Juli 2019                      www.hermann-mensing.de      

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Mo 1.07.19 10:12

Kaum hatte ich den Inhalt meines Koffers in Wäschekörbe sortiert, musste ich fort. Meine erste Führung auf der Burg stand an. Ich war vorbereitet, aber da ich den Augenblick des Zusammentreffens mit Gästen nie kenne, nutzt das wenig, denn er definiert den Rest. Es
war so heiß, dass alle, die sich nicht unbedingt bewegen musste, still hielten und geduldig warteten, bis der Abend käme.

Der erste Gast, eine etwa vierzigjährige Frau aus dem Westmünsterland, war weizenblond und ohne Allüren. Als ich ihr vorschlug, die Führung unter der Kastanie auf dem Vorhof zu beginnen, sagte sie, sie täte alles, was ich ihr sage. Ich enthielt mich einer Antwort, und erzählte ihr stattdessen Geschichten, die sich auch für mich zum ersten Mal mit Leben füllten. Sie lachte und staunte, ich enthielt mich weiter einer Antwort und verkaufte ihr stattdessen "Mein Prinz".

Die Gäste aus Schwaben waren bildungsbewusster, so dass meine Geschichten in Hintergründe und Nebenpfade mäanderten, was in schwäbischer Mundart mit "das war genial" überzeugend und mit einem ordentlichen Trinkgeld honoriert wurden.

Als ich heimkehrte, stellte ich fest, dass in der Zeit meiner Abwesenheit zwei auf den äußeren Fensterbänken stehende Kerzen geschmolzen und zu Boden getropft waren. Nun werde ich mich wieder im Alltag zurechtfinden müssen.

Di 2.07.19 22:49

Kaum vor Ort und noch nicht in der Welt, tauchten 32 pubertierende Gymnasiasten auf, die ich durchs Rüschhaus führen sollte. Ich wurde hellwach. Pubertierenden sind stumm, kichern, tuscheln, wären am liebsten bei MCDonalds, Saturn oder Zara und sagen nicht einmal Danke. Auch ich musste pubertieren, das war kein schöner Lebensabschnitt, eines aber war mir danach wieder einmal klar: die Entscheidung, nicht Lehrer zu werden, hätte ich besser nicht treffen können.


Do 4.07.19 12:41 sonnig, angenehm frisch

Kurz nach halb zwölf schellte mein Telefon. Die Juryvorsitzende der Ausschreibung für den Dorfschreiberposten in Everswinkel war dran, ihr Telefon war laut gestellt, die Jury hörte mit, jetzt hatte ich den Salat, man teilte mir mit, ich sei ab April 2020 bis Juni 2020 Dorfschreiber in Everswinkel und Alverskirchen. Das freut mich. Ich wette, dass es interessante Geschichten gibt. Nach all den Jahren ereilt mich also doch noch ein Ruf, der außer eine wenig lokaler Ehre für drei Monate ein regelmäßiges Einkommen verspricht. So etwas haben Schriftsteller selten bis nie, ich genieße es jetzt schon. Wie ich mein Leben dort gestalte, weiß ich noch nicht, aber kommt Zeit, kommt Rat.


Mo 8.07.19 12:11 bewölkt, frisch

Ich werde nichts nichts tun, weil ich ja morgen und übermorgen etwas tue.


Di 9.07.19 14:53 bewölkt, mild

Ein Junge hat mich während eines Gesprächs zwischen zwei Geschichten gefragt, ob ich die Helden meiner Geschichten beneide? Ich beantworte bei Lesungen vieles. Wieviel man als Schriftsteller verdient, welches Buch das erfolgreichste gewesen ist, welche das Dickste, wie lange man für so eines braucht, oder wie man Schrifsteller wird, aber so eine Frage hatte ich noch nicht. Ich musste überlegen. Der Junge, der mich gefragt hatte, meinte es ernst. Ich sagte, dass ich über diese Frage noch nicht nachgedacht hätte, es sei aber eine kluge Frage, und ich glaubte, dass zu Neid kein Anlass wäre.

Fazit: zwei feine Lesungen mit Kurzgeschichten, von der jede die Zwölf- bis Dreizehnjährigten berührte.
Morgen das gleiche Programm mit anderen Schülern.


Do 11.07.19 15:04 bewölkt, mild

Draußen werden Randsteine gesetzt, eine Schaufel kratzt über Asphalt, ein Motor brummt. Drinnen sitze ich, ich habe geschlafen, aber noch längst nicht nicht genug. Ich werde gleich Kaffee aufsetzen, vielleicht kaufe ich mir ein Stück Kuchen, dann ist Zeit für die Dienstbesprechung. Dass ich noch einmal zu Dienstbesprechungen muss, hätte er mir nicht träumen lassen. Ich werde mich still verhalten, dem Lamento nichts zufügen, ich werde mir Notizen machen, danach gehe er zum letzten Mal vor den Sommerferien Tango tanzen. Ich hätte es liebsten, wenn man mir Kaffee brächte, ich denke über den Kauf einer Honda Shadow 125 nach. Alternativ dazu steht der Kauf einer Honda SH125 im Raum, das ist ein Roller, aber ich finde, ein C
hopper stünde mir besser zu Gesicht. Spätestens nächstes Jahr muss das entschieden sein, dann bin ich Dorfschreiber, und wenn ich da keine Fluchtfahrzeug habe, könnte es ernst werden.


Fr 12.07.19 12:30 mild, mit Neigung zu heftigem Regen

Liebe Annette,

im Rüschhaus ging Erstaunliches vor. Künstler, von weitem an ihrer urbanen Uniform zu erkennen, haben dich auf einem mehrtägigen Festival zur frühen Ikone der Emanzipation ausgerufen.

This is a womans world, haben sie gesagt, und versucht, das mit perfomativen Lesungen, Konzerten und Installationen zu untermauern. Manches hat mir gefallen, manches sehr, Shlomi moto Wagner etwa, anderes fand ich banal, und nur weil etwas Perfomance heißt, macht es die Sache nicht besser.

Organisiert und kuratiert wird das alles vom Center for Literature mit Sitz auf der Burg. Man wird fragen können, wieso Center, nicht Zentrum, aber von einem öffentlichen Diskurs darüber und die dort stattfindenden Aktionen wüsste ich nichts. Die Presse schreibt wohlwollend. Keiner verliert ein kritisches Wort.

Du mit deinem frechen Mundwerk hättest bestimmt Einwände gehabt und die Leute gegen dich aufgebracht.

Es ist richtig, die Burg und das Rüschhaus zu entstauben. In Münsters aber finden viele das Projekt überambitioniert. Ich sehe das nicht.

Ob dir das Wort Klitoris (siehe auch: Klitorianisches Lesezimmer, Aktion vom 5.07 im Rüschhaus.) gefiele, dass du wahrscheinlich nie gehört, geschweige denn ausgesprochen hättest, wage ich zu bezweifeln, wünsche dem Center for Literatur jedoch viel Erfolg.


So 14.07.19 23:09 es war wolkig, nicht zu frisch

Es gibt neben der Skulptur von Paul Wulf im Schatten der Servatii-Hochhauses einen kleinen Platz, da stehen Bänke, japanische Kirschen spenden Schatten, und einmal im Jahr wird dort Tango getanzt. Zum einen macht das Freude wegen der frischen Luft, denn Tango ist, auch, wenn es nicht so aussieht, schweißtreibend, zum anderen genießt man das Gefühl, vor Publikum zu tanzen. Das steht da, klatscht, und in vielen Augen lese ich, dass sie das auch gern einmal ausprobieren möchten.

Samstag war das Tanzen der Friday for Future Bewegung gewidmet, ergo hieß es Tango for future. Es waren nicht viele Tänzer da, aber es reichte. Wir tanzten mals besser, mal schlechter, wir pausierten und redeten.

Ich saß eine Weile bei dem Organisator, ein Mann mit Bauch und kariertem Hemd, Glatze, silbergerandete Brille, Anfang 50, jovial. Ich kannte ihn vom Sehen, weil ich oft freitags mit der Kutsche vorm Rathaus vorbei fuhr, wenn die Schüler demonstrierten. Er organisiert das.

Wir saßen unter der offenen Heckklappe seines Autos, mit dem er die Technik transportiert, Lautsprecher, Generator, so etwas. Wir rauchten. Ich schaute auf und sah einen Wagen vom Ordnungsamt. Der Wagen hielt, ein Mann und eine Frau steigen aus und kamen zu uns. Wer der Veranstalter sei? fragte der Mann, und der Organisator sagt trocken: Ich. Haben Sie eine Genehmigung? Nein. Dann müssen Sie die Anlage abbauen und den Platz räumen. Das tue ich bestimmt nicht, sagt er. Die Ordnungsbeamten schnappen nach Luft. Dann müsse man die Polizei rufen, sagt der eine Beamte. Das dürfen Sie ruhig, wir sind Friday for Tango, dies ist eine politische Demonstration, und die ist genehmigt, sagt der Organisator. Danach ziehen die beiden ab, bleiben zwanzig Meter entfernt stehen, und beginnen, aufgeregt zu telefonieren, bis sie endgültig verschwinden. Eine Viertelstunde darauf kommen zwei Polizisten. Einer sagt: Das Ordnungsamt hat angerufen. Ja, ja, sagt der Organisator. Dachte ich mir. Es gibt da zwei Leute, die nichts lieber tun, als Menschen Steine in den Weg zu legen. Die kennen wir, sagt ein zweiter Polizist. Dann ging es noch um dieses und jenes, man verabschiedete sind freundlich und wir tanzten bis 19 Uhr.


Mo 15.07.19 22:41 es war wolkig, bisschen feucht zwischendurch, sonnig später

Ich bin ein Opa, der mit den Enkeln chillt. Sonst muss ich nichts.


Di 16.07.19 9:06 bewölkt, frisch

Da ich nun weiß, dass ich mich nicht verbiegen lasse und den Schalck im Nacken habe, weiß ich nicht, was ich noch tun könnte, die Welt davon zu überzeugen, dass nichts so ist, wie es scheint. Ich könnte verstummen, aber das will ich nicht.


Do 18.07.19 13:26 leicht bewölkt, warm

Den Tresor kenne ich mittlerweile fast auswendig, links, rechts, links, rechts, schon ist er auf. Ich trage die Kassenlade ins Kassenhäuschen, stelle den Strom an und mache die Kasse aktiv. Ich hätte nichts dagegen, eine ruhige Kugel zu schieben, aber dann kommt alles anders. Ich rede von 11 bis 17 Uhr ununterbrochen, und gerate mehrfach an einen Punkt, an dem ich nicht mehr recht wusste, was ich von mir gab und wieso, die Steuerungscentren hatten auf Autopilot geschaltet, so dass ich mir zuhören konnte. Interessant, dachte ich, was der Mann alles weiß, woher weiß der das? Aaaah, dachte ich, der weiß das, weil Annette seine Kollegin ist. Auf Museumsführungen tauchen immer irgendwann Querschläger auf, gutmeinende Lehrer, selbsternannte Privatgelehrte, alte Männer, die aus ihrer Jugend erzählen wollen. Einer hatte stechende Augen, und redete sich in Rage, um dem von mir Geäußerten Faktisches hinzuzufügen. Opa, sagte die Enkelin, aber Opa war nicht aufzuhalten, Opa spracht von einem Vertrag, von dem ich noch nie gehört hatte. Interessant, sagte ich, aber er begnügte sich nicht, bis, wie gesagt, seine Enkelin ein Kantholz nahm und ihm eins über briet, worauf er lächelnd verstummte. Ich staunte, dass meine Stimmbänder das ohne Murren über sich ergehen lassen.


Fr 19.07.10 19:54 warm

Also das schmier ich mir jetzt ins Haar, damit jeder sofort sieht, des is a Dorschreiba.

Erste Stellungnahmen der beiden hochrangigen Literaturfachleute in der Jury zum Ausgang des Bewerbungsverfahrens:

Das Jurymitglied Walter Gödden, Literaturwissenschaftler, Honorarprofessor der Universität Paderborn, Geschäftsführer der Literaturkommission für Westfalen und wissenschaftlicher Leiter des ‚Museums für Westfälische Literatur Haus Nottbeck‘, beschreibt den künftigen Dorfschreiber so: „Hermann Mensing ist ein Autor, der sich nicht verbiegt und nicht verbiegen lässt. Er ist in vielen Genres zuhause und hat dabei stets Originalität, literarische Qualität und ‚aufrechtes Bewusstsein‘ bewiesen. Jemand, der immer ganz nah dran ist an den Menschen, ein genauer Beobachter und auch Schalk, mit Blick für die wesentlichen Momente des Lebens.“

Hermann Wallmann, seit 1986 freier Literaturkritiker, bis vor kurzem künstlerischer Leiter des Lyrikertreffens Münster, Vorsitzender des Literaturvereins Münster, seit 1998 Mitglied im P.E.N. Zentrum Deutschland, Publizist und selbst ausgezeichneter Lyriker, meint: „Die Arbeitsproben, die Hermann Mensing vorgelegt hat, belegen, dass er ein Auge hat für die Region, in der er lebt, und ein Ohr für die Klänge, die er in ihr wahrnimmt oder mit ihr assoziiert, wenn er „unterwegs“ oder „vor Ort“ ist. Seine Texte kommen nicht einfach plan daher, vielmehr verbinden sich in ihnen Beschreibung und Assoziation, Erinnerung und Gedankenspiel. Er ist bewandert in allen literarischen Gattungen, und so ist zu erwarten, dass sich auch in seinem neuen Betätigungsfeld Recherche und Phantasie, Präsentation und „Unterweisung“ beweglich miteinander verbinden werden. Um es vielleicht etwas überspitzt auszudrücken: Nicht der Schriftsteller Hermann Mensing wird etwas aus Everswinkel machen, sondern Everswinkel wird etwas aus Hermann Mensing machen. Hervorzuheben ist auch Mensings langjährige Erfahrung in der Arbeit mit Schülerinnen und Schülern.“

23:47

Die Pasta ist gegessen. Der Wein ist getrunken. Die Nacht greift, auf dem Balkon ist es schön. Ich habe mich verliebt. Ich werde mir einen Aprillia Scarabeo 125ccm 4 Takter Roller kaufen, das Fluchtfahrzeug für den Dorfschreiber. Es war Liebe auf den ersten Blick. Mein Nachbar, ein Experte, riet mir vom Peugeot Tweet umgehend ab, den ich als Alternative zum Aprillia aufs Tapet brachte. Damit war es besiegelt.


Sa 20.07.19 16:37 schwül, die zweite Front ist unterwegs

Wie schön wäre es gewesen, sie hätten den Halunken weggesprengt. Forensiker hätten ihn in briefmarkengroßen Überresten von der Wand kratzen müssen, aber leider, er hatte mal wieder die Vorsehung auf seiner Seite, und Bluthunde hatte er sowieso. So sind 75 Jahre vergangen, und in den Hirnen vieler Zeitgenossen schwirren noch immer Verwesungsfliegen, die man mit keiner Chemie totspritzen kann. Sie sind resistent und sie tarnen sich so geschickt, dass man sie manchmal grüßt, ohne zu wissen, dass sie es sind. Man könnte ihnen mit einer einfachen Methode das Handwerk legen, indem man sie juristisch mit allen Mitteln, jederzeit und überall belangt. Das reichte schon.

Derweil zieht das zweites Gewitter des Tages auf. Das erste ist noch vor Ausbruch in die Knie gegangen, mal sehn, was jetzt kommt.


22:30

Dass ich Dorfschreiber geworden bin, ändert nichts daran, dass ich es immer schon war. Ich setze mich zum Beispiel aufs Rad, und drehe eine Runde. Den Tag habe ich nach allen Regeln der Kunst vertrödelt, gegen Abend, zwei halbgare Regenschauer mit fernem Gewitter waren vorüber, habe ich die Wäsche der letzten zwei Wochen gebügelt. So ein Urlaub klingt nach.

Jetzt aber fahe ich los, kaufe zwei Kugeln Eis, schlecke, radle noch ohne Destination, grüße ein junges afrikanisches Paar, drei, vier Syrer vorm Heim am Ortsrand, freundliche Blicke, halte auf Havixbeck zu, und sehe kurz vorm Abzweig in die Bösenseller Straße von fern vier Menschen auf Stühlen auf dem Radweg. Oder eher fünf? Fünf.

Beim Näherkommen hält man mir ein großes gelbes Pappschild entgegen, aber ich kann noch nicht lesen, was darauf steht. Noch näher kommend erkenne ich, dass die fünf gerade erst die Pubertät überwunden haben, und nach Strategien suchen, Männer zu werden. Ihr hupt, wir trinken, steht auf dem Schild. Ich kann nicht hupen. Ich klingle. Die fünf jungen Männer greifen dankbar in einen Kasten Bier hinter sich, ziehen Flaschen heraus und prosten sich zu. Was aber, wenn keiner einer hupt? Wird dann dennoch getrunken, oder ist das verboten?


So 21.07.19 17:22 sonnig, warm

Heute ist nicht mein Tag. Gleich zu Beginn taucht eine Frau auf, und sagt, sie kenne das Haus gut, ob mir denn nie jemand sage, in welch vernachlässigtem Zustand der Garten sei, sie könne sich an Blumen erinnern, wer denn da verantwortlich sei. Sie führt einen nicht ein Wort sagenden, meist abseits stehenden Mann mit sich, und fordert ihn ständig auf, dies zu betrachten und jenes zu fotografieren. Später kommt ein Mann mit Bart meines Alters, der mich auf das Annettes Todesjahr nageln will. Er sei sicher, sie sei 48 gestorben. Das kann man nachlesen, sage ich. Jetzt ist glücklicherweise Feierabend, ich liege auf dem Sofa und will nichts mehr.

23:16

ich weiß nicht
wie man gedichte schreibt
romane überfallen mich oder nicht
texte sind texte
ich weiß nur was ich nicht weiß
sonst nichts


Mi 23.07.19 14:15 meine Wohnung ist kühl

Im Mai 68 saß ich vornübergebeugt auf meiner Kreidler Florett, deren Gaszug gerissen war, und folglich nur Vollgas fuhr. Ich jagte über eine schmale Landstraße in Holland, hinter mir drei Jungs auf Puchs, die mich verfolgten, weil ich in Overdinkel eines ihrer Meinung nach ihnen gehörendes Mädchen betanzt und ein wenig betrillert hatte. Ihre Puchs waren etwas langsamer, ich erreichte die Grenze, wo sie die Verfolgung abbrachen. Kurz darauf legte ich mich mit der Kreidler aufs Maul, es ging glimpflich ab, aber seitdem habe ich nicht mehr auf einem motorisierten Zweirad gesessen.

Seit gestern ist das anders. Um 14:17 erreichte ich Bochum, wo mich der Verkäufer einer Aprilia Scarabeo abholte. Als wir sein Haus erreichten und er seine Garage öffnete, in der ein aus den fünfziger Jahren stammendes DAS Motorrad stand, in Einzelteile zerlegt, die er im Begriff war, wieder zusammen zu bauen, waren meine Zweifel hinsichtlich seiner Seriösität verflogen.

Ich gestand ihm, Laie zu sein, er sagte, so ein Roller sei leicht zu fahren, und dann zeigte er ihn mir, ein rundum schöner Roller. Ich hatte ja schon gesagt, dass ich mich in ihn verliebt hatte, aber der war farblich anders gestaltet, stand in Hannover, und war, als ich am Montag dort anrief, um den Kauf zu besiegeln, schon verkauft.

Bochum Süd, Kriegermannsweg, die Maschine ist schwer. Solide, könnte man sagen. Ich fuhr einmal die Straße rauf und runter, und dachte, das schaffe ich. Die Formalitäten waren gegen 16 Uhr erledigt und ich machte mich auf den Weg. Das Ruhrgebiet ist urbaner Raum, eine Stadt geht in die andere über, ich hatte kein Navi, wusste aber, dass ich mich nordöstlich halten müsse, um dahin zu kommen, wo ich jetzt bin.

Aus den von Google ermittelten ca. achtzig Kilometern waren, als ich den Roller zuhause abstellte, etwa 120 Kilometer geworden. Ich war kreuz und quer durch mir unbekannte Straßen gefahren, immer im Bewußtsein, die Sonne müsse halbschräg links hinter mir sein. Als ich schließlich vorm Bahnhof Wann Eickel hielt und jemanden nach dem Weg Richtung Münster fragte, verwies er mich auf ein Straße, der ich folgen solle. Die würde mich zu einem Hinweisschild Recklinghausen führen, was sie auch tat. Ab dort kannte ich den Weg. Es wurde ländlich. Ich fuhr etwa achtzig, zweimal kurzzeitig hundert, es fühlte sich gut an. Heute habe ich die Maschine umgemeldet, mein Nummernschild kann von der Polizei leicht gelesen werden, sie wissen dann sofort: HM - MS 49. Mein Fluchtfahrzeug.

Do 25.07.19 23:45

Am heißesten Tag seit den Wetteraufzeichnungen habe ich gegen 22:00 Uhr das Fluchtfahrzeug aus der Garage geholt, und bin durch die Baumberge gefahren. Ich hatte auf Linderung gehofft, aber das Land war ein Backofen, überall auf den Feldern grelle Lichter der Mähdrescher, sie holen vom Halm, was vom Halm zu holen ist. Beim Durchfahren der kleinen Wälder am Süd- und am Nordhang der Baumberge wurde es ein wenig kühler. Das Fluchtfahrzeug rollte korrekt über alle Unebenheiten, das Fernlicht strahlte wie bei einem Auto, meine Fahrten durch Kurven werden sicherer.


Sa 27.07.1914:19 warm und windig

Ereignisse habe mindestens zwei Dimensionen. Beiden ist jedoch eines gemein: sie überraschen. Zunächst steigt Freude auf, denn das Ereignis garantiert dem Überfallenen eine geraume Weile sorglosen Lebens, was natürlich Illusion ist, denn Leben und Sorge sind Synonyme. Ich will aber nicht kleinlich werden, sorgloses Leben, habe ich gesagt, und das meinte ich auch. Wenn sich aber die Dinge konkretisieren, wenn im Hintergrund Verpflichtungen aufscheinen und eine Unterkunft, in der man sich eine geraume Weile aufhalten wird, tritt die andere, die dunklere Dimension des Ereignisses klarer hervor. Man weiß plötzlich nicht mehr, ob mit Einverständnis und Unterzeichnung des Vertrages, die vonnöten ist, schon der Schritt über die Korruptionsgrenze getan ist. Man weiß auch nicht mehr, ob man noch autonom ist, oder schon Hofnarr. Zum Glück vergeht bis zum Beginn der geraumen Weile noch eine geraume Weile, man wird also Zeit genug haben, sich mit inneren Zweifeln auseinanderzusetzen. Was zum Beispiel wäre, wenn einem nichts, aber auch gar nichts einfiele, wo doch zumindest die kleine Welt, in der man die geraume Weile verbringen wird, etwas von dem Überfallenen erwartet. Dann könnte es kritisch werden und der vertraglich vereinbarte Lohn wäre hart erarbeitet. Aber wie gesagt, der Überfallene hat ein Fluchtfahrzeug, er wird, um die Unterkunft erträglich zu gestalten, eigene Bilder aufhängen, er wird sich ein Keyboard kaufen, um das Klavierspielen nicht zu verlernen, all das und noch viel mehr wird er tun, und dann geht es los. Er wird schon sehen.


So 28.07.19 16:00 bewölkt, warm

Es ist bewölkt, man kann und will nichts tun, im Grunde will man nicht einmal aufschreiben, dass diese progressive Oma gestern, wir hatten einen Set gerade beendet und wollten Pause machen, mit einem kleinen blonden Dreijährigen auftauchte, dem ich, weil er so auf unsere Musik abfuhr und sich im Rhythmus schüttelte, eine Maracas geschenkt hatte, mit der er dann die ersten zwei Sets neben uns gestanden und jedes Lied begleitet hatte. Mit diesem Jungen also tauchte die Oma auf und sagte zu uns, der Junge wolle mitspielen. Die alte Dame glaubte also ernsthaft, dass ein Dreijähriger auf Befehl mit einer Band von sechs alten Männern spielt, weil sie das für kreativ hielt. Ich antwortete, der Junge habe schon die ganze Zeit mitgespielt, jetzt machten wir Pause. Wie lange denn, fragte die Oma. Zwei, drei Stunden, sagte ich, und ich fürchte, nicht einmal das hat sie verstanden.


22:13

Wie die Dinge aussehen, kneifen die Musiker, also bleibt alles an mir hängen. Ich werde umdenken müssen. Morgen fahre ich zu Musik Produktiv, vielleicht findet sich dort jemand, der mir Hinweise geben kann, mich beraten, was so ein Hermann bräuchte, um aus Text und Technik etwas zu zaubern, das wir vorher noch nicht hatten.


Mo 29.07.19 9:05 noch frisch, bisschen windig, blau-weiß

In der Astgabel der japanischen Kirsche vor meinem Küchenfenster brüten Jahr für Jahr Tauben, aber noch nie hatte ich Junge gesehen. Dieses Jahr war das anders, vor drei oder vier Tagen reckten Hälse aus dem Nest, zwei oder drei, genau war es nicht zu sehen, denn die Henne saß auch im Nest. Ich nahm mir vor, zu beobachten, wie die ersten Flugversuche ausgingen. Eben, beim Frühstück auf dem Balkon, sah ich, dass das Nest fort war. Die Henne saß auf einem Nebenast. Ihr Kopf ging hier und dorthin. Sie besah sich alles ganz genau. Ich verließ die Wohnung, um nachzuschauen, wo das Nest sei. Ich fand es leer in den Büschen unterm Baum. Von den Jungvögeln keine Spur. Ich ging wieder hinein. Die Henne untersuchte gerade die Astgabel, in der das Nest gewesen war. Sie wirkte verwirrt und ratlos.


Di 30.07.19 21:08 blau-weiß

Es wird warm. Nicht so warm, wie vor ein paar Tagen, aber doch dreißig Grad, und ich, siebzig, spüre, dass ich bei niederen Temperaturen besser aufgehoben bin. Ich schlafe flach. Insekten stechen mich. Mein Magen läuft unrund. Ich habe einen kleinen Husten. Am Meer wäre ich jetzt besser aufgehoben. Gestern bin ich mit dem Roller über Land gefahren, und in jeden Weg, der sich anbot, eingebogen. Der Roller hält, was ich mir von ihm versprochen habe. Er hat Präsenz, so leicht wird man ihn auf der Straße nicht übersehen, was mir zugute kommt. Ich kann auf unserem Garagenhof schon Kreise fahren. Das ist wichtig, man muss so ein Zweirad beherrschen. Gleich fahre ich ins Rüschhaus, allerdings mit dem Rad, denn ich will nicht, dass der Roller jetzt mein vorrangiges Fortbewegungsmittel wird, ich will schon weiter Radfahren, allein der Fitness wegen. Die ersten beiden Führungen sind gebucht, dann ist Mittag, und ich werde mich auf eine Bank an der Nordseite des Gebäudes setze, um ein Gedicht zu schreiben. Falls man so Gedichte schreiben kann. Ich werde sehen.


Mi 31.07.19 5:32 morgengrau


Falls es Gewissheit gibt, ist sie anzuweifeln. Falls es Zweifel gibt, sind auch diese anzuzweifeln. Falls es überhaupt irgendetwas gibt, gilt zunächst immer nur ein- und dieselbe Frage: ist es wirklich?

Es ist kurz vor 16 Uhr, ich muss zweiundzwanzig Senioren, alle, die auf der Fahrerseite eines klimatisierten Busses sassen, durchs Rüschhaus führe. Die rechte Seite übernimmt eine Kollegin. Wir sprechen die Route ab.

Ich beginne im Haus, sie draussen. Drei Männer, der Rest sind Frauen meines Alters plus-minus in unterschiedlichem Zustand. Es geht hoch her, Fragen, Antworten, Einwürfe, ich rede wie ein Wasserfall, zum Schluss wird applaudiert und ich drohe, die Senioren nicht eher aus das Haus zu lassen, bis sie ihre Begeisterung in meiner kristallenen Trinkgeldschale abgelegt haben. Sie brüllen vor Lachen.

Wenn es nach mir ginge, wäre jetzt Feierabend, aber es ist erst kurz vor vier. Wenig später steht ein Mann vor mir. Vierzig, braun, dunkle, sportliche Radlerkleidung, Glatze. Er hat ein Kombiticket. Machen wir Einzelführungen? Ich weiß es nicht, eigentlich eher nicht, oder? Er wäre enttäuscht. Er wäre sehr enttäuscht, jedenfalls entnehme ich das seiner Reaktion. Die Seniorengruppe habe ihm schon auf der Burg die Tour vermasselt, sagt er. Ich schlage vor, noch einen Moment zu warten, vielleicht kämen noch Gäste, aber es kommen keine, also gehe ich mit ihm allein durchs Haus. Er ist auf einer Radtour. Er will ans Meer. Er kommt aus Stuttgart, und ist wegen Annette hergekommen. Er ist begeistert. Wir führen ein höchst angeregtes Gespräch. Zwei Stunden später sitze ich im Heidekrug und esse zu Abend. Geht alles aufs Haus, die Gäste habe meine Warnungen ernst genommen. Noch Fragen? Noch Zweifel? Ja.


16:15

Liebe Annette,

gestern hab' ich mich zu dir auf die Bank neben der Freitreppe gesetzt. Du hattest einen Sommerhusten, ich hatte Hustenbonbons, aber die wolltest du nicht. Hast nur dagesessen und in den Wald sinniert. Als aus dem Gartensaal Stimmen kamen, zucktest du zusammen. Das sind Gäste, sagte ich, Menschen, die deinen Namen noch kennen, du hast es ja prophezeit. Du seufztest. Ich schlug mein Notizbuch auf. Und, Herr Dorfschreiber, was wird es? Ein Gedicht, sagte ich. Also, wer zuerst fertig ist, sagtest du. Das gilt nicht, deines war doch vor fast zweihundert Jahren schon fertig. Du nicktest. Eine feine Röte zog über dein Gesicht.

Die Bank vorm Haus,

die Häher rufen in das Rauschen,
das östlich, einen Steinwurf nur,
den Frieden stört, rund um die Uhr,
ein Graus,
die Autobahn, ich hatte dir davon erzählt,
du hättest, wärst du Gegenwart,
die Auffahrt Münster Nord gewählt,
um über Hamm und Paderborn hinaus
vorbei an Warburg zu den Schwiegereltern
nach Bökeldorf zu fahren.

Wie sehr ich dir noch immer wünsche,
du hättest dich mit Straube dort vermählt,
jedoch das Schicksal hatte anderes gewählt,
was in den Jahren wirklich stattfand
und was nicht,
das weißt nur du, die anderen wissen's nicht,
und also endet dies Gedicht.