März 2022                     www.hermann-mensing.de      

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zum letzten eintrag


Di 1.03.22 10:45 Krise Tag 729 wechselnd bewölkt, sonnig Krieg Tag 6


Es ist Krieg. Männer in hohen Positionen reden und schießen sich um Kopf und Kragen. Herrn M. lässt das kalt. Gerade hat man ihm das europäische digitale Covid Genesungszertifikat am Bande verliehen. Man trägt es im Schritt, da ist es in guter Nachbarschaft, da ist es warm, von dort geht keine Gefahr mehr aus. Es gab Sardellen-Schnittchen und Rosé von Brad Pitts Weingut in der Provence, Frau von der Leyen hat angerufen, und weil das glücklich macht, hat Herr M. das Küchenfenster geputzt und die Küchenfront gewienert, jetzt muss es erst mal wieder gut sein, jetzt benötigt er wieder Zeit, seinen Träumen nachzuhängen, schließlich ist da noch ein unvollendeter Roman (Seite 147: Schnee fällt auf unsere verwahrlosten Seelen), und wer weiß, was da noch alles an Unverkäuflichem wartet. Herr M. ist schließlich ein Dichter, dem (auch hier mit Zertifikat) bescheinigt wurde, aus dem Rahmen zu fallen. Das hat Folgen. Nicht einmal im Beamtenarsch schafft er es auf die Feuilletonseite, man bespricht ihn in Ortsbeilagen: hier Nienberge/Roxel. In diesen Gemeinden genießt Herr M. höchste Verehrung. Er ist aber ein fröhlicher Mensch mit Hang zur Melancholie, er kennt alle Arten des Suicids, wendet aber keine an, er will nichts weiter als ein bisschen geliebt werden, abends möchte er seinen Kopf in den Schoß einer Frau legen, das reicht schon. Leider sitzt seine Frau auf einem Sofa im Nebenzimmer.


Mi 2.03.22 17:59 Krise Tag 730 sonnig Krieg Tag 7


Ich treibe mich rum. Das Herumtreiben wird als Arbeit deklariert, damit ich vor mir bestehe. Dabei ist Herumtreiben überhaupt keine Arbeit. Herumtreiben ist eine entspannende und zugleich höchste Konzentration fordernde Art, die Welt zu betrachten. Menschen zu sehen und ihre Geschichten, die sich vom Scheitel bis zur Sohle an sie klammern. Der eine zieht die Unterlippe nach innen, die senkrechten Falten auf einer Stirn oberhalb einer Nase entspannen gerade, ein Lid zuckt. Irgend so 'ne kleine Bombe einfach auf Berlin schmeißen, sagt einer. Wer weiß, wie lange der noch Geburtstag feiern kann, ein anderer. Wir gehen herum mit Geschichten und Fragen und hören nicht auf damit. Alles in Endlosschleife, meist turbulent, im Augenblick lebensgefährlich. Vorm Fischstand ist mir die Schlange zu lang. Bei Moritz, dessen Kaffeewagen einen unschlagbaren Sonnenplatz hat, ist es mir zu voll. Ich höre ein Triebwerk. Im Augenwinkel zieht ein Schatten wie ein Meteor zu Boden. Eine Explosion. Ein Feuerball, dann eine Rauchwolke, aus der Autos auftauchen. Die Glocken am Dom schlagen. Manchmal habe ich Glück, manchmal finde ich etwas.


Fr 4.03.22 21:45 Krise Tag 732 sonnig Krieg Tag 9

Wegen Krieg geschlossen.


Sa 5.03.22 12:34 Krise Tag 733 sonnig Krieg Tag 10

Berichten des BND zufolge haben die Russen für die ersten Angriffswellen unerfahrene, junge Soldaten eingesetzt, für das massenhafte Töten beim finalen Einnehmen der großen Städte stünden erfahrenere Truppen in Bereitschaft. Wie auch immer dieser Krieg ausgeht, Russland wird ihn bitter bezahlen. Die getäuschten Menschen dieses riesigen Landes, das im Grund nichts weiter spiegelt als den imperialen Größenwahn des zaristischen Russland, werden sich erheben und ihre Rechte einfordern. Jedes Imperium zerfällt früher oder später. Es gibt Gesetze, die größer sind als die kleinlichen Kriege der Menschen. Am Ende siegt, der sich nicht gebeugt, nicht Speichel geleckt, nicht verleugnet hat. Ich glaube noch immer, dass es nicht zu einem Weltkrieg kommt. Sollte ich mich täuschen, hoffe ich, dass es schnell geht, dass nichts übrig bleibt, dass wir endlich verschwinden. Für die Ukraine kann ich nur beten. Die Meister des Krieges tun mir Leid. Ich verstehe sie und verstehe sie nicht. Haben Sie keine Mütter, die ihnen ins Gewissen reden? Väter, die ihnen die Vaterschaft kündigen. Putin, du bist nicht mehr mein Sohn. Putin, die bist nicht mehr Bruder. Putin, heute abend backe ich dich aus Salzteig und stech dir eine Nadel ins Herz.


Mo 7.03.22 17:28 Krise Tag 735 sonnig Krieg Tag 12

Mail an die Pressestelle der Russischen Botschaft Berlin

Sehr geehrter Herr Roschkow,

gestatten Sie einem Dichter aus dem westfälischen Münster, Ihnen meine tiefe Abscheu und mein Entsetzen über den archaischen Krieg, mit dem ihr Land die Ukraine verwüstet, knebelt und die Welt bedroht, mitzuteilen. Russland wird diesen Krieg nicht gewinnen. Es wird Schiffbruch erleiden wie in Afghanistan. Möglich, dass Sie die von Ihnen zerstörte Ukraine dominieren, aber das ukrainische Volk wird sich Ihnen nicht beugen. Zudem können Sie sicher sein, dass sich das russische Volk früher oder später gegen die von Ihrem Präsidenten nach zaristischem Vorbild organisierte Unterdrückung erheben wird, denn am Ende siegt immer der, der sich nicht beugt, nicht verleugnet, nicht lügt. Russland bewegt sich auf den Tiefpunkt seiner Geschichte zu. Das ist traurig, und wird Ihr Volk über Generationen in Scham und Verzweiflung zurücklassen, ganz gleich, wie dieser Krieg, den Ihr Präsident eine Sonderoperation nennt, ausgeht.

Hochachtungsvoll
Hermann Mensing


Di 8.03.22 17:00 Krise Tag 736 sonnig
Krieg Tag 13


Mi 9.03.22 23:24 Krise Tag 737
sonnig Krieg Tag 14

55,95 Euro hat es gekostet, herauszufinden, dass die Reparatur meiner Lumix fast so teuer ist wie eine neue Kamera. Der Zoom hat ein Problem, die Lamellen, die das Objektiv schützen, schließen nicht immer korrekt, aber ich kann fotografieren. Falls noch Zeit bleibt, kann ich das Objektiv auf alles richten, von dem wir gedacht haben, es sei schön. Ich kann festhalten, wie der Moment alles zerstört. Ob die anderen, die entscheiden müssen, mehr können, weiß ich nicht. Lügen, Einschüchterung, Drohung und Waffengewalt sind an der Tagesordnung. Blut fließt. Vor der Billigtanke an der Hafenstraße stauen sich Autos bis zum Ludgerikreisel, um den Liter Bezin 10 cent billiger tanken zu können als anderswo. Ich tanze. Ich trinke Wein. Siebenhundertsiebenunddreißig Tage Pandemie habe ich überstanden, und jetzt sowas. Ich weiß, was ich tun muss. Solange es hier nicht knallt, nehme ich es nicht ernst. Ich bin traurig. Ich, ihr, wir haben versagt.


Do 10.03.22 12:25 Krise Tag 738
sonnig Krieg Tag 15

mein gedicht
zerbombt den kreml
das kapitol
den vatikan
den nationalen volkskongress
den dax und die apokalypse
es ist was es ist
im 74. jahr
will ich meine enkel groß werden sehen
ich kenne hoffnung
und tiefe verzweiflung
ohne die nichts
das licht der welt erblickt

ich bin das ende des tunnels
meine fackel erleuchtet
den mond und die galaxien
niemand muss sich sorgen
es ist wie es ist


So 13.03.22 10:50 Krise Tag 741 sonnig Krieg Tag 18

menschenverstand
ist nicht mehr das, was er war,
er hat sich hingelegt und gedacht,
ich steh erst auf, wenn alle gesund sind,
aber da kann er warten,
bis zum st. nimmerleinstag,
wenn ich längst nicht mehr lebe,
die sonne brennt sehnsucht auf papier,
das paradies existiert,
aber ich krieg's nicht zu packen
obwohl ich es sehe, fühle und schmecke,
so süß, es war mir versprochen,
ich hielt's in der hand
und hab' es verbockt.


Mo 14.03.22 13:50 Krise Tag 742
wechselnd bewölkt Krieg Tag 19


Di 15.03.22 12:30 Krise Tag 743 Krieg Tag 20
bewölkt

In deinem Keller ist ein Wasserrohrbruch, sagt D., ein Hausbewohner. Ich renne runter. Es ist nicht mein Keller. Das Wasser tropft auf Kartons, Kleidersäcke und Spielesammlungen meiner von einer Angststörung geplagten Nachbarin. Ich rufe die Hausverwaltung und lande in einer Warteschleife. Dann werde ich abgefragt. Wenn Sie Eigentümer einer Wohnung sind, wählen sie bitte die 1. Piep. Sind Sie Mieter und zahlen Ihre Mieter an die Hausverwaltung, wählen Sie die 2. Piep. Zahlen Sie die Miete an den Wohnungseigentümer, wählen Sie bitte die 3. Ja, Schulz, sagt die 3. in einem Ton, der keinen Zweifel darüber aufkommen lässt, dass er in zehn Minuten Feierabend macht. Ich erkläre die Situation. Hm hmm sagt Schulz. Wir haben einen Wasserrohrbruch. Hmmm. Sie müssen jemanden schicken. Hmmm. Haben Sie das begriffen? Hm hmmm. Eine halbe Stunde später steht ein Klempner vor die Tür, schaut sich das Rohr an, sagt, es sei ein Abwasserrohr und betreffe die zwei mittleren Appartments. Er veranlasst, dass dort das Wasser abgestellt wird. Das Rohr hört auf zu tropfen. Der Klempner verabschiedet sich. Man käme morgen. Heute um kurz vor 8 schellt es. Och nööö, sagen wir. Wir liegen im Bett. Wir wollen Kaffee trinken und Zeitung lesen. Es schellt nochmal. Und nochmal. Beim vierten Mal öffnet meine Frau die Tür und sagt, es sei unverschämt, uns auf dem Bett zu klingeln. Die Handwerker ziehen ab. Kurz darauf schellt mein Handy. Eine Frau von der Hausverwaltung sagt, wieso ich die Tür nicht geöffnet und den Schlüssel zur Wohnung des Nachbarn ausgehändigt habe, das sei doch gestern verabredet. Davon weiß ich nichts, sage ich, außerdem bin nicht der Hausmeister. Wann immer in diesem Hause irgendetwas kaputt ist, schellen Sie bei mir, obwohl neben der Haustür ein Safe in die Wand eingelassen ist, in dem der Haustürschlüssel liegt. Darum gehe es nicht, sagt die Frau, die mit Vornamen Mandy heißt. Doch, sage ich. Ich habe schließlich gestern, als sie mich angerufen habe, ihre Pflicht erfüllt und Handwerker geschickt. Das ist ihr Job sage ich. Ich bin für Sie in den Keller gerannt, habe den Schaden fotografiert und Ihnen das Bild gemailt. Aber Sie haben die Handwerker vor der Tür stehen lassen, sagt Mandy. Sie spricht schnell und ungehalten. Ich verweise noch einmal auf den Safe. Ich sage, Sie solle herunterfahren und zuhören. Sie fährt nicht herunter. Wissen Sie was, blasen Sie mir doch am Hobel, sage ich und lege auf. Eine halbe Stunde später sind die Handwerker wieder da. Ich gebe ihnen den Schlüssel der Nachbarwohnung.


Mi 16.03.22 18:50 Krise Tag 747 Krieg Tag 21 wechselnd bewölkt

endet das
das endet
das auch
das endet auch
das und das
endet auch
dann
fängt es woanders an
und endet wieder
und fängt wieder an
aber das endet
und das ende wird schön

19:05

endet das
das endet
das auch
das endet auch
das und das
alles endet
fängt woanders an
endet und fängt wieder an
aber das endet
und das ende wird schön


Do 17.03.22 13:05 Krise Tag 748 Krieg Tag 22 wolkig, windig

dass er mich
mitnimmt
ist ein privileg
vergäße er mich
würde ich's nie erfahren
aber er hielte wunder bereit
die nur dem vergessenen blühen
bis dahin rinnt mir zeit
durch die lunge
ich träume
bis er mich tatsächlich
vergisst


Fr 18.03.22 16:50


Und? sagt Godot.
Völliges Durcheinander, sagt Beckett.
Aber sowas von, sagt Herr M., Jongleur alles Möglichen.
Also Herr M.
Krieg, Pandemie, Hoffnung, sagt Beckett.
Der Krieg die Krieg das Krieg.
Der Pandemie die Pandemie das Pandemie
Der Hoffnung die Hoffnung das Hoffnung.
Läppisch, sagt Godot. Herr M., was ist los?
Das fragen Sie noch.
Herr M. hat einen Loop.
Das ist nicht neu.
Aber unangenehm, sagt Herr M.
Sehr, sagt Beckett. Dagegen hilft:
Saufen bis zum Verlust der Muttersprache.
Ardmore Malt Roku Gin Gras
Nöö, sagt Herr M. Lieber Geschlechtsverkehr.
Hatte ich noch nie, sagt Godot.
Hast du ja auch nicht nötig.
Kombilösung, sagt Herr M.
Keine Frau vor Ort.
Schick paar Engel, fordert Herr M.
Blond, Brünett, Kastanienbraun?
Kastanienbraun,
Rot, sagt Beckett.
Und den Rest, sagt Herr M.
Der Engel die Engel das Engel
Der Ardmore die Ardmore das Ardmore.
Der Gras die Gras das Gras.
Es ist Nachmittag, Brüder.
Tut, was ihr müsst, aber belästigt mich nicht.
Ich habe zu tun, sonst ist morgen alles zu Ende.
Godot steigt in ein Taxi.


Sa 19.03.22 Krise Tag 760 Krieg Tag 24 sonnig, sehr windig


Herr M. hatte die Ritzen des etwa 10m2 großen Basaltmosaiks vorm Gartenhäuschen von Unkraut befreit, galt bei den Frauen des Gartens kurzzeitig als Held, und hatte sich, wie es Helden nach der Tat gerne tun, unter eine Decke auf die Liege gekuschelt. In Intervallen von in zehn Minuten kreisten einmotorige Flugzeuge über der Stadt. Sie machten mehr Lärm, als die Autobahn bei Ostwind oder die regelmäßig hoch am Himmel überfliegenden Jets der Freizeitindustrie. Herr M. brachte seine Javelin Raketen in Stellung, die er von den Tantiemen seiner Romane gekauft hatte. Eine kostet 68.500 Dollar, in Anbetracht der Weltlage eine vernünftige Investition. Die Javelin findet ihr Ziel allein. Man muss keinen Flugalgorithmus programmieren, sondern nur grob draufhalten. Sie hätten sehen sollen, wie prächtig die Cessnas in mehr oder minder großen Feuerbällen zur Erde stürzten. Zum ersten Mal verstand Herr M., was Krieg ist. Er war beeindruckt, aber die Unpersönlichkeit dieser Art zu töten machte ihm ein wenig Angst. Ob es Überlebende gab? Er bezweifele es, wenngleich er gestern gesehen hatte, wie ein russischer Soldat einen von mehreren Javelin getroffenen Panzer durch eine Luke verließ und eiligst davon taumelte. Montag wird in der Zeitung stehen, dass Cessnas vom Himmel geschossen wurden und man nicht weiß, wer dahinter steckt. Ist der Krieg in Westfalen angekommen? Wird jetzt auf alles geschossen, was sich bewegt? Hatte Herr M. moralisch richtig gehandelt?. Godot konnte er nicht fragen, der hatte zu tun. Beckett war noch immer mit der Rothaarigen zugange. Herrn M. blieb wieder einmal allein mit einem Problem.


So 20.03.22 Krieg Tag 24 sonnig, sehr windig


Es war kalt und windig, aber das hat den Frühling nicht davon abgehalten, zu beginnen. Um 16:42 war es soweit. Beendet dagegen sind ab heute die von mir meist als notwendig erachteten, in ihrer deutschen Gründlichkeit aber nie begriffenen, ständig wechselnden Corona Verordnungen. Die sind (trotz höchster Inzidenzen) ab heute zu großen Teilen Geschichte. Ab sofort darf der Mensch sich wieder dem Leben aussetzen, das per Definition lebensgefährlich ist. Das schöne am Leben ist seine Unvorhersehbarkeit. Die war - hätte man glauben können - in den heißen Phasen der Pandemie eingeschränkt. Kontrolliert. Reglementiert. Aber das war sie nie und wird sie nie sein. Ab heute höre ich auf, Krisentage zu zählen. Es waren 760 seit dem 13. März 2020. In diesen trüben Tagen habe ich - außer bei einigen konspirativen Treffen in Wald - meine Enkel nur selten gesehen, weil immer die Furcht im Raum stand, ich könne mich infizieren. Für diese Rücksichtnahme bin ich dankbar, hätte sie aber nicht gebraucht. Heute nun war ich mit den Enkeln auf dem Send, eine große Kirmes. Ich hatte Spendierhosen an. Nach vier Stunden waren ihre Taschen leer. Jetzt bin ich müde. Diese Müdigkeit steht im Verdacht, Folge meiner sehr mild verlaufenen Corona Infektion vor 4 Wochen zu sein. Möglich ist aber auch, dass es der endende Winterschlaf oder die beginnende Frühjahrmüdigkeit ist. Seit 24 Tagen zähle ich den Krieg. Krieg herrscht aber, seit ich auf der Welt bin. Er tobte immer woanders, während des Kosovo Krieges in hörbarer Nähe, jetzt ist er wieder ganz nah. Kriege ängstigen mich mehr als Pandemien. So bin ich an diesem ersten Frühlingstag voller Lebenslust und Trauer über den Zustand der Welt, die ich meinen Kindern und Enkeln eines Tages hinterlasse.


Mo 21.03.22 15:34 Krieg Tag 25 sonnig, warm


Mein Gemüt will sich ablenken, also treibt es mich wieder in den Garten, um niedere Arbeiten zu verrichten. Dabei geht es mir wie meinem Vater, von dem meine Mutter sagte, kaum stehe er auf einer Leiter, um anzustreichen oder zu tapezieren, beginne er, Lieder zu pfeifen. Darüber ist mir entgangen, dass die Maskenpflicht nun doch bis zum April verlängert wurde, womöglich bis zum 1., um dann sagen zu können, sie wäre von Anfang an als Aprilscherz
geplant. Im Garten findet der Krieg ohne meine Beteiligung statt, die Pandemie hat Pause, eine win-win Situation für mich und die Welt. Heute morgen hatte ich mehrere Innenräume ohne Maske betreten, ohne gemaßregelt zu werden, bis ich gerade von der immer froh gelaunten Bäckereifachverkäuferin bei Hosselmann gebeten wurde, die Maske aufzusetzen. Ich hatte nur meine Anonymus Maske dabei, man erschrak, händigte mir aber dennoch den gewünschten Rosinenstriezel aus. Den verzehre ich nun ohne Maske auf meinem Balkon. Die Ruhe des Gartens schwingt nach. Fast macht sie mich glauben, die Welt habe sich über Nacht eines Besseren besonnen, alle Kriege hätten aufgehört, ein gewisser Herr aus der prächtigen Stadt Moskau sei verschwunden. Was mich an der Kriegsberichterstattung gewaltig stört ist seine Einseitigkeit, denn es hat und es gibt ja noch anderswo Kriege, die aber - scheint es - im Kontext der westlichen Werteskala nur halb so verwerflich sind. Die Russen waren immer schon böse. Wenn einer über Jahrzehnte als Böser gebrandtmarkt wird, bleibt ihm nichts, als diesem Stereotyp zu entsprechen. Eine typische Anpassungsleistung. Währenddessen wird gestorben, was das Zeug hält. Beschuldigungen werden erhoben, die nach dem immer gleichen Muster verlaufen: bewerfe jemanden mit Dreck, irgendetwas wird an ihm hängenbleiben. Ich kämpfe mit mir. Ich ziehe mich am Schopf aus dem Morast der von Bots vergifteten Welt, stemme mich mit aller Kraft gegen die Dunkelheit, die mein Seele trübt, ich lebe von Tag zu Tag, aber glücklich bin ich nicht.


Di 22.03.22 10:32 Krieg Tag 26 sonnig


Wenn ich lese, welche Summen von heute auf morgen für Krieg bereitgestellt werden, wird mir schlecht. Die Zeit steht nicht still. Ich habe mir mein Zeitfenster nicht ausgesucht. Ich tue, was für mich das Beste ist. Ich fahre in den Garten. Ich liebäugle mit den Rotkehlchen, die mich beobachten und ganz in meiner Nähe Lieder singen. Ich spüre die Blicke der Krähen, die das Gelände kontrollieren. Gestern beobachtete ich zwei Wespen bei einem erbitterten Kampf. Vorgestern hatte ich einen Wurm ausgegraben. Für ihn bestand Lebensgefahr. Er musste dringend wieder unter die Erde. Wie er das geschafft hat, weiß ich nicht. Er verschwand. Kopfüber? Ich würde auch gern verschwinden.


Mi 23.03.22 9:45 Krieg Tag 27 sonnig


du bist seit langem fort,
ich war dein allerliebstes biest,
dein letztes wort,
liest sich wie eine hoffnung,
ja
wir sehen uns um drei
als ich in düst'rer ahnung
zu dir kam, war es vorbei
nun war ich grausam frei,
gefangen, und der einsame,
und wär' doch gerne der gemeinsame,
der ohne stolz und eitelkeit den rest des weges geht,
wär' da nicht die erinnerung
an einen jungen, vier,
sohn eines kriegsverstörten vaters,
der mit selbstmord drohte,
die schwebt noch immer über mir,
heute ist wieder krieg
und liebe scheitert an verrohung,
vergäb ich ihm die drohung
wäre das mein sieg.


Fr 25.03.22 22:09 Krieg Tag 29 sonnig


Auf Anraten eines Freundes habe ich in den letzten Tagen Akkorde studiert, ihren Klang abgehört, versucht, mit ihnen zu spielen, rauszukriegen, welche Töne im Kontext möglich sind, und gedacht, dass ich mein dilletantisches Herangehen an mein Klavierspiel vielleicht strukturieren sollte. Vorgestern hörte ich in einem Film Mercy mercy, eine von Joe Zawinul komponierte Nummer in einer Aufnahme des Cannonball Adderley Quintets, eine Live-Aufnahme von 1966, an die ich mich sehr gut erinnerte. Ich notierte die Melodie und dachte, ich könne die Voicings anhand meiner Akkordtabellen nun leicht herausfinden, aber schon nach kurzer Zeit wurde klar, dass mir alles, was auf Papier steht, nicht näher kommt, so dass ich zu meiner alten Methode zurückkehrte. Ich probierte so lange, bis ich die passenden Akkorde gefunden hatte. Seit zwei Tagen mache ich das. Heute, am dritten Tag, konnte ich das Stück zum ersten Mal fast fehlerfrei durchspielen, aber eh es wirklich klingt, wie es klingen soll, werden noch ein paar Tage vergehen. Nach einer Weile am Klavier schmerzte mein Kreuz, die Sonne schien, ich beschloss, das Gelernte sacken zu lassen und machte mir einen Gin-Tonic. In der Flasche war nur noch ein Rest. Die Hälfte davon wäre zu wenig gewesen, also machte ich sie leer. Jetzt bin ich wieder nüchtern, aber schwer wie ein Sack Zement. Ich denke, ich gehe bald zu Bett. Der Krieg hat mich heute nicht interessiert.


So 27.03.22 13:12 Krieg Tag 31 sonnig


Meine Liebe zu der japanischen Kirsche vor meinem Küchenfenster ist 40 Jahre alt. Jedes Jahr blühte sie im letzten Aprildrittel, mal ein paar Tage früher, mals später, in diesem aber wird sie Mitte nächster Woche strahlen wie eine Prinzessin. Wie jedes Strahlen wird auch dieses ein paar Tage anhalten, dann wird rosafarbener Blütenschnee ums Haus wirbeln, sich zu kleinen Haufen gruppieren und schließlich verschwinden. Zauberhaft. Wir haben für alles Worte erfunden. Ein heißt Klimawandel. Dass sich das Klima wandelt, ist der Welt auch ohne Eingriff der Menschen inhärent, aber da man uns aus dem Paradies vertrieb, blieb uns nichts, als die Welt nach unseren Bedürfnissen umzugestalten. Das ist lange Zeit gut gegangen, im Anthropozän, unserer Gegenwart, rächt sich das. Meine japanische Kirsche ist ein Prophet. Man kann Propheten als Spinner abtun, ich nicht. Herr Wittgenstein sagt, alles, was der Fall ist, ist der Fall. Der Fall in seiner anderen Bedeutung wird tief sein. Aber dann bin ich nicht mehr hier. Dann bin ich zurückgekehrt in die Umarmung der Zeit, somit ewig.


Mo 28.03.22 23:30 Krieg Tag 32 sonnig kälter als gestern

Wenn Deutschen das Klopapier ausgeht, verlieren sie einen Krieg. Das war im ersten so, im zweiten ging es vor Stalingrad los, und jetzt, wo die Russen die Ukraine zerstören, um sagen zu können, wir wären Schuld, weil wir schlußendlich nicht drum herum kamen, irgendwie einzugreifen, müssten sie nun leider in unsere Richtung schießen, und Zack, ist das Klopapier alle. Der Deutsche riecht die Gefahr mit dem Arsch. Das kann nur eines heißen. Es dauert es nicht mehr lange.


Di 29.03.22 13:52 Krieg Tag 33 milchig märzgerecht

Passion
Hans Henning Paar
Theater Münster

Gleich zu Beginn des Bach Oratoriums taucht links vor dem die Bühne nach hinten begrenzenden, halbrunden Vorhang eine Figur auf. Sie ist kreideweiß und nur mit einem Hüftuch bekleidet. Ihr Haar ist silbern. Mal hat sie einen Arm vorgereckt, wenig später ist ihr Körper gebeugt. Nur bei ständiger Beobachtung nimmt man ihre minimalen Bewegungen wahr. Zu Ende ist sie dem Vorhang bis zur anderen Seite gefolgt und von dort bis zur Mitte der Bühnenrampe gekommen. Auf halbem Weg hatte ich begriffen, dass das Jesus Leidensweg war. Ich bewunderte Tsutomu Ozeki, den Tänzer, der jede Bewegung in höchster Verlangsamung und tiefster Konzentration vollführt. Eine Meditation. Währenddessen waren auf der Bühne fünfzehn Tänzer in Gruppen und Soloaktionen unterwegs. Wofür sie standen, war mir oft nicht klar. Das Repertoire des modernen Tanztheaters kollidiert mit der barocken Musik. Ein Widerspruch, wahrscheinlich gewollt, der aber für mich nicht aufging. Den Leidensweg Christi choreografisch darzustellen, ist sicher eine große Herausforderung, denn die Johannes Passion ist für den sakralen Raum gedacht. Orchester, Chöre, Weihrauch, und von heiligem Schauer ergriffene Christen. Berührt hat es mich nicht. Beeindruckt schon.


Do 31.03.22 11.50 Krieg Tag 35 bewölkt, nasskalt

Vor etwa vierzig Jahren war ich als Schauspieler und Schlagzeuger für "Simplicius Simplicissimus", eine Revue über den 30jährigen Krieg am Deutschen Theater in Göttingen engagiert. In einer Szene stehe auf einer Brücke am vorderen Bühnenrand und singe "Zweiunddreißig Jahr' ist's her, mir ist das Herz unendlich schwer, ich weiß noch, wie es gestern war, wie wird's dann sein im nächsten Jahr, im nächsten Jahr ist Krieg, und Krieg und wieder Krieg." Etwa zur Mitte des Liede tauchen von links und rechts Landsknechte auf, überwältigen mich und flößen mir den Schwedentrunk ein. Im gleichen Augenblick bricht die Brücke in Folge eines technischen Fehlers unter uns zusammen. Ich lande unverletzt zwischen den Trommelns meines Schlagzeugs, das unter der Brücke steht, und weiß nicht, wie ich dorthin gekommen bin. Jemand ruft um Hilfe. Unser Gitarrist, der zwei Meter entfernt saß, krümmt sich schwer verletzt.

Heute ist immer noch Krieg. Er ist so alt wie die Menschheit, und offenbar wird, dass wir nichts, aber auch gar nicht gelernt haben. Es regnet. Die japanische Kirsche wartet. Ich habe eine Entscheidung getroffen. Ich werde "Schnee fällt auf unsere verwahrlosten Seelen", einen Roman über das Leben und die Freundschaft von vier Männern, die über fast 5 Jahrzehnte zusammen Musik machen, zuende schreiben. Als im Mai letzten Jahres mein Stipendium als Dorfschreiber begann, hatte ich ihn beiseite gelegt. Er beginnt so:

Vier Männer an einem Feld in Überwasser pinkeln Bögen, rempeln sich gegenseitig an und lachen wie kleine Jungs. Alle sind über sechzig. Es ist Sommer. Die Nacht ist klar. Die Männer schauen aufs Feld und finden, es leuchte seltsam.
Das macht der Mond, Ernst.
Da steckt was anderes hinter, sagt Paul
Was sollte denn außer Physik dahinter stecken?
Bin ich der liebe Gott? Paul wirft die Hände in die Luft.