Mai 2004                                                 www.hermann-mensing.de                                

mensing literatur

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Mo 3.05.04    13:40

Also hat M. in den letzten Tagen die Republik fast zu zwei Dritteln durchquert, hat es sich im Süden gut gehen lassen, hat regionale Weine flaschenweise getrunken, hat den Rhein in seiner deprimierendsten Form gesehen, aufgestaut und wie in ein Totenbett eingedeicht, hat eines der größten Drogen-Anbaugebiete der Republik durchfahren (Kaiserstuhl), idyllisch seine Dörfer, an jeder Ecke Hinweise auf Drogen zu freiem Verkauf und zu fast jeder Stunde, entsprechende Hofhock-Festivitäten hat er jedoch nicht besucht, das überlässt er gern anderen. Nachdem er festgestellt hatte, dass die Kinder im Süden sich von denen im Nordwesten nicht unterscheiden, ist er zufrieden zurückgekehrt. Hat noch den gleichen frohen Mut, die gleiche tiefe Depression, noch die gleichen Schulden, aber die Aussicht auf Erlösung ist garantiert, denn in den nächsten Wochen wird er gut zwölf Mal lesen, vielleicht sogar häufiger. Und ein Hörspiel ist unterwegs und drei Romane stehen zur Entscheidung im Raum.

 

Di 4.05.04   11:53

Aber es steht auch anderes im Raum. Die Entscheidung etwa, ob die Welt auf der Stelle abzureißen ist, jedenfalls der Teil der Welt, der sich mit der Konzeption und Ausführung von Kriegen und Katastrophen auf Kosten Hilfloser beschäftigt, als da wären: die Industrienationen, die in ihrer haltlosen Gier vor nichts zurückschrecken. Uneinigkeit herrscht allerdings über die Art und Weise dieses Vorhabens. Gewalt schließen wir als Bevollmächtigte für die Abschaffung für jede Art von Gewalt etc. pp. aus, schlagen aber dennoch vor, die Verantwortlichen, falls es diese gibt, zu töten.

 

Mi 5.05.04   15:09

Wann immer ich in Schulen lese, tauche ich in ein Geflecht von Sympathien und Antipathien von Frauen verschiedenen Alters, was beängstigend sein kann. Frauen, immer nur Frauen in Grundschulen. Wo sind die Männer? Zu feige wahrscheinlich.

 

Fr 7.05.04   9:45

Zurück in die Flussniederung, Jahrmillionen alt, die sich von den Hängen des Schwarzwaldes bis zu denen der Vogesen zieht. Wir fahren von Freiburg südwärts nach Müllheim. Ich lese in einer Mediathek, die so gar nicht den Eindruck desolater finanzieller Verhältnisse hinterlässt, von denen unablässig und gern gesprochen wird: hochmodern und lichtdurchflutet ist sie. Wassilly-Stühle stehen in Lesesälen, Kunst ist auch da. Ich lese aus der Sackgasse 13, die einfachste Variante des Lesevergnügens, eine sichere Bank. Manchmal denke ich, ich sollte nichts anderes schreiben. Genre-Schreiber werden, das Gruseln liegt mir, es macht Spaß, aber jede Wiederholung ist eine zuviel, deshalb wird daraus in diesem Leben wohl nichts mehr. Im Anschluss erkunden wir das Städtchen. Es wirkt ungestört, fest in sich ruhend, so, als gäbe es das Drumherum mit Autobahnen und Industriegebieten gar nicht. Vielleicht schläft es.

Die Sonne scheint, als wir uns auf den Weg in die Höhe machen, vorbei an blühenden Obstbäumen, nach Badenweiler zunächst, ein auf Hochglanz polierter, mit Palmenkübeln dekorierter Kurort, in dem Menschen mit Bademänteln überm Arm die Straßen kreuzen, auf dem Wege vom oder zu einem pompösen Glaspavillon, um dort heilendes Wasser zu trinken, sich massieren zu lassen oder in heißer Sole zu baden.

Kaum aber liegt dieses Städtchen hinter uns, wird der Schwarzwald düster und unzuverlässig. Seine Straßen werden schmal und schmaler, Spitzkehren zickzacken den felsigen Berg, düstere Tannen nehmen das Licht, hier und da taucht ein einsamer Hof auf, nicht mehr frisch in Pastellfarben getönt, sondern vom Alter gezeichnet. Schließlich erreichen wir eine Bergkuppe, blicken weit über Land, hören nichts mehr, bis auf einen Vogel dann und wann. Sitzen am Hang, Schneeflecken sind noch da, so als sei der Winter noch längst nicht besiegt.

13:45

Dumm ist, dass ich vorher nicht getankt habe. Ob ich es bis ins Münstertal schaffe? - Also lasse ich rollen. Wann immer es abwärts geht, lasse ich rollen, die Einsamkeit bleibt zurück, aus schroffem Hochwald werden liebliche Weiden, dann ist plötzlich wieder jedes zweites Haus eine Pension, wir sind im Münstertal und die nächste Tankstelle ist nicht mehr weit. Wir nehmen eine kleine Mahlzeit in der Gaststätte zum Felsblick, wir blicken und blicken, sehen jedoch keinen Fels und fahren über eine noch schmalere, steilere Straße hinauf zum Schauinsland, gondeln mit der Seilbahn hinab ins Tal und wieder hinauf und sind zur rechten Zeit zurück in Freiburg. Abends verjuxen wir meine Gage für Essen in einem hoch gelegenen, teuren, jedoch nicht unbedingt höchstklassigen Restaurant. Die Kellnerin öffnet den Wein, schüttet mir ein Schlückchen ins Glas und fragt, ob er gut sei. Ich bejahe. Was sonst hätte ich sagen können über Wein - nichts. Dann ist es ja gut, sagt sie, ich hatte so meine Zweifel beim Korken.

 

Sa 8.05.04    10:04

Kleine Meditation über Schmiergelpapier:

Als C. mir vor einer Woche mit dem Bartschneider das Haupthaar schnitt, hatten wir eine Länge von 3 mm vereinbart. Schon bald war das Gröbste getan, jetzt ging es an den Feinschnitt hinter den Ohren und auf dem Schädelplateau, auf dem sich die wenigen Haare feige flach angelegt hatten, um dem Schnitt zu entkommen.
C. entfernte die Schutzhülle der mechanischen Schneide, säuberte sie, vergaß, die Schutzhülle wieder aufzusetzen und fuhr fort. Was - wie man sich denken kann - zu der Frisur führte, die ich seitdem trage und die mir reihenweise Komplimente einbringt. Etwa, dass ich zehn Jahre jünger aussähe, was ja bei 55 Jahren nicht schlecht ist.

Durch die starke Sonneneinstrahlung der letzten Woche im Süden Deutschlands schält sich seitdem die Haut auf meiner Glatze und schuppt, was nicht schön aussieht. Gestern abend nun erfuhr ich von C., dass sie eine Peeling-Creme besitzt. Die solle ich auftragen, einreiben und abspülen, riet sie mir und das tat ich. Stand vorm Badezimmerspiegel, cremte die Glatze ein und versuchte mich verzweifelt an das Wort zu erinnern, das die Tätigkeit des Einmassierens und dem damit verbundenen Gefühl am Besten beschreibt. Da es mir partout nicht einfallen wollte, fürchtete ich eine Weile, dass Demenz an mir nagt, beruhigte mich aber mit dem Gedanken, dass ich ja so ein Wort höchst selten benötige. Das letzte Mal vor etwa einem Jahr, als ich die Türen unserer Wohnung schmiergelte. Seitdem hatte ich kein Schmiergelpapier mehr in der Hand gehalten. - Ja, ich bin jetzt sicher, dass dieser Blackout nichts mit Demenz zu tun hatte. Sollte es doch so sein, werde ich es früher oder später wohl vergessen haben, und habe ich es erst vergessen, wird es mich auch nicht mehr bedrücken, was irgendwie beruhigend ist.

17:31

Die Klassen 7 der Friedensschule Hamm lesen gerade Große Liebe Nr. 1. und schreiben mir.
Hier einige Zitate.
Oksana: "...dieses Buch gefällt mir gut, es hat zwar viele Seiten, aber es geht..."
Paulina: "...das Buch ist voll cool, es kommt sogar mein Name darin vor."
Martha: "...ihre Bücher sind einfach mit einem Wort zu beschreiben: Spitze!"
Karolina, die aus Polen stammt, sagt "...diese Bemerkung am Anfang, dass Polen klauen, fand ich ein wenig beleidigend."
Natalia: "...wie kommen Sie dazu, so gute Bücher zu schreiben?"
Leonie: "...die Sprache im Buch ist super, so sprechen heute ja auch viele."
Jacqueline: "...es ist ja auch eine ganz normale Teenyart, seine Große Liebe zu finden." Lisa: "...wieso knackt es über den Köpfen von Kasia und Steff, als sie auf der Bank sitzen?"
Alina: "...das Buch ist ganz gut erzählt, und auch mit den Wörtern Arsch usw., das findet man eher seltener." Charlotte: "...ich persönlich lese nicht so gerne Liebesgeschichten."
Juri findet das Buch am besten, "...da wo sie sie geküsst haben als das Mädchen weg fährt."
Sriganan hat einen Verbesserungsvorschlag. "Können Sie Steff nicht als Fußballspieler oder Basketballspieler auftreten lassen. Das sind nämlich meine Lieblingssportarten."
Salana: "...ich lese ungern Bücher. Es sei denn, es kommt darin vor, was mich interessiert, z.B. Autos."

20:03

Die Angeklagten sind verstorben. Der Geschädigte hat ihnen vergeben. Die Schädigung jedoch, tiefe Verunsicherung, bleibt. Sie hat ihn geprägt.

 

Mo 10.05.04    11:34  

Der eine wird fragen, wer die Angeklagten sind, der andere fragt nach den Geschädigten. Die Antwort auf beide Fragen ist einfach: Jeder Lebende ist sowohl das eine wie das andere. Schuldzuweisungen sind also überflüssig. Dennoch darf man hassen. Wenngleich es nichts bringt außer schlechter Laune und Magenschmerzen. Unterm Strich wird man einsehen müssen, dass nur Vergebung zählt. Dem folgt das Vergessen. Dem die erneute Tat. Undsoweiter.... Wir leben in Zyklen.

PS. Ist es trotzdem nicht wunderbar, Bayern München hassen zu dürfen? - Ja. Unbeschreiblich wohltuend.

PPS. Und den Bayern wird nicht vergeben. Niemals.

12:42 

Auf den ersten Blick ist Colmar ein Traum. Das erwachende Bürgertum hat ihn geträumt, Händler und Handwerker haben sich dieses Städtchen gebaut, damals, als es noch Städtchen gab: Fachwerk, Giebel, Erker, es fehlte nur ein Spitzweg mit seiner Schlafmütze. Heute ist Colmar natürlich längst eingekreist von dem Wahn, der jeder Stadt, und sei sie noch so schön, den Atem abschnürt. Das Betuliche, das mittelalterliche an ihr lebt nur auf den ersten Blick. Auf den zweiten erstickt sein als Weltkulturerbe klassifizierter historischer Kern unter Touristen-Kitsch, Reklamen und bunten Fahnen, so dass nichts bleibt als ein schaler Geschmack.

 

Mi 12.05.04   14:39

Male radiation strahle ich aus, meinte der Geschäftsführer meines Verlages, und - hahahaaa - sagte er - wäre er schwul, würde er auf mich stehen. So annonciert im Kreis der Autoren, Büchermacher und Buchhändler sank ich über den Schnittchen in mir zusammen, während Buchhändler den Erfolgsautor H. umkreisten, um sich Bücher signieren zu lassen. Ob nun Neid an mir nagte oder einfach nur die Zweifel am Verstand dieser Welt wieder einmal überhand nahmen, weiß ich nicht, nachzutragen nach meinem Ritt über Autobahnen in die Landeshauptstadt und zurück bleibt, dass der einzige Ort, an dem ich mich wohl fühle, dieser Ort ist, mein Platz, meine Leute, alle anderen liebe ich nicht.

Immerhin habe ich aber nun Gewissheit darüber, dass die Verzögerung des Lektorats meiner beiden neuen Romane nicht mit einer von mir insgeheim schon befürchteten Aussortierung wegen zurückgehender Verkaufszahlen zu tun hat, sondern einzig und allein mit dem neuen, vierteiligen Roman (1800 Seiten) des oben genannten Erfolgsautors H., der noch in diesem Herbst erscheinen muss und daher im Lektorat Vorrang vor allem anderen hatte.

Wie merkwürdig es sich sonst mit Beifall = Erfolg verhält, habe ich gestern Abend erfahren müssen. Zum zweiten Mal spielte ich Schlagzeug auf der Latin-Session im Hot Jazz Club, geleitet von einem Kolumbianer, der Congas spielt. Die Leute mögen die lateinamerikanisch-karibischen Rhythmen, sie finden sie "toll", sie bejubeln schlechte Soli (meines etwa), woraus ich nur schließen kann, dass sie keine Ahnung haben. Ob ich aber Ahnung habe, weiß ich auch nicht. Ich weiß jedoch, dass mein bejubeltes Solo besser schnell vergessen werden sollte, besser noch wäre, es hätte nie stattgefunden.

Ob das auch auf meine Romane zutrifft, bezweifle ich, denn auf den Lesungen der letzten Tage hatte ich das gegenteilige Gefühl.

 

Do 13.05.04   9:42

Die gestrige Veranstaltung meines Verlages stand unter dem Motto: Meister der Fantasy. Ich habe Bradbury verehrt, Heinlein gelesen, wenngleich mir der mir immer verdächtig schien, rechts, faschistoid, Vonnegut JR. halte ich nach wie vor für einen der Größten, aber der schreibt Science Fiction. Tolkien las ich, als ich in Südamerika reiste, Michael Endes Momo las ich an, fand es aber kitschig, Edgar Ellen Poe las ich in der Schule, aber der ist kein Fantasy-Autor. Fantasien, in denen es um Schwertträger, Flüche, Propheten, vergessene Inseln usw. usf. geht, gefallen mir nicht. Fantasy ist für mich eine Literatur der Behauptungen, der überflüssigen Adjektive und wortreichen Seitenfüllerei. Fantasy-Leser sind Fans, ich weiß, Fans, die ich gern hätte, trotzdem, ich kann mit der Gattung nichts anfangen.

H. Mensing
Das Tal des Vergessens

Galmon blickte vom Berg hinunter ins Tal. Der König des Weißen Lichts, Maron, hatte Galmon in seiner Todesstunde den Auftrag gegeben, sich auf die Suche nach diesem Tal zu machen. Hinabzusteigen, die ewigen Nebel des Vergessens zu durchschreiten, türkis leuchtende Nebel, die den Blick auf den Talgrund verwehrten. Noch nie war jemand dorthin hinabgestiegen und wieder zurückgekehrt.
Galmon liebkoste des Hals seines unruhig wiehernden Pferdes. "Lauf, Ross", sagte er, "trag mich, so wie ich dich leite." Das Pferd begann zögernd voran zu schreiten. Erste Nebelschleier legten sich um seine Fesseln. Das Pferd erschauerte. Galmon blies in das Horn der Zuversicht, das gewundene Horn eines geflügelten Naans, ein Sechshufer der Gattung furchtloser Trance-Tänzer. Der hohe, kräftige Ton schwebte überm Tal des Vergessens wie eine Ankündigung, dass er, Galmon, Enkel des großen, unvergessenen Maron, das Geheimnis des Tales nicht länger akzeptieren würde. Blitze zuckten, als sein Pferd schon bis zu den Flanken im Nebel versunken war. Es bäumte sich auf, aber Galmon war sein Herr und leitete es tiefer hinab, bis Ross und Reiter sich im Nebel verloren. Würde man sie je wiedersehen????

15:36

Am zweiten Tag meiner Lesereise (29.4.04) fuhren wir von Freiburg nach Norden. Ich sollte in Teningen lesen, in der Zehntscheuer. Vorm Haus stand eine blühende Kastanie. Drinnen war das Licht gedämpft von all dem dunklen Holz, Eiche zumeist, Eiche und altes Gemäuer. Die Kinder kamen. Man hatte ihnen aber gesagt, noch draußen zu warten. Ich stand in der Tür. Ein kleiner Türke führte sie an. Wir standen uns auf der Türschwelle gegenüber. "Bist du der Autor?" fragte er. Ich schüttelte den Kopf, sagte "Security" und schubbste ihn mit geschwellter Brust. Wir lachten. Ich las aus dem Zehnten Mond. Anschließend fuhren C. und ich in den Kaiserstuhl.

Vorgestern las ich im Arnold Janssen Gymnasium aus Abends am Meer. Erfrischend und anstrengend war das, die Schüler hatten viele Fragen. Ich Antworten. Erstaunlich.

 

Fr 14.05.05   17:52

In Kopenhagen haben sich die Nachfahren der großen europäischen Verbrecher-Syndikate versammelt, um der Hochzeit eines Prinzen mit einer australischen Bürgerlichen zu feiern. Und die Ausgebeuteten jubeln. Herzig.

 

Sa 15.05.04    10:09

Den Mund zu halten, wenn ich höre und sehe, was junge Menschen manchmal von sich geben, ist nicht immer einfach, aber ich schaffe es dank der weisen Ratschläge meiner Frau, die Zurückhaltung propagiert und wahrscheinlich Recht damit hat. Dennoch, "ich wollt', es gäb kein Alter zwischen 16 und 23, oder die jungen Leute würden's überschlafen; denn dazwischen gibt's nichts als Jungfern Kinder machen, dem Alter Schabernack antun, stehlen und raufen." (Shakespeare).
Gestern Abend also, im Hot Jazz: sechs junge Menschen kommen herein, vier Mädchen, zwei Jungen. Die Mädchen mit freien Bauchnäbeln und Pferdeschwänzen, die Jungen mit gegeltem Haar und hochmütigen Gesichtern. Während eine Band spielt, kramen alle plötzlich wie auf Kommando ihre Mobiltelefone heraus und starren mit weihnachtlich glänzenden Junge-Menschen-Augen auf die Displays. Jetzt bin ich nahe daran, zu sagen, was ich schon immer sagen wollte: haut doch ab ihr dummes Kinderpack, geht in den Sandkasten, stört nicht diese Musiker, die ihr Bestes für euch geben, für eure Unterhaltung, ihr seid es nicht wert, geht und hört eure Dutzendware, aber lasst uns, die Kenner, in Frieden. Ich sage das dann doch nicht, aber ich möchte fast schwören, dass ich es eines Tages nicht mehr bei mir halten kann, und dann höre ich schon, wie sie spottend über mich herfallen, über mich alten Knacker oder was immer sie heute sagen würden. Bis dahin also werde ich weiter die Faust in der Tasche ballen, so wie sie damals die Faust in der Tasche ballten, als ich meine Dummheit zur Doktrin erhob und die Alten hinter mir ließ.

12:16

Da ich schon einmal beim Thema bin, gerade passierte folgendes: Ich war zur Post gegangen, hatte mir am Briefmarkenautomaten eine Marke gezogen, sie auf den Umschlag geklebt und wollte diesen gerade in den links deneben stehenden Briefkasten werfen, als eine junge Frau (nehme an: Mutter, ein Kind) mich fast überrannte und zur Seite stieß.
Ich sprach (wenn auch nicht laut): Wieso diese Eile, junge Frau, dieser Briefkasten hat im Gegensatz zu Ihnen zwei Schlitze.
Hätte ich's doch bloß laut gesagt. Ich wäre in eine wunderbare Auseinandersetzung über Sexismus geraten, die ich sicher genossen hätte. Schade. Verpasst. Sonst jammere ich immer darüber, dass mir die guten Sätze erst Tage später einfallen.

 

So 16.05.04   17:06

Ging mit Rumsfeld Gassi. Hatte mir ein Stachelhalsband besorgt, weil er immer so zieht. Wollte an jeden Baum pissen, trat ihm aber mit Wucht ins Gemächt, um keinen Ärger mit den Baumbesitzern zu bekommen. Als er Machkack machen wollte, war es mir zuviel: ich fotografierte ihn und schickte das Foto an die Weltpresse. Da ich das Copyright besitze, nehme ich an, dass der Brief, den ich letztens von meiner Sparkasse erhielt (Sehr geehrter Herr M., wir würden gerne einmal mit Ihnen über Ihr Girokonto sprechen...), nun jeder Grundlage entbehrt. Cheney habe ich noch nicht ausgeführt. Den halte ich in einer kleinen Kiste. Aber keine Angst, es sind fünf Luftlöcher darin und alle zwei Tage schiebe ich ihm ein wenig Futter durch eine Klappe. Bush stinkt in einem Kellerverließ. Da kommt keiner rein und keiner ran. Mit dem mache ich, was ich will. Dutroux hat mir Tipps gegeben.

 

Mo 17.05.04   9:33

Hatten ein schönes Wochenende mit Grillen, Hubschraubereinsätzen und Autos-Beschießen. Aber wir fühlen uns durch herumstehende Häuser immer noch in unserer Bewegungsfreiheit eingeschränkt und werden deshalb wohl fortfahren, diese nieder zu walzen. Je mehr freie Flächen entstehen, auf denen man sich nicht verstecken kann, wenn wir kommen, um unsere gerechten Strafen auszuführen, desto besser.

PS.
Rumsfeld rief an und fragte, ob unser Geheimdienst Praktiken kenne, die schmerzhaft seien, der Wahrheit ans Licht verhülfen, aber dennoch kaum nachzuweisen. Ja natürlich, Donald, sagte ich, fünfzig Jahre Okkupation, Unterdrückung und Missachtung von UN-Resolution machen solche Praktiken geradezu unverzichtbar. Faxte ihm ein paar. Da staunte er aber. Ihr seid ja fast so gut wie die Nazis! sagte er. Das will ich aber überhört haben, antwortete ich, wenngleich - so ganz Unrecht hat er nicht.

17:55

Schwerdepfänze, wohin ich auch schaue Schwerdepfänze....

 

Di 18.05.04   12:18

Herr, du weißt, meine Schuld ist groß, aber ehrlich gesagt, ich kann es nicht ändern. Bitte mach deshalb, dass dem, der da seit drei Tagen bohrt, die Bohrmaschine um die Ohren fliegt, oder lass ihn endlich sein Werk vollenden. Amen.

15:30

Auf die Frage, wie es denn nun weiterginge, würde man, wäre man tatsächlich gefragt worden, unter Umständen antworten, dass man sich nach Lektüre dieses und jenen Romanes entschlossen habe, eine bewegende Geschichte aller menschlichen Leiden zu verfassen, als da wären Schnupfen, Zahnschmerzen, Durchfall etc., man aber auch die Freuden wie Eis essen, Pickel ausdrücken, Ohrenpopeln etc. besingen wolle. Falls dann noch Raum bliebe, wolle man sich liebenswerten menschlichen Schwächen zuwenden, seiner grandiosen Begabung zur Katastrophe, seiner augenfälligen Hingabe zu Selbstmitleid, seiner brutalen Instintikte und Unfähigkeit zur Liebe. Man werde möglicherweise auf mehr als 500 Seiten kommen, würde man antworten, falls man tatsächlich gefragt worden wäre, da das aber bisher nicht geschehen ist, hält man mit seinen Vorhaben hinterm Berg, verheimlicht sie im weltweiten Web, wo sie jederzeit unter Jahr und Monat nachzulesen sind.

 

Mi 19.05.04   11:00

Natürlich sind alle hier gemachten Angaben ohne Gewähr. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen wären rein zufällig, Weltläufe sind erfunden, Krankheiten eingebildet, Libido ist medikamentengestützt, wir (oder das, wofür wir uns halten) existieren nur als Projektion unseres Gehirn inklusive seiner chemischen Abläufe. Also regen Sie sich ab.

11:41

Berauschend dennoch: die Marienblümchen, die Kukucksnelken, die Margeriten, das umwerfend grüne Grün überm Land. Gestern jedoch schon eine Beeinträchtigung: die erste Mahd. Danach war alles gleich anders und Weihnachten schien nicht mehr fern.

12:44

Habe den Weihnachtsbaumständer deshalb gleich beiseite gestellt und geprüft, ob die Stichsäge noch funktioniert. Der diesjährige Trend-Schmuck: Palästinenser in kleinen Urnen, Granatenhülsen, Davidssterne. Auch gern genommen: Galgenstricke mit anhängenden Taliban, Afghanen, Irakis (als Muslim in jedem guten Kunstgewerbehandel erhältlich), Aids-Opfern aller Länder (vereinigt Euch), Geschmackvolles aus dem amerikanischen Kulturkreis (Gaskämmerchen, Hinrichtungstischchen), für die Frau des Hauses: Reizgas in hübschen Flakons.

 

Fr 21.05.04   9:15

Hoppsa, tut uns Leid, da ist was weggefallen,
schade, dass es SIE getroffen hat,
ehrlich, nein, das galt nicht allen,
nur den Bösen, deshalb bomben wir doch Gaza platt...

16:07

Hörte gerade den ersten Kuckuck des Jahres, ein Vogel, den ich in meinem Leben höchstens zwei- oder dreimal gesehen habe, meist aus einiger Entfernung. Nun ist der Kuckuck ja ein höchst merkwürdiger Vertreter fliegender Lebewesen, einer, der anderer Vögel Nester ausräumt, seine Eier hineinlegt und von artfremden Vögeln ausbrüten lässt: unverschämt, wenn man bedenkt, wie mühsam die Brutpflege ist. Wie konnte er bloß auf so eine Idee kommen, welch evolutionäres Ereignis hat ihm eingeflüstert, so etwas auszuprobieren, und was tut er, wenn andere Vögel damit beschäftigt sind, Nester zu bauen, was, wenn sie unterwegs sind, um ihre bzw. seine Brut mit notwendiger Nahrung zu versorgen? - Gibt es, fragte ich mich, als ich ihn in den hohen Blutbuchen vorm Schloss Hohenfeld hörte, auch in der Tierwelt Auserwählte, die dank göttlicher Verkündigung auf weltliches Recht scheißen dürfen, so wie es das Auserwählte Volk seit Ausrufung seines Staates gern tut? - Wieder eine Frage mehr.

 

Sa 22.05.04   13:05

Nur selten geschieht im Fernsehen Unvorhergesehenes, selbst spontanste Spontis leiern Abgekartetes, es herrscht gähnende Langeweile wohin man auch schaut. Gestern Abend dann ein plötzlicher Einbruch. Zwischen 19:30 und 20:00 schaue ich gern ein lokales Format, die Aktuelle Stunde. Da erfährt man z.B., dass die Letter Schützen im Stechschritt marschieren oder Bauer A. mit Stroh-Pellets heizt. Oder eben das Neueste vom Euro-City Fest der gerade bei der Qualifikation um den Titel Kulturhauptstadt 2010 abgebügelten Stadt Münster. Die Stadt ist über die Toppen geflaggt, Bühnen sind aufgebaut, was Gitarren halten kann, spielt irgendwo, und der Hauptact für den Freitagabend ist die Band Fury in the Slaughterhouse.
Sänger und Gitarrist werden interviewt.
Der Moderator fragt Frank, wie es denn so stünde um die Band und was er von Münster halte. Der Sänger ist natürlich nicht blöd und sagt Freundliches.
Dann wendet sich der Moderator an den Gitarristen. Ob es Höhepunkte gäbe für den Auftritt am heutigen Abend, und ob er einen vielleicht verraten wolle? -
Klar! sagt der Gitarrist. Frank und ich werden auf die PA-Boxen steigen, ich werde ein Solo spielen und dann zeigt Frank seinen Pimmel! -
Er sagt das so unschuldig, dass man ihm sofort glaubt.
Frank lacht, der Moderator zuckt zusammen, denkt Scheiße und sieht auch so aus, aber gesagt ist gesagt.
Ich habe als Vier- oder Fünfjähriger im Kindergarten mal meinen Pimmel gezeigt und wurde dafür einen Vormittag in den düsteren Kindergartenkeller gesperrt. Danach weigerte ich mich, jemals wieder in den Kindergarten zu gehen, was meine Eltern auch unterstützten.
Und Fury in the Slaughterhouse? Kriegen die jetzt Auftrittsverbot? -
Hach, sowas Unvorhersehbares freut den Mittfünfziger. Vor allem, wenn man sieht, wie alle erschrecken. Und wie wenig man braucht, um sie zu erschrecken. Herziges Format, diese Aktuelle Stunde. Großer Journalismus! Reinschauen, es gibt jeden Abend höchst Interessantes zu sehen. Unglaubliches sogar. Man würde nie von allein drauf kommen.

15:55

Nachdem sich die großen europäischer Verbrecher-Dynastien erst letzte Woche in Dänemark versammelt hatten, um eine Hochzeit zu feiern, tun sie es heute in Spanien. Und das Volk jubelt.

 

So 23.05.04   20:40

Als flüchteten sie, lassen sie die Silhouetten des Westfälischen Friedens hinter sich, flüchten vor den Widertäufern, die sich noch immer verschanzt halten hinter den Stadtmauern, flüchten ins Umland, während wir Hand in Hand ins Zentrum streben, wo die Musik spielt und Marketender ihre Waren feilbieten und lebensgefährdende Glasscherbenhaufen das Flanieren erschweren. Am Himmel ein aus rapsfarbenem Karton geschnittener Sichelmond.

 

Mo 24.05.04   11:13

Sie treffen sich wöchentlich, trommeln auf Jembes westafrikanische Weisen, und fürchten doch nur ihre eigene Herkunft. Noch immer sitzt ihnen das germanische Erbe im Nacken. Verständlich ist das, dennoch wirkt es albern, wenn junge Europäer sich afrikanisch kleiden und so tun, als läge ihnen nichts näher als z.B. die Rhythmen westafrikanischer Stämme zur Feier der Klitoris-Amputation.
Über das Jembe-Trommeln sind die Latino-Trommelgruppen ein wenig in den Hintergrund getreten, wenngleich die schon albern genug waren. Wie wäre es, in den Abfallgruben der eigenen Kultur zu graben, sich nicht zu fürchten vor deren grauenhafter Misshandlung durch die 1000jährigen Nazis, einen Weg zu finden, der eben diese Misshandlung bloß stellt, sich darüber erhebt und sich nicht mehr fürchtet, stolz zu sein auf das, woher wir kommen, was uns geprägt hat und prägt.

By the way: ein Ohrenbär entsteht.

 

Di 25.05.04   11:28

Fast im Nachsatz eines Telefonats bestätigten sich gestern meine seit dem Bücherbrunch meines Verlages in Düsseldorf weggewischten Befürchtungen. So ist eine Tür hinter mir zugeschlagen, wenngleich nicht verschlossen. Es gibt aber neue Türen und ich bin gespannt, was dahinter liegt.
Nach dem ersten Schreck bin ich guter Dinge. Ich weiß, was ich kann, ich habe heute früh zweimal gelesen, ich habe die erreicht, die ich erreichen will und bin sicher, dass ich früher oder später auch den Verlag finde, der in der Lage ist, meine Literatur angemessen zu verpacken und zu verkaufen. Die Firma wird sich noch in den Arsch beißen.

 

Mi 26.05.04   14:10

Albert 'Early' Bird war ein wenig unvorsichtig in den letzten Tagen. Hat sich beim Treffen mit den Working Worms zuviel Donnerskunk zugemutet, ist in der Nacht vom Montag auf Dienstag duhn durch die frische Nacht heimwärts geradelt, nicht sicher, wo sich Himmel und Hölle befänden, von der Straße einmal ganz abgesehen, hat dann zuhause darauf gewartet, dass die Vögel zu singen begännen, weil er hoch flog und wohl auch so begeistert darüber war, dass der Eindruck, den er bei dem ersten Konzert mit den Working Worms mit nach Hause genommen hatte, sich auf den das Konzert dokumentierenden Aufnahmen, die sie sich zusammen angeschaut hatten, rundum bestätigt hat. Es war gut. Und nun wird die Band drei Tage in ein professionelles Studio gehen, ohne einen Pfennig dafür zahlen zu müssen, denn der Pianist der Working Worms kennt jemanden, der dort seine Ausbildung macht und eine praktische Arbeit abliefern muss. Er wird das mit Albert 'Early' Bird und den Working Worms tun. Das Leben ist also schön. Auch mit 55. Und ungerecht. Und all das...

 

17:35

Es scheint, eine weitere Larve der Eitelkeit ist von mir gefallen, aber keine Angst, da sind noch genügend...

 

Do 27.05.05   10:25

Noam Chomsky: Kann man sich vorstellen, dass die deutsche Luftwaffe ihre Waffensystem "Jude" und "Zigeuner nennt, ist das denkbar?
Klaus Theweleit: Die Bundeswehr?

Noam Chomsky: Ich meine, kann man sich das vorstellen? Hier (in Amerika) gibt es "Apache" und "Black Hawk" Helikopter, "Tomahawk" Missiles und so weiter, das sind alles Opfer eines Völkermordes. (FR 27.05.04)

 

Fr 28.05.04   10:21

Er trägt eine dunkelblaue Jako Trainingshose, schwarze Stoffschuhe, eine graue Trainingsjacke mit Kapuze, eine dunkelblaue Baumwollmütze, unter der fast schulterlanges, dunkles, lockiges Haar hervorschaut. Er ist Mitte zwanzig und seit er hier aufgetaucht ist, sehe ich ihn laufend. Es scheint, dass das seine Form der Lebensbewältigung ist - eine Art Lauf-Meditation, wie auch die Benediktiner sie kennen. Ich sah ihn schon in der Stadt, ich sah ihn auf halbem Weg, ich sah ihn hier und dort und immer schien er ziellos unterwegs.
Er läuft flott.
Heute kurz vor neun stand er vor einem noch nicht geöffneten Supermarkt, wartend. Schaute auf seine Schuhe, verlagerte sein Gewicht von links nach rechts, lachte, jedenfalls schien das so, lachte in sich hinein, zeigte vielleicht auch nur die obere Zahnreihe, drehte eine kleine Runde, um die Wartezeit zu verkürzen, diese sieben Minuten, die - wenn man sie wartend verbringt - sehr lang werden können.
In einer Plastiktüte hatte er eine Flasche, ich konnte jedoch nicht erkennen, was es für eine war und beschloss, den Supermarkt hinter ihm zu betreten.
Seit ich ihn sehe, überlege ich, ob er Opfer eine Droge, einer verpfuschten Familie, einer Psychotherapie oder aller dieser genannten Horte des Wahnsinns ist, daher mein Interesse für die Flasche. Es war aber nur eine Pepsi Flasche, die er zurückgeben wollte. Eine Weile stand er noch vor einem Regal mit Ferrero-Küsschen und schien sie anzulachen. Dann gab er die Flasche zurück, sagte der Kassererin, Süßigkeiten würde er später mal kaufen, die etwas verunsicherte Frau gab ihm sein Pfandgeld, er verließ den Supermarkt und nahm seine Lauf-Tätigkeit wieder auf. Er ist ein gut aussehender Junge, den man am liebsten fragen möchte, was man für ihn tun kann. Einsam scheint er. Verloren. So jung und verloren. Das schmerzt schon beim Zuschauen.
Ich werde ihn Mütze nennen.

21:23

Zur Nacht ein kleiner Briefverkehr zwischen Verlagschef und Schreiber:

Lieber Herr Mensing,
ich darf mich auf diesem Weg nochmals für Ihre Teilnahme an unserem Bücherbrunch in Düsseldorf bedanken. Ich hoffe, Sie konnten bei unserer Veranstaltung einige nützliche Anregungen und Informationen mitnehmen, wünsche Ihnen erholsame Ferien im Sommer und einen erfolgreichen Herbst und verbleibe mit herzlichen Grüßen aus dem frühsommerlichen Wien....

Aha, dachte M., nimm dies....

Guten Tag Herr P.,
danke Ihnen für ihren Brief. So ganz glücklich war ich nicht auf dem Bücherbrunch. Und nach allem, was ich seither erfahren habe, war mein Gefühl wohl nicht unberechtigt. Schön - und als Vertrauensbildende Maßnahme sicher willkommen - wäre gewesen, Sie hätten mich dort über die Beschlüsse im Zusammenhang mit meinen Verkaufszahlen nicht im Dunkeln gelassen, statt über "male radiation" mit mir zu scherzen.

So. Das wäre das eine. Als Vertrauensbildende Maßnahme (das habe ich vergessen zu sagen) hätte natürlich auch der seit drei Jahren von Ihnen versprochene und noch immer im Raum stehende Obstler gewirkt.

In diesem Sinne
Hermann Mensing

Darauf er:

Lieber Herr Mensing,

da haben Sie recht. Und ich unrecht. Ich werde mich bessern und den Schnaps über unseren Betriebsrat, Herrn V., bestellen und Frau B. bitten, mir den Marillenschnaps bei der nächsten Frankfurter Buchmesse mitzugeben.
Ihre "Lebensbuecher" bearbeite ich von zuhause und schicke Ihnen auch von dort die Liste der Top 100.

Ansonsten: Alles Gute aus dem regnerischen und kalten Wien...

Verändert das aber nun meine Situation? - Nein. Tut es nicht.

 

Mo 31.05.04  12:36

Dass es nun fast acht Stunden würden, die wir auf dem Rad säßen und von Ort zu Ort trieben, unter weitem, hohen Himmel, mit leicht vom Dunst gefilterter Sonne, damit hatten wir nicht gerechnet. Eigentlich sollte es nur ein Stück über den gerade erst mit einigem Tamtam eröffneten Ems-Auen-Radweg gehen. Ich hatte mir vorgestellt, Münster in Richtung Norden zu durchqueren, in der Nähe des alten Kanalüberganges (eines imposanten Bauwerkes, das die Ems in etwa dreißig Metern Höhe überquert, heute nicht mehr in Gebrauch, früher die Ems-Überquerung für den Dortmund-Ems-Kanal) auf den Ems-Auen-Radweg zu stoßen, ihm bis Rheine zu folgen und von dort mit dem Zug zurück zu fahren.
Aber wie es so geht, wenn man versucht, das Land und die Wege mit seinen vielfältigen Möglichkeiten ernst zu nehmen, findet man sich plötzlich ganz woanders wieder, tauscht das feste Ziel gegen eine vage Verheißung, folgt dem alten Max-Clemens Kanal fast bis Emsdetten, fragt sich zur Ems durch und wendet sich östlich. Fährt und fährt und staunt, wohin all die Radwanderwege führen und wer alles unterwegs ist. Sitzt auf Bänken und liest in den Gesichtern vorüber fahrender Ehepaare, kann den Schweiß riechen und die Erschöpfung, sieht, dass einer fünfzig Meter voraus fährt, und eine, müde und nicht auf so eine Strapaze eingestellt, hinter ihm. Wenig später sehen wir eben jenes Paar gestikulierend auf einer Bank in den Püpkesbergen, und als wir an ihm vorbei fahren, hören wir, wie er erregt sagt, davon habe sie nun überhaupt keine Ahnung. Hochmotivierender Zuspruch also auf halbem Weg im Nirgendwo.
Schon fast wieder zu Hause sehe ich diese weiße, hundsgroße Bisamratte in den Rieselfeldern und bin restlos begeistert. Dazu quaken Frösche im Chor. Der Kilometerzähler zeigt 92,5 und es gelingt uns, an diesem Abend unsere gesamte Familie zum Essen in einem Restaurant zusammen zu bringen. Ein schöner Tag also, ein sehr schöner Tag.

 

 

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