fragt sich alle Fragen weiter
Herr Mensing, tief betrübt und heiter.


17:00

Sonne und Vogelgesang. Überschwängliche Hoffnung steigt auf, wie immer. Jetzt Gefahr der Abenddepression. Der jedoch wird durch Trommeln auf einer Session ein Riegel vorgeschoben.


Di 17.01.12 11:32

Normalerweise schaue ich kaum Privatfernsehen. Ich Augenblick schon, ich muss nämlich das Dschungelcamp sehen. Ich muss sehen, wie sie sich dort zum Affen machen, und stelle mir vor, wie ich es auch täte, für, sagen wir, 30.000 Euro, die mir die nächsten drei Jahre sicherten. Höhepunkt der bisher von mir gesehenen zwei Folgen waren zwei kurze Sequenzen auf der Hängebrücke. Frau Zietlow vollführt mit kurzen schnellen Bewegungen an Herrn Bachs Hüfte symbolisch den Geschlechtsakt, die dabei eingespielten Geräusche ähneln einer Quietscheente. Keine zwei Sekunden, die Sequenz ist vorüber, Frau Zietlow geht, Herr Bach bleibt zurück und sagt mit gebrochener Stimme: Ich fühle mich missbraucht. Beim zweiten Mal, später, sagt er: Ich fühle mich gedemütigt.


Mi 18.01.12 10:51

Herr Mensing befindet sich im Ausnahmezustand. Durch Umstände, die hier in den letzten zehn Jahren immer wieder erörtert wurden, hat er jedes Vertrauen in Worte verloren. Jedes Wort zerfällt augenblicklich in Buchstaben. Es ist nicht auszuhalten. Und Sinn ist nirgendwo zu entdecken.


Do 19.01.12 11:46

Kaum hatte ich es nicht ausgehalten und nirgendwo Sinn entdeckt, als ich eine Nachricht erhielt. Es gäbe da einen Wettbewerb. Gefordert wären Kurzgeschichten, Essays zum Thema "Es gibt eine Zeit der Sehnsucht, wo ihr Gegenstand noch keinen Namen trägt" (unveröffentlicht); einsenden bis zum
15. Februar 2012; Dotierung: 7.500 Euro (teilbar; ein bis drei PreisträgerInnen). Aus der Ausschreibung: "Prämiert werden Prosa-Texte mit einer Länge von ca. 10.000 Zeichen, die überzeugend eigene sprachliche Wege gehen."

Hohoooo dachte ich, Unveröffentlichtes liegt in Stapeln in meinem Keller und auf meiner Festplatte, und ein Thema, das all meine Fragen mit einem Schlag transzendiert, das wäre doch etwas. Sofort wieder unbändiger Optimismus.

Aktion, vorwärts, Attacke rief ich, und dachte an Micaela im Dschungelcamp, die sich für nichts zu schade ist. Die hat sicher auch eine Sehnsucht, deren Gegenstand noch keinen Namen trägt, dachte ich, nur - wie wäre das in den Griff zu bekommen?

Ich müsste jeden Abend zuschauen, klar, das tue ich sowieso, das Dschungelcamp zählt seit Jahren zu den hightlights meines progressiven Alltags. Sie wissen, was es bedeutet, wenn man seine Misere für Sekunden vergisst und sich sorglos findet, wie wundervoll die Welt da erscheint, aber wenn es vorüber ist, wenn die Misere wieder neben einem sitzt, wird man sofort klein und staunt über die Sinnlosigkeit des Ganzen, fragt sich verzweifelt, was denn schief gegangen ist mit dieser Menschheit, die doch alle Anlagen besäße, schließlich kann sie sich selbst reflektieren, da müsste doch Fortschritt erkennbar sein nach all den Jahren, man vergleicht alttestamentarische Zustände mit denen der Gegenwart, und beantwortet die Frage kurz und bündig: Nein. Fortschritt ist nicht erkennbar.

Sage einer: wir kacken ab. Antwort des anderen: möglich ist das.

Wir fahren Gelächter hoch. Aber nicht breites, allgemein verbindliches Gelächer, sondern ein eher hysterisches Gackern hier und da, dann um sich greifend und brüllender, so dass man glaubt, jetzt werde gar nicht mehr über den Witz gelacht, falls es überhaupt einer war, sondern nur noch über das Lachen der anderen.

18:28

Haben begonnen, Gedichte zusammen zu stellen.
Schöne Arbeit. Wird eine Weile dauern.


Sa 21.01.12 13:51

Manchmal spülen Lieder hoch, die ich als Kind im Konfirmandenunterricht der evangelischen Kirche gesungen haben muss. Heute früh etwa. Lass fahren dahin, es hat keinen Gewinn, sang ich. Ich hatte noch gar nicht zu denken begonnen, und doch hatte mein Unterbewusstsein die Idee, mich vergolden zu lassen, längst als unrealisierbar abgeschrieben. Bei Tageslicht besehen ist das ein wenig traurig, subsummiert sich letztlich aber nur unter abgelegte Illusionen, und was könnte man besseres mit seinem Leben anfangen, als Illusionen abzulegen.


Andererseits gibt es nichts Schöneres, als sich ihnen hinzugeben.

Gestern abend etwa, mein protestantisches Hirn hatte sich noch nicht geäußert, bot sich eine neue Projektionsfläche für Illusionen, ein Geschenk. Wäre ich nicht Schriftsteller, ich glaube, ich sattelte um und würde Illusionist. Leider versemmelte ich meinen Auftritt.

Die Natur bietet heute keinerlei Reize. Ich werde Pizzateig ansetzen, vielleicht lege ich mich in die Wanne und fantasiere, die Zeit spricht für mich (oder gegen mich, je nachdem, wie man mit der Zeit umgeht), ich aber glaube, dass sie für mich arbeitet, sie ist nicht gegen mich, das Leben (ACHTUNG PHILOSPHIE) will gelebt werden, mehr nicht, alles andere ist sozio-kultureller Überbau, ein mühsames Konstrukt, das dann und wann verhindert, dass wir uns nicht gegenseitig tot schlagen.

So froh gestimmt soll es regnen wie aus Eimern, es berührt mich nicht, ich gebe mich hin, basta, het kütt wie et kütt, da kannste nix machen, nix machen kannste da, ich gebe mich hin und bin gespannt, was als Nächstes passiert. Ich kann es mir vorstellen. Das Gefühl wehte herüber und erinnerte mich. Meine Sehnsucht ist groß. Ich lebe, ja, ich lebe, und wer mit leben will, ist mir herzlich willkommen, muss aber Großes träumen. Wer Überbau braucht, soll mich am Arsch lecken.

Also. So viel für heute.


So 22.01.12 13:48

Dass ich diesen Ziegenbart trage, hat einen einfachen Grund: er verdeckt die Falten an meinem Hals. Ich trage ihn seit fünf oder sechs Jahren und mag ihn. Am Freitag stand ich im Foyer des Pumpenhauses. Das Cactus Theater, mit dem ich vor Jahren eine Soap erarbeitet hatte, feierte Jubiläum und ich hoffte, den ein oder anderen Schauspieler wiederzusehen, was sich leider als falsch erwies. Ich stand also eher gelangweilt herum, drinnen hielten sie Reden, und bemerkte, dass ein junger Afrikaner zu mir herüber schaute. Ich dachte, er sei an meiner Elektrozigarette interessiert, wolle wissen, was das sei, so etwas passiert mir häufig. Ich schaute fragend zurück, da kam er heran und begann, über meinen Bart zu sprechen und wie sehr er den möge, ja, er sei geradezu verzückt von diesem Bart, er stünde mir so umwerfend gut, und er sei Maler und habe bei Lüppertz in Düsseldorf studiert, und ob er mir mal ein Bild zeigen dürfe. Ja, sagte ich. Wir gingen nach nebenan in den Technikraum, wo ein Bild von ihm lag, ein sehr farbenprächtiges Bild, das eine Band zeigt, das afrikanische Ballaphon im Zentrum, die übrigen Musiker links und rechts davon, sehr plakativ, alles in geometischen, Rundungen vermeidenden Formen dargestellt. Ich konnte zu dem Bild nichts sagen. Nicht, dass ich nicht hätte sehen können, dass er malen kann, aber mir war das zu folkloristisch. Wie komme ich also jetz wieder raus aus der Nummer? Zum Glück kommt ein weiterer Afrikaner und verwickelt ihn in ein Gespräch. Ich verabschiede mich. Drinnen tanzt eine afrikanische Gruppe. Das Pumpenhaus arbeitet gern mit Afrikanern. Die müssen uns Weißen immer zeigen, dass sie trotz ihrer Armut fröhliche Menschen sind. Vor allem können sie so gut tanzen und trommeln. Und wir sind freundlich zu ihnen und fühlen uns deshalb als bessere Menschen. Ich stand noch eine Weile nutzlos herum, vergab die Chance, mit jemandem ins Gespräch zu kommen, weil ich nicht wusste, was zu erzählen wäre, und fuhr irgendwann fort auf die andere Party. Als ich nach Mitternach von dort wieder wegfuhr, beschloss ich, ins Pumpenhaus zurückzukehren, vielleicht hätte ich eine zweite Chance, aber sie war schon nach Hause gefahren. Ich radelte heim. Auf den Radwegen glitzerte Rauhreif.


Mo 23.01.12 16:32

Zum Probieren steht auf der Theke beim Bäcker oft ein Teller mit geschnittenem Kuchen. Heute ein Plunderteilchen mit Vanillecremepudding. Ich verlangte ein halbes Brot. Als die Bäckereifachverkäuferin es schnitt, aß ich das erste Stück. Es schmeckte. Ein großer, blau gekleideter Mann mit Bart neben mir tat so, als bemerke er nichts. Als ich das zweite genommen hatte, wünschte er mir lächelnd guten Appetit. Sie auch? sagte ich. Sind noch zwei da. Sonst esse ich die alle weg. Tun Sie mal, sagte er. Ich nahm das dritte, und - während der Kassebestand gerade online abgerufen wurde - das vierte. Danach verabschiedete sich der blaue Mann fröhlich von mir. Es regnete große Tropfen. Dazu schien die tief stehende Sonne. Natürlich war es frisch, aber für mich fühlte es sich nach Frühling an. Nach ganz fernem Frühling. Ich genoss das.


Heute weiter Gedichte ausgewählt, auf halber Strecke jedoch abgebremst, denn ich stellte fest, dass alle ab 172 bis zum Ende unter normalnull.htm abgespreicherten Texte falsch verlinkt waren. Das zu reparieren hat gut eine Stunde gebraucht.


Di 24.01.12 14:48

Aus über zweihundert Texten 109 ausgesucht. Die drucke ich aus, dann geht das Auswahlverfahren weiter.


Do 26.01.12 11:08

An der Fleischtheke weit und breit niemand, keine Bedienung, ich bin der einzige Kunde, aber hinter mir, im Gang zwischen den Tiefkühltheken steht ein Junge, etwa 13, sehr hübsch, kastanienbraunes Haar, schokoladige Augen, steht da und hält im rechten, vor der Brust gebeugten Arm etwas schwarz-rot-goldenes, eine zusammengefaltete Fahne, ein Beutel vielleicht, es ist nicht zu erkennen. Während ich in den hinteren Teil der Fleischabteilung nach Bedienung rufe, greift er mit der Linken in dieses Schwarz-rot-goldene wie in ein Füllhorn, nimmt etwas heraus, verstreut es mit der Geste eines Sämannes und schaut dem Verstreuten versonnen hinterher, als hinge es in der Luft und verbreite dort eine Art Zauber, der nur ihm sichtbar ist. Und dann sagt er etwas. Er sagt es bestimmt, aber für mich bleiben es kurze, unverständliche Laute, die auf einen gewissen Erregungsgrad schließen lassen, ansonsten aber steht er da und starrt Löcher in die Luft. Dann kommt seine Mutter. Natürlich versteht sie, was der Junge sagt, während sie auf dem Weg zu Kasse sind und er noch immer etwas aus seinem Füllhorn nimmt und verstreut.


So 29.01.12 11:58

So ein Gedicht kann bockig werden. Es ist zunächst einmal ja gar nicht vorhanden, dann, möglicherweise im nächsten Augenblick, taucht es als Hookline auf und irrlichtert durch meinen Kopf. Wenn ich nicht aufpasse, ist sie fort, eh ich sie halten kann.

Nehmen wir an, ich habe sie festgehalten, und nehmen wir weiter an, dass sie kein Windfurz war und weitere Worte aus dem existentiellen Nichts zu ziehen in der Lage ist, und nehmen wir schließlich an, dass nach fünf Minuten, einem Vormittag oder länger ein Gedicht daraus entsteht, ob gereimt oder nicht gereimt, ist nicht von Belang, ein Gedicht ist schließlich ein Gedicht.

Da steht es nun. Aber, und das ist der Schrecken der digitalen Verarbeitung, es existiert nicht auf Papier. Der Dichter speichert es für weitere Verwendung. Ende des ersten Aktes.

Der zweite Akt könnte so beginnen. Der Dichter liegt auf dem Sofa und hört Musik. Er hat sich diese umwerfende CD dieses umwerfenden neuen jungen Sängers gekauft, er hört und hört und denkt plötzlich, diese Stelle da, drittes Lied zwischen 2:42 und 3:15, daraus schneide ich mir einen Loop, eine Musikschleife, wenn Sie so wollen, aber einigen Sie sich besser auf Loop, denn das ist ein wirklich treffendes Wort.

Der dritte Akt beginnt damit, den Loop zu extrahieren, will sagen, aus dem entsprechenden Musikstück herauszuschneiden. Das geht mal schnell, mal langsam, aber schließlich habe ich ihn und alles ruft danach, zu diesem Loop einen Text zu finden.

Da ich nicht faul bin, mangelt es mir nie an Text, nur - den passenden Text zum Loop zu finden, das ist nicht einfach. Da suche ich manchmal tagelang. Aber schließlich ist auch er gefunden, ich passe ihn der Musik an und nehme ihn auf. Fertig.

Auf diese Weise sind die meisten auf meiner Webseite gespeicherten Loops entstanden. Sie führen dort ein stilles Leben, und je nachdem, ob ich sie in meinen Blog integriere, sie über FB oder Twitter promote, erreichen sie pro Monat manchmal vier-, fünfhundert Zugriffe.

Da ich nun aber begonnen habe, Gedichte für einen Gedichtband zusammenzustellen, muss ich den Entwicklungsprozess von Text, Loop, Loop plus Text wieder umkehren. Ich hatte angedeutet, dass Text im digitalen Orbit sich aus Gründen, die ich mir nicht erklären kann, anders darstellt, als Text auf Papier. In den vergangenen Tagen habe ich also nichts weiter getan, als digitalen Text in Text auf Papier umzuwandeln.

Im Augenblick habe eine Mappe mit bedrucktem Papier, sitze und korrigiere. Das ist ein Berg Arbeit, die sehr viel Freude macht. Erst, wenn die getan ist, werde ich daran gehen können, alle korrigierten Texte in eine Reihenfolge zu bringen. Mir schwebt eine Dramaturgie vor, aber fragen Sie mich nicht, wie ich sie realisiere. Versuch macht klug, sage ich mir und werde mir Mühe geben.

Bis dahin gilt als Arbeitstitel: Als der Handstand dement wurde.

Wenn alles getan ist, werde ich die Gedichte an einen Verlag in Berlin senden, der Interesse gezeigt hat. Ob sich dieses Interesse letztlich in einem Buch materialisiert, steht aber noch lange nicht fest. Wundern Sie sich daher also nicht, wenn ich mich hinsichtlich der Unsicherheiten des Arbeitsmarktes und der Forderungen der Arbeitnehmer nach festen, dauerhaften Beschäftigungsverhältnissen manchmal nur wundern kann, denn ich kenne keinerlei Sicherheit. Ich trete immer in Vorleistung, und ändern wird sich das erst, wenn sich eines meiner Bücher sehr gut verkauft.


Di 31.01.12 13:11

Ich könnte natürlich schmollen und sagen, dass dies ein beschissener Tag ist. Gerade nämlich rief die Werktstatt an, um mir zu sagen, dass mein Auto fertig ist. Die schlechte Nachricht lautet, dass die Lichtmaschine kaputt war. Ich muss Ihnen nicht sagen, dass das teuer wird. Ein total beschissener Tag also, wenn man es so nimmt, aber ich habe beschlossen, nicht weiter drüber nachzudenken. Es führt zu nichts. Ich werde losgehen, es abholen, meine EC-Karte in den Automaten schieben, fertig. Neues Kapitel.

Der Tag ist wunderbar. Nicht nur, dass die Sonne scheint, nein, ich sitze und schiebe Gedichte von hier nach dort, um herauszukriegen, wie sie zueinander passen könnten. Das ist eine schöne Arbeit. Und Sie werden sich vorstellen können, wie gut so etwas bezahlt wird. Gedichte sind ja von hohem kulturellen Wert, da ist der Liebhaber durchaus bereit, mal etwas springen zu lassen. Ja, ja, es ist ein Vergnügen. Und dann kommt noch hinzu, dass der Enkel vom Opa spricht, der Opa soll kommen, hat er gesagt, aber zunächst muss der Opa sehen, dass er noch ein paar Gedichte sortiert, vielleicht schafft er es später, den Enkel zu besuchen.

 

 

 

 


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