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mensing literatur
 

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So 1.11.09   12:23

Der Ärger begann vorgestern. Die Vorgeschichte im Frühsommer vorletzten Jahres. Ich kam aus der Stadtbücherei und kreuzte den Platz vor der Lambertikirche. Dort war Flohmarkt. Gemeindefrauen verkauften, was immer sie in Kellern und Speichern gefunden hatten. Unter anderem Jacken und Mäntel.

Auf einem Bügel an einer Stange hing ein Lodenmantel. Ich befühlte den Stoff, feinstes Material, ich schaute hinein, Boss, ich war beeindruckt, Boss ist Boss und Boss kann ich mir nicht leisten, vielleicht könnte ich es, würde es aber nie tun, weil ich's dann doch zu teuer fände, gegen den Rat meiner Tante Änne, die immer gesagt hat, kauf dir was Vernünftiges, Junge.

Lange Rede kurzer Sinn: hier hing etwas Vernünftiges. Ich probierte es an, es passte, ich fand, es war wie für mich geschaffen, und kostete nicht viel mehr als eine CD.


Vorgestern wollte ich einen defekten DVD-Player zur Deponie zu bringen, zehn Minuten zu Fuß. Vor der Tür schaute ich an mir herab und sah, dass unterhalb der rechten Tasche ein Fleck auf meinem Lodenmantel war. Ich hob den Stoff an, um zu sehen, ob ich den Fleck mit Spucke wegbekäme. Und dann sah ich zwei kreisrunde Löcher daneben. Und auf der linken Seite des Mantels drei kreisrunde Löcher, alle etwa halb so groß wie ein Cent.

Motten hatten sich an meinem Mantel gütlich getan.
In all den Jahren hatten wir noch nie Mottenfraß. Das heißt, einmal, ja, im Schrank, da hatten sie mehrere Pullover erledigt, aber seitdem nicht mehr.

Und ich rette diese gefräßigen Falter auch noch, wenn sie abends wie trunken um eine unserer Lampen taumeln, blöd wie sie sind, ich berge sie in der hohlen Hand und trage sie auf den Balkon. Damit ist es vorbei. Beim nächsten Mal ziehe ich sie zur Verwantwortung. Zerlege sie Gliedmaß für Gliedmaß. Sollen sie mal sehen, was sie davon haben.


Mo 2.11.09   9:22

Wie ich mich denn fühlte, sicher besser, oder, nach knapp fünf Monaten. Damals wäre ich ja kaum ansprechbar gewesen. Aber jetzt? Er schaute mich an, als wäre er mein engster Vertrauter und ihm könne ich es ruhig sagen. Dabei verbindet mich überhaupt nichts mit ihm. Höchstens, dass ich ihn ein- oder zweimal im Jahr sehe und immer das gleiche denke. Du Idiot, denke ich, du blöder Kiffer, was weißt du und was willst du, hau ab, fahr doch wieder nach Hause, zisch ab nach Indien und lass mich in Frieden, du Amateur. Sag doch was, sagte er und ich sagte nichts, woraus er schloss, ich sei arrogant.

12:00

Aus dem Zyklus: Ich weiß nicht, was es bedeutet

71

eh die tränen trocknen
schaue ich fotos an
das spült den schmerz fort
und tut gut

wie es anderen geht
den kindern, den freunden
weiß ich nicht
ich kann nur vermuten und hoffen

sie sprechen nicht
niemand spricht
jeder lebt hinter der
von ihm errichteten mauer

14:59

Abfahrt zum Vollmondtreff alter Männer in Ostbevern.


Di 3.11.09   13.27




Bannten zwischen 19:03 und 3:23 dreieinhalb Stunden improvisierten Radau auf Karls Festplatte. Zwischendurch konsumierten wir Schnitzel, Linsensuppe, eineinhalb Kästen Bier, eine Flasche Obstler vom Bodensee, mehrere Siewissenschon, huldigten dem Vollmond und entschliefen gegen 4:00. Frühstückten gegen 11:00, hörten das vorletzte Stück, waren angenehm überrascht und verabschiedeten uns bis zum nächsten Treffen. Wann das sein wird, wissen wir noch nicht, ich nehme an, im Frühjahr 2010.

Frühere Sessions finden Sie hier....

Das Kontrastprogramm: heute abend Judith Hermann in der Stadtbücherei.


Mi 4.11.09    9:58

Es regnete, als ich in die Stadt fuhr. Der Busfahrer war Russe. Er verkaufte mir eine verbilligte Hin- und Rückfahrt. Der Lesesaal der Stadtbücherei war ausverkauft. Wie oft bei Lesungen war das Publikum vorwiegend weiblich. Judith Hermann las ohne Eröffnungsrede des örtlichen Literaturpapstes. Das Mikrofon fiepte, es wurde ausgewechselt, das andere war nicht viel besser, hinzu kam, dass Frau Hermann zurückhaltend las. Sie las schnell, zu schnell, fand ich, sie las mit kaum wahrnehmbarer Betonung, ließ Wortenden in unverändertem Tonfall in den Raum klingen, wurde aber später gerade dafür gelobt.

Das sei der Sound einer neuen Generation, zitierte der Papst.

Ich fand, dass viel mehr herauszuholen gewesen wäre, wenngleich ich auch fand, dass die vorgelesene Geschichte, in der - sieht man davon ab, dass die Protagonisten nach Italien fahren, um dort jemand zu besuchen, hierhin und dorthin gehen, dies und das tun, bis der, den sie besuchen, stirbt - nichts passiert. Sie bezieht ihren Reiz und ihre Spannung dennoch aus gerade diesen Banalitäten. Der Tod wird dabei
zu einer Nebensache im Kanon der Nebensächlichkeiten des Lebens. Bedeutungsschwanger wird es nirgendwo, und gerade das macht es tragisch. Es passiert, wie alles andere passiert. Jemand kommt und sagt auf italienisch, Konrad sei tot.

Für mich war die Geschichte damit beendet, bei Frau Hermann folgen noch ein paar Seiten.

Dann sprach der Papst. In Anlehnung an den Hölderlin-Preis, den Frau Hermann bekommen hat, sprach er von elegischer Stimmung, die ihre Texte verbreiteten und versuchte dann, ihr das aus der Nase zu ziehen, was alle allen Autoren aus der Nase ziehen wollen, die vermutete Verwandtschaft zu ihren Protagonisten, lobte den schon angedeuteten Sound, und Frau Hermann verriet, dass sie sehr viel Wert darauf lege, dass ihr Text klingt. Sie läse ihn wieder und wieder, was nichts Ungewöhnliches ist, ich tue das auch.

Das Publikum traute sich nicht, Fragen zu stellen. Ich hatte eine Frage, habe sie aber nicht gestellt. Auch ich war zu feige. Meine Frage lautete: Können Sie keine Romane schreiben? Daniel Kehlmann hat ja mit Ruhm eine konzeptionell ganz ähnliche Arbeit veröffentlich. Auch darin geht es in verschiedenen Geschichten um ein und denselben Protagonisten. Vielleicht ist das gerade modern?

Ich war natürlich neidisch. Ich habe mich gefragt, warum lesen alle Frau Hermann und nicht mich. Auch das ist im Kanon der Banalitäten des Lebens eine nicht zu beantwortende Frage. Den einen trifft es, den anderen nicht. Wenn es mich nicht bald trifft, wird es zappenduster.

Auf dem Heimweg im Nachtbus langsam aufsteigende Trauer. Aber die Tränen fließen nicht mehr so schnell, wie noch vor zwei, drei Wochen. Auch das ist banal. Das Leben geht weiter, heißt das. Mir beibt nichts, als es weiter zu leben, aber es macht keinen Sinn ohne dich.


Do 5.11.09   9:49

Foto von meiner Lesung im Bärentreff.




14:50

Sie findet es faszinierend, dass du hier warst, bei uns, mitten im Wohnzimmer. Mitten im Wohnzimmer? fragt die, die ich beim Metzger traf und deren Kinder ich früher mit unseren jeden Morgen zur Schule fuhr, als sie noch klein waren. Ja, ja, sage ich, mitten im Wohnzimmer. Schön, sagt sie, aber ich hätte Angst gehabt. Angst vor Toten, frage ich. Ja. Wieso denn? Das weiß sie nicht. Und ich weiß noch nicht, wie sie heißt. Ich habe eine Ahnung, aber ich habe den Namen noch nicht ausprobiert. Elisabeth? denke ich. Ja. Elisabeth, sagt sie, und sie weiß nur, dass sie Angst hat vor Toten, sie weiß aber auch oder glaubt zumindest zu wissen, dass das gut sei für die Toten, wenn sie nach Hause kommen, denn ihre Seelen, sagt sie, brauchen eine Weile, sich zu verabschieden, und das schaffen sie am Besten, wenn sie da sind, wo sie immer waren.

Ach das mit der Seele, sage ich, ich weiß nicht, was das mit der Seele auf sich hat, und ob es überhaupt eine gibt, also ich glaube eher nicht. Ich schon, sagt sie. Na ja, sage ich, tröstlich ist das.

Ich erzähle ihr deine Geschichte. Und dann erzähle ich ihr, was mir W. vor ein paar Tagen erzählte. Er kannte da diesen westfälischen Spruch, den ihm sein Cousin, ein in Brasilien lebender Bischof, auch ein Westfale, nach dem Tod von W.'s Mutter erzählt hatte.

De Dauden treckt de Kinners an de Foeten in't Liäven.
Die Toten ziehen die Kinder an den Füßen ins Leben.

Das hatte sie noch nicht gehört.
Ich vorher auch nicht, aber ich fand es bestätigt in vielen Geschichten, die man mir nach deinem Tod erzählte.

Wir rauchen eine. Wir trinken Kaffee. Magst du sie sehen, frage ich. Sie nickt zögernd. Ich sage, wie schön du warst, wie du Tag für Tag schöner geworden bist. Also? Ja, ja, sagt sie und folgt mir. Ich zeige ihr Fotos von dir. Sie lacht ja, sagt sie. Sie sieht aus, als ob sie lache. Ja, sage ich.

Wir gehen zurück in die Küche. Wir rauchen eine. Wir trinken einen Kaffee. Sie kauft meinen Roman. Und weil ich ehrlich bin, bestelle ich meinen Roman gleich darauf beim Verlag neu, denn das Exemplar, das ich gerade verkauft habe, gehörte zu meinen Rezensionsexemplaren.

Dann geht sie und ich bin wieder allein.


Fr 6.11.09   12:13

Falls Bilder mehr sagen als Worte, bitte ....das bin ich, gestern Abend im Berlijn Café Enschede.


Saß anschließend auf Carstens Sofa und verhackstückte mit ihm die Welt. Kamen zu dem Ergebnis, dass wir mit niemandem tauschen möchten. Für kein Geld in der Welt. Lachten viel und ausgiebig, denn es kamen Dinge zur Sprache, die man nicht jedem erzählt. Kleine Dinge, zum Beispiel: was Partner tun, eh sie einschlafen.

Denken Sie einmal darüber nach.
Was tut ihr Partner?
Gibt er akkustische Signale, und dann wissen Sie, dass er schläft?
Denkbar wäre ein tiefes Seufzen. Denkbar wären auch andere Signale.

Sprachen auch über den Geschlechtsakt und seine lächerlichste Form, den jugendlichen, den in großer Eile und Leidenschaft vollführten, der vorüber ist, eh er beginnt, der an Orten stattfindet, die so haarsträubend sind, dass man sich heute noch wundert, dass man nicht verhaftet wurde und ähnliche Ausbrüche, die man sich, älter werdend, zwar noch vorstellen kann, über die man aber lieber lachend hinweggeht, obwohl man sie nicht missen möchte.

Sondierten, was Erfolg ist und was nicht.
Fanden uns erfolgreich.

Fazit: ein gelungener Abend mit guter Musik der Peter Schillmöller 4tets mit dem Organisten Arno Krijger aus Tilburg.


Sa 7.11.09   12:01

Alte Männer machen Krach.

22:03

Alter Mann guckt Wetten Dass.

O o oooo.


So 8.11.09   10:08

Alter Mann sucht jemand, der mit ihm den Sonntag verbringt.

15:52

Verbrachte/verbringe ihn mit mir selbst. Bin gerade von einer Reise zurück. Einmal auf dem Rad weiträumig süd-südöstlich um Münster, knapp 30 Kilomenter. Aufregendstes Erlebnis: ein im Graben verrottender Rehbock, fast schwarz. Ansonsten junge/alte Menschen Frauen/Männer/Kinder auf derselben Tour: Gibmichsinn, Gibmichsinn Mantras murmelnd, aber leider gibt es den nicht, es sei, man schaltet die Vernunft ab und wird Christ/Muslim/Hindu etc. pp., dann gibt es Sinn quasi im Überflüss, ohne sieht es eher trüb aus. Da rettet man sich in Wetten Dass und fragt sich, wie man das aushält, all die Jahre, sechzig, um genau zu sein, stellt sich die nicht beantwortbaren Fragen und ahnt, dass man sie in diesem Leben nicht mehr beantworten kann. Den Rest des Sonntags werde ich in stiller Kontemplation verbringen, auf dem Sofa, denke ich, ja, auf dem Sofa mit einem Buch, denn Bücher habe ich genügend, muss nur eines finden, das zu mir spricht. In diesem Sinne also bis morgen. Morgen ist dann der große Tag: 9. November 1989, Sie wissen schon.

Bis dahin gilt: alte Männer machen Musik.


Mo 9.11.09   22:35

Er war das Bunteste, was ich gestern gesehen habe. Eine britische Ordonanz auf dem Weg von den Oxford Barracks nach Hause. Nachtblaue Uniform, Hose mit breiten roten Streifen auf der Naht, Mütze mit lackschwarzem Schirm, Schuhe gewienert, rote Schärpe und Orden, was auch immer für Orden das waren.

Wenn's nicht so ernst wäre, hätte ich mich gefreut, denn der Tag war grau und so langsam fallen die letzten Blätter. Da ich aber nicht einmal das eigene Leben verstehe, frage ich mich natürlich, wie man sich fühlt, wenn man so ein Soldatenleben führt. Wie soll man sich schon fühlen, würde er wahrscheinlich sagen, wie er da so langmarschiert, immer noch Haltung, aber dieses Soldatenleben ist natürlich kein Echtes im Falschen, es ist eine altertümliche Farce. Schade, dass wir's nicht ohne hinbekommen.

Ansonsten gilt: zu viel Dunkelheit, für alle hart.

Daher nun: Aloh Aheh,
kiffen Sie, dann tut's nicht weh
saufen Sie, dann wird es bunter,
spülen Sie es einfach runter.

Nicht mal Wein im Haus.


Di 10.11.09   12:48

Gut, die Mauer ist weg, und wenn ich der Satire glaube, die ich gestern abend sah, war das nur Teil eines Fünfjahresplanes, den Erich ausgeheckt hatte. Es ging (und geht) um die Zerschlagung des Kapitalismus. Die Mauer würde fallen, der Westen würde an den Kosten der Einheit zugrunde gehen. Aber es gab nicht nur diesen Fünfjahresplan. Als Erich längst in Chile weilte, besuchte ihn eine junge Frau namens Angela. Die beiden hatten etwas zu besprechen, einen 20 Jahresplan nämlich. Der sah vor, dass Angela irgendwann Kanzlerin würde, darüber hinaus arbeitete man weiter an der Zerschlagung des Kaptitalismus und dem Sieg des Sozialismus. Der Plan sah vor, dass innerhalb von 20 Jahren die Bankenkrise zur Verstaatlichung einiger Geldhäuser führt, dass Opel in Staatsbesitz übergeht, die großen Industrieen durch Kapitalhilfe des Bundes und der Länder ebenfalls.

Somit sind wir im Hier und Heute.

Ich lag vor zwanzig Jahren auf dem Sofa und sah alles im Fernsehen. Ich wäre gern nach Berlin gefahren und hätte mir das mit eigenen Augen angeschaut, aber meine Kinder waren vier und acht Jahre alt, ich hatte also alle Hände voll zu tun. Außerdem hatten wir kaum Geld.

Davon abgesehen aber ging und geht mir die Einheit am Arsch vorbei.
Ich bin kein Patriot, obwohl ich Deutschland mag, aber Patriotismus lag mir noch nie.
Und so lag ich also auf dem Sofa und staunte. In den Wochen vorher hatte ich als Folge steigender Flüchtlingszahlen etwas rückständig gekleidete Menschen in Schöppingen gesehen, dort waren die ersten Ossis untergebracht.

In den Wochen darauf nahm ich Kontakt zum Aufbau Verlag auf. Ich dachte, jetzt haben wir die BRD und die DDR, das ist interessant, zwei miteinander konkurrierende Systeme, mal sehen, was da zu machen ist für einen Schriftsteller.

Das Telefonieren ins andere Deutschland war abenteuerlich. Er krachte, rauschte und pfiff, eh man den Ossi an den Apparat bekam, falls überhaupt. Aber schließlich hatte ich, wen ich wollte, vereinbarte einen Termin und reiste im April des darauf folgenden Jahres nach Berlin.

Ich mochte Berlin noch nie. Berlin ist kalt und stinkt, Berlin denkt, es wäre werweißwas, dabei ist es nur Preußen und benimmt sich auch so. In diesem April waren überall Mauerspechte zugange, an jeder Ecke konnte man russische Armeemützen kaufen und Orden. Ich fuhr mit dem Fahrrad herum, über die Grenze und zurück, das machte Spaß, auch durchs Brandenburger Tor.

Im Aufbau Verlag war es sehr familiär. Jemand hatte gerade Nachwuchs bekommen, als ich eintraf. Man feierte ein kleines Fest, das Kind wurde herum gezeigt und man trank. Meine Karriere hat das jedoch nicht befördert.

19:05

Blind in die Apfelsinenkiste unterm grünen Sofa gegriffen, wo die Mixcassetten liegen.
Höre also die Crash Test Dummies, 1994. Mmm mmm mmmm.

"So sind wir wir! Voll Angst vor unserem Gefühl. Und wenn wir es spüren, glauben wir gleich, wir wären Betrüger." (aus: Zeit zu leben und Zeit zu sterben, Erich Maria Remarque, 1954)


Mi 11.11.09
 14:46

Dass ich auf einer Insel der Seligen lebe, fällt mir immer dann auf, wenn ich das Haus verlasse, um zu einer Lesung ins Ruhrgebiet zu fahren. Heute war ich in Castrop Rauxel. Die Lesung war in Ordnung, die Kinder waren freundlich und ließen sich auf die Geschichte ein, Castrop Rauxel aber ist so hässlich, dass selbst die Bibliothekarin darauf hinweist, dass sie in Bochhum lebe.

Ich kenne Bochum. Auch Bochum ist hässlich.
Ich nehme aber an, dass Menschen, die dort leben, es lieben.
Aber die Kehrseite der Liebe ist Hass, je mehr man liebt, desto gefährlicher wird es.
Castrop Rauxel ist sehr gefährlich.

Nun könnte jemand kommen und sagen, das sei eine Behauptung. Dem lege ich Castrop Rauxel ans Herz. Soll er doch hinfahren und sich anschauen, wie Architekten in den Siebzigern dort um sich geschlagen haben, wie sie Beton, Eternit und Asbest verbaut und die Fassaden mit Platten verkleidet haben und sich bis heute nicht schämen. Und dann soll er berichten. Soll sagen, wie die Strukturkrise dort wütet, wie sie die Einkommen der Menschen drückt und das Überleben schwierig macht.

Meine Heimatstadt Gronau ist ähnlich verunstaltet. Auch das ist Folge der Sünden der frühen Siebziger.

Im Ruhrgebiet versucht man zu retten, was zu retten ist. Man setzt auf die Route der Industriekultur, die interessant ist, ich habe schon einiges davon gesehen, aber die Tristesse (gut, heute war graues, tiefliegendes Wetter, das erschwert den Blick) ist groß, KiK Märkte reihen sich an Brinkhoffs Bier- und Playstuben, C&A ist zentraler Einkaufsort und das Parkhaus dahinter mit seinen Auf- und Abfahrten eher abenteuerlich, der Bushaltebahnhof ist eine plattierte Schneise im Weichbild, die Fußgängerzone eine Baustelle und es braucht Mut, dort herumzugehen.

Ich überteibe? Gut, glauben Sie, was Sie wollen. Ich weiß es.


22:29

Die Lesung war vorbei, wir sprachen miteinander, und irgendwann fragte jemand, was man mich immer fragt: wie alt bist du, wie lange brauchst du für ein Buch, wie viele Bücher hast du schon geschrieben, und schließlich das, was sie am meisten interessiert, hast du Haustiere, hast du Kinder, hast du eine Frau. Ja, sagte ich, eine Katze, zwei große Söhne, aber meine Frau ist im Sommer gestorben.

Sechzig Kinder machten Oooooooo.
Die Lehrerinnen schauten zur Decke oder sonstwohin.



Do 12.11.09   9:55

Wie verrückt die Welt ist, merke ich, wenn ich die Zeitung aufschlage und lese, die Welt befände sich nach dem Selbstmord des Torhüters Robert Enke in einem Schockzustand. Aha, so ist das, denke ich, muss sich nur ein lebensmüder Torwart vor die Bahn werfen, schon hat er weltweite Anteilnahme, der tägliche Tod aber, die tägliche Ausbeutung, der Krieg, der Hunger, all das (Sie wissen das selbst, Sie lesen ja Zeitung), lässt uns offenbar mehr oder weniger kalt.

Ich finde, man bringt sich nicht um.
Ganz gleich was ist, man bringt sich nicht um.
Selbstmord ist eine Unverschämtheit gegenüber den Überlebenden.

Wenngleich ich gestehen muss, dass ich mich vor vier Nächten um ein Haar auch umgebracht hätte. Ich lag im Bett, als mein Blick auf den uralten Wechselrahmen fiel, der links über mir an der Wand hing. Darin das Mädchen mit dem Perlenohrring, ein Bild, über das ich mich jeden Abend freue. Aber das Glas war schräg nach unten durchgesackt, offenbar waren Klammern des Rahmens kaputt.

Ich stellte mich aufs Bett, versuchte eine Reparatur, ohne Erfolg. Da ich sicher gehen wollte, dass das Bild nicht in der Nacht herunterfällt, nahm ich es von der Wand, um es neben mein Klavier zu stellen. Beim Hinuntersteigen vom Bett geriet ich ins Straucheln, fing mich, stolperte über meine Pantoffeln, stieß gegen den Klavierschemel und dachte schon, jetzt, aber dann schaffte ich noch die Balance, der Rahmen zerbrach nicht in spitze Scherben, die Scherben bohrten sich nicht in Hals, Bauch und sonstwohin, Max stand im Flur, vom Krach des umstürzenden Hockers alarmiert, aber ich konnte entwarnen.

Das Leben hatte gesiegt, darüber freut sich der Mensch.

10:10

Schönes Beispiel für Nerd-Kommunikation:
Weiß jemand, ob der PS3 Slim Browser mit bong.tv zurechtkommt, bzw. ob H.264-Video gestreamt werden kann?
Wahrscheinlich ist das ein Gedicht.

10:59

Erfahre gerade, dass der Nerd kein Nerd, sondern ein Geek ist. Was'sdasnuwieda?

13:42

Heute Nacht erwachte ich. Mein erster Gedanke: wo ist meine Unterkieferprothese? Sie war weg. Ich machte Licht. Der Radiowecker zeigte 4:46. Ich dachte, okay, weit kann sie nicht sein, warf einen Blick hierhin und dorthin, sah sie nicht, überlegte, löschte das Licht und dachte, morgen früh.

Dann begann mein Magen zu rumoren und ich glaubte kurz, dass ich sie verschluckt haben könnte, aber davon wäre ich doch wach geworden, oder? Ich machte Licht. 5:10. Ich dachte, egal, jetzt suche ich sie. Hob alles an, was anzuheben war, drehte alles um, was umzudrehen war, wollte schon das Bett auseinanderbauen, als ich sie endlich fand.

Legte mich hin und schlief erleichtert wieder ein.
Das Leben älter werdender Menschen ist manchmal unschön. Nur dass sie das wissen, denn es wird Sie ja auch irgendwann einholen. Vielleicht aber auch nicht. Manche sterben ja, eh der Alterswahnsinn losbricht. Bis dahin also viel Vergnügen.

19:10

Der, den es auch erwischt haben könnte, ist zuhause und versucht, die Schrecken der letzten acht Wochen, davon 10 Tage im künstlichen Koma plus zwei Chemos, zu vergessen. Aber er ist noch lange nicht übern Berg. Die nächsten Chemos sind schon terminiert. Ich war neidisch, als ich erfuhr, dass er lebt. Neidisch und glücklich, dass er's geschafft hat.

Ich fahre morgen nach Gäufelden, das liegt kurz hinter Stuttgart.
Wir produzieren dort einen Podcast zu Pop Life. Sonntag bin ich zurück.


So 15.11.09   21:54

Sehr entspanntes Wochenende in Schwaben. Morgen mehr.




Mo 16.11.09   9:55

Im Reihenendhaus gibt es ein Siebzigerjahre Sofa, es steht über Eck, an einer Stelle eine Stehlampe: eine rote Scheinwerferimitation mit verstellbaren Klappen an allen vier Seiten, um die Richtung des Lichts zu verändern. Darunter saß ich fast die ganze Zeit meines Aufenthaltes in Gäufelden und las.

Mehr war eigentlich nicht zu tun, denn der Gastgeber war im weltweiten Netz unterwegs, die Aufnahmen des Podcasts waren gelungen, er musste sie schneiden, und weder er noch ich hatten das Gefühl, irgendetwas Drängendem nachgehen zu müssen, bis auf das Essen hin und wieder, und das war gut so.

Dazu ringsum die Stille des schwäbischen Ländles zwischen Schwarzwald und Schwäbischer Alp, vierhundert Meter überm Meer. So saß ich also, las Berlin Endstation von Edgar Hilsenrath zu Ende, und begann mit Der Man schläft von Sybille Berg.

Ich kenne Frau Berg seit Jahren von ihren Rundbriefen, die sie Monat für Monat aussendet, schlampige Banalitäten über alles und nichts. Da sie eine dicke Freundin von Else Buschheuer ist, auch Ossi, habe ich sie stellvertretend für alle Ossis, die ich nicht kenne, gehasst, zumindest aber nicht wert geschätzt.

Vor etwa einer Woche sah ich sie dann auch noch im Fernsehen und sah mich bestätigt: sie hat gehörig einen an der Waffel. Sie ist von oben bis unten verholzt, sie wird höchstwahrscheinlich an ihrem Zynismus sterben, aber das macht nichts, Der Mann schläft ist ein hoch wirksames Buch über die Unmöglichkeit des Lebens, der Liebe und des Sterbens, wie es ausgeht, weiß ich noch nicht, ich ahne es nur, das alles aber nur zum Auftakt, denn die Ereignislosigkeit der letzten vier Tage beginnt ja erst jetzt.

Sie beginnt mit Aktion, natürlich, denn wer sich entspannen will, muss zunächst einmal eine Situation herstellen, die das ermöglicht. Ich wusste nicht, was mich in Schwaben erwartet, aber ich hatte den Wecker gestellt. Und wie immer, wenn ich einen Wecker stelle, bin ich eine halbe Stunde zuvor schon von selbst erwacht. Bin aufgestanden, habe mir ein Frühstück zubereitet und beobachte den träge heraufziehenden Morgen mit leichtem Unbehagen.

Der Bus, mit dem ich am Freitag zum Bahnhof fahre, ist noch fast leer, aber das Elend der Gegenwart sitzt neben mir, nickt immer wieder ein, ist nicht erfolgreich, hat keine Freundin, hat einen Beruf (immerhin) der ihn nervt, er hat keinen Geschmack, so dass jeder, der ihn sieht, sofort genau das denkt, was ich gerade aufgeschrieben habe.

Im Intercity nach Stuttgart häufen sich dann die Auftritte derer, die glauben, dass sie erfolgreich sind, sie tragen ihre geschmacklosen Geschäftsanzüge und starren auf die Displays ihrer Handys und Laptops, lesen Zeitung oder sind eingenickt, eh sie richtig sitzen.

Draußen zieht die Welt grau und unentschlossen vorüber, sechs Stunden wird das so gehen.

In Stuttgart bin ich zunächst erschüttert, denn so hatte ich mir den Bahnhof einer doch recht großen Stadt nicht vorgestellt, drei Bahnsteige, denke ich, lächerlich, aber als ich dann in die Halle komme, stelle ich fest, dass ich nur einen Ausschnitt des Ganzen gesehen hatte, Stuttgart hat einen Sackbahnhof, und man diskutiert schon seit Jahrhunderten, dies zu verändern, indem man ihn tiefer legt und quasi unter der Stadt durchführt. Die Verwirklichung dieses Planes kann aber noch dauern.

Ich trinke Kaffee, ich schaue, ich schaue, ich trinke Kaffee, und dann denke ich, jetzt rufe ich dich an und sage, was ich tue, aber das geht nicht, du bist tot. Ich denke, die Zeit der Sentimentalität ist vorbei, der Tod will sie nicht, das Leben will sie nicht, das Leben ist gleichgültig, hundsgemein, das Leben ist gütig, voller Liebe und Hass, das Leben ist jeden Augenblick unberechenbar und kann sich Sentimentalitäten nicht leisten, deshalb verzeih, ich grüße dich, ich liebe dich, aber du bist nun mal tot und ich lebe.

Die Regionalbahn zuckelt davon, das Land ist kurzwellig, man kann weit schauen und wenn man weiß, was man sieht, sieht man die Ausläufer der Schwäbischen Alb und des Schwarzwaldes. Und dann ist man nach einer halben Stunde da, wo man hin wollte, in Gäufelden. Man wird abgeholt. Man setzt sich aufs Sofa. Man liest.

Zum Essen geht man Freitagabend in den Goldenen Hirsch, Käsespätzle und einheimisches Bier. Zum Geldziehen geht man zur Kreissparkasse und stellt erschüttert fest, dass die revoltierende Dorfjugend offenbar keinen Versammlungsort hat, außer den Vorraum der Sparkasse, in dem sie sich trifft und Zigaretten raucht, dass man kaum die Hand vor Augen sieht. Aber die Dorfjugend ist freundlich und versichert, sie sei über sechzehn.

Wieder zurück im Haus reihe ich mich schnell ein und werde Personal für die dort lebenden zwei Kater, die entweder das Haus verlassen oder betreten wollen, je nachdem. Die Zeit verstreicht angenehm ereignislos, so ereignislos ist sie mir lange nicht mehr verstrichen, und das Tolle daran ist, dass ich es liebe.

Am Samstagmorgen gehen wir zum Metzger, zum Bäcker, wir frückstücken und machen uns daran, den Podcast aufzunehmen. Die ersten zehn Minuten schreddern wir mit hysterischem Lachen, dann kommen wir in die Spur.

Am Nachmittag sind wir in Tübingen. Eine hübsche Stadt. Fast schon zu hübsch, zu behäbig, da kommt Münster nicht mit, und dann sprechen auch alle noch dieses Schwäbisch. Ich höre es nicht ungern, aber ischt zu sagen statt ist, ischt schon merkwürdisch, odda?

Ja, äußerst äußerst merkwürdig, aber was soll's, es erinnert mich nur daran, dass mir die Welt fremd ist, ich bin mir fremd, die anderen sind mir fremd, es kommt fast einem Kulturschock gleich, wenn man seine Wohnung verlässt, um wohin auch immer zu reisen.

Am Abend ist der Goldene Hirsch ausgebucht. Wir essen im Sportheim Rosengarten, da gibt es, wenn man Jägerschnitzel bestellt, drei große Stücke Fleisch, Sauce und Pommes, man kann so viel natürlich nicht essen und lässt sich die Reste einpacken.

Am Sonntagmorgen stolpere ich gegen neun nach unten, um mir einen Kaffee zu machen und treffe auf zwei mir unbekannte Menschen meines Alters, die mir freudig erregt entgegen lachen. Mein Gastgeber steht auch da, also denke, wird es schon in Ordnung sein, und dann stellt sich heraus, dass es sich um M. und seine Frau U. handelt. Überraschung. Ich kenne M. seit Jahren, habe ihn aber noch nie getroffen, und so sitzen wir also an diesem Sonntagmorgen, alles ist getan, ich werde Schwaben um 14 Uhr wieder verlassen, bis dahin frühstücken wir und plaudern, dann bunkere ich ein paar Flaschen Wulle Bier, entere den Zug und verdämmere die Rückfahrt.

16:09

Mensing (nicht Heidi) happy





Di 17.11.09   11:49

Er raucht. Er hustet. Das klingt nicht gut, sage ich. Macht nichts, sagt er, soll ich meiner Frau etwa als Pflegefall zur Last fallen? Ich weiß nicht, sage ich. Lieber vorher, sagt er und inhaliert. Außerdem, mein Bein ist viel schlimmer, irgendwann nehmen sie mir das ab. Klar, sage ich, erst das Bein, dann einen Lungenflügel, herzlichen Glückwunsch.

Ich hab ihn schon mehrfach jenseits gesehen, aber er ist immer noch unter den Lebenden.
Mir wäre lieber, er wäre weg und du wärst noch da.

Da, wo ich vorgestern war, in Gäufelden, in Schwaben, gibt es einen Bildhauer, der sich ein Gesamtkunstwerk baut. Er wohnt mittendrin und heißt Lutz Ackermann. Wir gingen dort spazieren und ich dachte, das ist ein schöner Platz.

15:28

Ich bin müde und lustlos. Dabei wüsste ich schon, was zu tun. Stattdessen versuche ich, den alten Mann ein wenig zu genießen. Schließlich habe ich Rechte.

16:43

Romananfang 12

Herr Merz zum Beispiel, Karls Chef. Agil. Rundes Gesicht. Irgendwie freundlich, wäre da nicht dieser Zug um den Mund. Beiden hatte ein Blick genügt. Karl hätte gehen können, aber wer geht schon, wenn er sich zwei Jahre bewirbt, nicht verzweifelt und dann einen Brief bekommt, in dem steht, er solle sich vorstellen.
Glück gehabt, dachte Karl. Ich ziehe das durch, dachte Karl. Ich bin ja ein Held, es hat nur noch niemand gemerkt. Aber jetzt würde er das beweisen, auch wenn Krise ist.
Die Zeitungen waren voll davon.
Karl weiß nicht mehr, wann das angefangen hat mit den Krisen. Er hat auch vergessen, welche Krise es war. Krisen jagten einander, seit er auf der Welt ist.


Mi 18.11.09   10:18

Der Anrufbeantworter blinkte. Endlich, dachte ich. Jetzt. Sofortiger, raketengleicher Aufstieg in den Himmel der Wahrgenommenen, um dort eine Weile zu kreisen (etwa 15 Minuten), und anschließend von irgendeinem Literaturheinz, dem nie ein originärer Satz über die Lippen gekommen ist, abgeschossen und in die Tonne getreten zu werden.

Egal, dachte ich.

In diesen fünfzehn Minüten würde ich soviel Euro einsacken, dass es mir egal sein könnte, denn die Welt, das weiß ich nach 60 Jahren, ist ein korruptes Arschloch, in das jeder kriecht, der eine früher, der andere später, er muss sich vielleicht ein bisschen überwinden, aber das macht nichts, der Schmerz ist nur kurz, danach wird es dunkel, es stinkt, aber das Bankkonto kumiliert zu vorher nicht gekannter Potenz.

Warum ich das dachte?
Weil ich so einen Anruf seit 60 Jahren erwarte.

Ich bin nicht resigniert, ich habe Pläne, ich weiß wie Schicksal geht, ich lebe in Trauer, ich stelle mit jedem Tag deiner Abwesenheit fest, dass es nie mehr sein wird, wie es war, aber das ist auch nicht mehr als ein Allgemeinplatz, der Schmerz ist eine reziproke Empfindung, je länger er anhält, desto leichter ist er zu ertragen, was schrecklich ist, denn man glaubt doch zunächst, dass er einen tötet, dass er einen würgt und den Schlaf raubt, das alles glaubt und spürt man, dann erwacht man und weiß, dass es nicht so ist, dass es nur eine Weile so geht, bis man ernüchtert, beschämt und ratlos feststellt, dass die Tränen, die man geweint hat, plötzlich spärlicher fließen, und dann gibt es sogar Momente, in denen man nicht mehr weiß, worum man eigentlich weint, und ob man nicht vielleicht nur das Mitleid der anderen will.

Grässlich das Leben, ein Ort, den ich nicht wollte, ein Ort, den ich nur betrat, weil Eltern, die ich nicht kannte, an jenem Tag nichts Besseres vorhatten, und schon bin ich da, werde bestaunt und beklatscht, werde eingeschult und muss rennen. Renne wie ein Idiot, und in dem Augenblick, wo ich mich entschließe, mein eigenes Tempo zu gehen und selbst zu denken, wird es noch komplizierter, denn das ist nicht gewünscht.

Macht aber nichts, denn bei aller Verzweiflung habe ich gelernt, dass das Leben nicht dazu da ist, zu trauern, zu verzweifeln, das Leben will gefeiert werden, und so feiere ich still jeden Augenblick, der sich anbietet.

Der Anrufbeantworter sagt, kommen sie am Dienstagabend um 19:30 zum Hauptbahnhof.

Ich bin da. Und dann kommt die Schwester, die beiden Neffen kommen auch, der eine wird 45 und der hat das ausgeheckt, der sagt, wir gehen jetzt in die Table Dance Bar gleich um die Ecke, ich denke, dazu bin ich zu kleinkariert, das überstehe ich nicht, soll ich jungen Frauen Geldscheine in den BH schieben, aber dann stehe ich vor dieser Bar und sie hat geschlossen und der Neffe sagt, April April, war ein Scherz. Ich atme auf.

Eine halbe Stunde später sitze ich im GOP Varieté gegenüber und sehe drei junge Comediens auf der Bühne. Ich bin kein Schenkelklopfer, aber sofort stellt sich ein, was sich gern einstellt, wenn ich Menschen live beobachten darf, Menschen, die auf Bühnen Kopf und Kragen riskieren, ich beginne zu schmunzeln, ich lache und vergesse, dass ich diesen Anruf erwarte, ich vergesse, dass ich trauere, ich vergesse fast alles, um es in dem Augenblick, wo der Vorhang sich schließt und ich wieder hinaus muss in die wirkliche Welt, um so schmerzlicher zu erinnern, ich fahre mit dem Bus durch die Nacht und verstohlen rollen paar Tränen und ich lege mich ins einsame Bett und ahne, dass da nie wieder jemand liegen wird, wer sollte auch schon, und wie sollte das gehen, da müsste schon etwas geschehen, das nur selten geschieht, eine mächtige Bewegung müsste vorangehen, einem Erdbeben müsste das gleichkommen, dass ich akzeptieren könnte, dass es nicht nur einmal im Leben so etwas geben kann, sondern auch zweimal, dreimal, viele Male.

Nein, denke ich, mit mir wird das nicht funktionieren. Ich will es nicht, ich kann es nicht, ich fühle mich täglich wohler mit meinem Schmerz und der Einsamkeit, ich will die Idioten ringsum nicht mehr sehen, ich will ihre Fragen nicht mehr hören, ich will nicht hören, ob es mir gut geht und was ich so treibe, ich will nur still sitzen und nur noch ausgewähltes Personal an mich heranlassen, tausendprozentig vertrauenswürdige Menschen, und die gibt es nicht, mich eingeschlossen, jeder ist ein Verräter.

Und so schlafe ich ein. Und so erwache ich, sitze schon am Klavier, das jetzt neu gestimmt und gerichtet, wundervoll klingt, und so sitze ich also, der Morgen ist windig, ich dilettiere auf 88 Tasten und die Nachbarin glaubt, ich spiele Bridge over troubled water.


Do 19.11.09   15:17

Sie haben Motorsägen und schrecken vor nichts zurück. Sie beenden Leben, werfen die sterblichen Überreste auf Ladeflächen und fahren in die Stadt. Sie suchen die hässlichsten Orte, den Ägiidi Markt etwa, Münsters urbane Katastrophe, ein öffentliches Groß-WC aus den Siebzigern, das sich als Einkaufszentrum tarnt, zerren die Leichen vom LKW und tackern sie gegen Säulen, Wände und an Laternenpfähle. Was nicht passt, wird passend gemacht. Sie nennen das Weihnachtsdekoration. Ringsum bauen sie Hütten. Das nennen sie Weihnachtsmarkt. Die da herumlaufen und Nutzloses kaufen, nennen sich Menschen. Man muss sich vor ihnen schützen. Man darf da nicht hingehen, sonst läuft man Gefahr, verrückt zu werden.


Fr 20.11.09   12:54

normal null 1 gedichte

hätte wohl
heute hack konsumiert
wären nicht weitere einzelheiten
bekannt geworden bezüglich
gereifter entschlüsse hinsichtlich
zukünftiger hackordnungen
und konzeptioneller neuausrichtung
der schlachtgewohnheiten
hiesiger schlachthäuser
habe daher verzicht geübt
und beschlossen
hack nur noch von fern zu betrachten
statt frikadellen daraus zu formen
hoffe, der welt damit zu dienen
den weltfrieden zu befördern
das glück der menschheit zu multiplizieren
da es sich bei ihr um eine
schnappsidee der evolution handelt
sind andere schlüsse nicht länger haltbar
alle ist bedacht, alles ist gedreht und gewendet
viele nächte sind sinnlos verschlafen
viele tage mit mühsamem nichtstun vergeudet
viele gebete gebetet
die nicht erhört endlos im all irren
und suchen und suchen und hin und wieder
mit weltraumschrott kollidieren
sonst jedoch fehlanzeige
kein gott weit und breit
wie gesagt: alles evolution
und wir die einzigen
die täglich verkacken
und trotzdem vom gegenteil überzeugt sind
ich beuge mein haupt beschämt
und erbreche.


22:22

normal null 2 gedichte

da steht sie
der trubel ist schon fast los
oder die tun nur so vor lauter vorfreude
das weiß man nie
sie steht da
ich erkenne sie kaum
blond, bisschen komisch
wo ich sie doch so lange schon kenne
mit gesplissenem haar
ach hallo sage ich
und sie sagt ach hallo
komm doch mal wieder vorbei
besuch uns

oh ich käme schon gern
aber weiß nicht recht
wie herum links oder rechts
durch die mitte ich weiß nicht
zack hält ein bus
sie muss einsteigen
fährt

ich besuche sie nicht
was soll ich sagen
dass es mir gut geht oder
dass es den kindern gut geht
oder dass es langsam besser geht

neee, ich fahr da nicht hin
die hocken in ihrer getackerten hütte
schauen nicht raus, kiffen
und gar nichts bewegt sich
nicht mal die gardinen

nee, ich will das nicht sehen
ich will nur noch spiegel zerschlagen
und kopfsprünge springen
viel zu lange habe ich still gehalten
und die decken, die mir jetzt auf den kopf fallen
wärmen sogar, allerdings: immer nicht


Sa 21.11.09   9:49

normal null 3 gedichte

sie singt
der nikolaus
klammert sich an eine dachrinne
der nachbar
fragt gesteck oder kranz
kranz sage ich

es ist
eingeläutet
es ist wieder zeit
das winterleuchten beginnt
und sie singt

die sonne kriecht von hinten heran
der postbote taucht in die nachbarschaft
wünsche fliegen in jede himmelsrichtung
meine sind auf und davon
ich leuchte nicht dieses jahr
meine flügel sind in flammen davon
ich habe nicht ausgeträumt
aber alles verloren
eine ganz normale geschichte

komm trink mit dir
trink mit mir bis der kopf springt
und dann aufs eis
still erfrieren
wie wäre das

sie schwebt heran
sitzt auf dem dachfirst gegenüber
schaut singt
singt für mich und für dich
weiß wohl nicht was passiert ist
hat andere sorgen

der himmel spannt sich blau
in alles was einmal war und vorbei ist
anfangen jetzt singt sie
immer am ende anfangen und nicht aufhören
bis es aufhört

15:44

16 Grad Celsius, Zeit für ein Gedicht..


sie fährt auto
in der kurve tastet ihre zunge
die entsprechende ecke
und jetzt hat sie's geschafft
plötzlich kracht es
ein kind
sie bremst
springt aus dem wagen
sieht einen arm
fährt zurück und fährt nochmal drüber

aber immerhin
das kind liegt jetzt nicht mehr unterm auto
man kann es sehen
sie schreit
das kind schaut sie an
kleine flügel wachsen
und es fliegt davon und setzt sich auf eine birke
alles schreit ruft polizei krankenwagen
das kind hockt auf der birke und flattert
noch tage später sitzt es da oben
man beerdigt es aber es sitzt da
und sitzt und sitzt und sitzt
und die pastoren wissen nicht was sie tun sollen



So 22.11.09  10:47

Die Lesung aus Pop Life lief rund, bis ich zu Seite 209 kam:

"Als sie die Bergstation der Funicolare erreichte, dachte Hans, dass das Leben nichts wert war ohne Hannah, dass das Leben, sein Leben, nur drei Epochen gekannt hatte, das Leben vor Hannah, das Leben mit Hannah und das Leben ohne sie. Alles andere, die Affären, das tierische Hecheln, das Sich-lächerlich-Machen in den Armen Dahergelaufener, all das mochte für Augenblicke die Erinnerung erheitern, aber es war ohne Gehalt, leer, nichts als Attrappe."

Mir stockte der Atem. Ich verlor die Fassung und brach ab. Applaus.

11.43

normal null 5 gedichte

gestern noch frühling
weht heute ein strammer südwest
und erinnert daran
dass die welt schön ist
und man nichts anderes tun kann
als sie zu lieben
also liebt man sie
mehr als sein leben
liebt sie so lange
bis sie um sich schlägt
weil sie nicht mehr atmen kann

und schon hat man wieder etwas falsch gemacht
wie man immer alles falsch macht und falsch sagt
und wenn man sie dann einlädt zum essen
und sagt verzeih liebe liebe
verzeih liebe welt
sagt sie dass es darum nicht gehe
es gehe im großen und ganzen
um nichts und das sei schon mehr als genug
sei mehr als ein mensch verstehen könne
denn sie verstehe ja auch nicht
worum es geht

12:42

Zadie Smith: FAZ 22.11.09

Die Beziehung zu Eltern ist immer schwierig, egal, wie sehr man sich liebt. Die Eltern kommen zu Besuch, man hat die besten Absichten, aber sobald sie über die Türschwelle getreten sind, will man sie umbringen, weil sie irgendetwas Gutgemeintes sagen. Es ist einfach nicht leicht, die Beziehung zu Menschen forzusetzen, die dir auf gewisse Weise aufgezwungen sind.

12:54

Gestern um 19:40 habe ich meine Fingernägel sauber gemacht, bin ich los zur Lesung, habe gelesen, anschließend noch ein Bier getrunken in der Guten Quelle, bin nach Hause gegangen, habe einen hoch energetischen Boxkampf gesehen, einen, wie ich ihn lange nicht mehr gesehen habe, heute früh bin ich aufgestanden, habe Brötchen gekauft, sitze jetzt, frühstücke, lese die FAZ und meine Fingernägel sind schmutzig. Woher kommt das?

13:14

Mein Interview im Literaturcafe ist seit Erscheinen am letzten Montag 1748 mal heruntergeladen worden. Und, merke ich das an Verkaufszahlen? Nein. Der Titel stimmt also.

13:50

normall null 6 gedichte

sie hat löcher
in meinen mantel gefressen
und meinen pullover
an ihre brut verfüttert
taumelt durch die küche
zur lampe zu dumm
schamloses biest
dir zeig ich jetzt
was die harke ist
mit dem küchentuch
schlage ich dich aus der luft
reiß dir die flügel ab
die bestäubt braun zarten flattern
für deine ausflüge ins schwerelose
das hast du davon
wisch mir den staub von den fingern
rufe eine warnung an alle
das habt ihr davon
du bist nicht die letzte
ich hab's mit lavendel versucht
aber ihr wolltet nicht hören
also bitte


Mo 23.11.09  9:31

normal null 7 gedichte

um ein haar
hätte es mich vom rad geweht
pudelnass wäre mir nichts
als ein plätzchen
bei fleischlos lebenden
liebevoll gurrenden frauen geblieben
die mir den kopf gekrault hätten

bist ein guter
hätten sie gemurmelt
sich gewundert
dass so ein hübscher allein unterwegs ist
wo kommst du her
hätten sie gefragt
kein frauchen, kein herrchen

ich hätte gebellt
das ginge sie gar nichts an
guter hund
hätten sie insistiert

ich hätte geknurrt
hätte die rosige dicke
am finger erwischt
und die hagere an der wade

dann wär geschrei gewesen
man hätte den doktor gerufen
doch bis der käme
hätte ich fleischwunden gerissen
eine nach der anderen

so ein blutrausch
ist was feines
wenn der ausbricht hat's art
da ist die schweingrippe ein furz
denn so einer wie ich
kann zähne zeigen

dann wäre ich ausgebrochen
heute stünde überall in der zeitung
dass ich gefährlich bin
so und so aussähe
und man mir besser nicht nahe käme
von wegen tollwutverdacht

dabei wollte ich nur meine ruhe
das bisschen regen und sturm
hat mir nichts ausgemacht
ich wollte nur rennen
mit quietschnassem fell den mond anheulen
der hinterm sturm auf mich wartet
und dich wiedersehen
sonst nichts


14:08

normal null 8 gedichte

der mann hat kein haar

die frau hat es ausgezupft
und tee draus gekocht
aber der schmeckte nicht
da hat sie den mann auf ein sofa verbannt
dort muss er liegen
bis neues haar nachwächst
sie kommt morgens und abends
und kontrolliert
aber dem mann wächst kein haar
die glatze glänzt
der regen vorm fenster zieht schlieren
der mann liegt und regt sich nicht
sagt keinen Ton
wüsste nicht
was zu sagen wäre
falls etwas zu sagen wäre
er liegt
der regen wird stärker
die frau ist ratlos
und überlegt
ob sie den mann verkaufen soll
bei ebay denkt sie
aber wer will schon so einen mann
der nur auf dem sofa liegt
und kein haar hat
also schlachtet sie ihn
und macht wurst draus
aber die wurst
schmeckt dann auch nicht
und da geht sie
und kauft einen neuen mann
der hat glänzendes haar
und kann sprechen

21:57

Früh einkaufen, gelesen, alte Flaschen weggebracht, gelesen, Gedichte überarbeitet, unter der Decke gelegen, gelesen, geschlummert, gedacht, wird nix mehr, vergessen, Kaffee für zu kaufen, gekocht, gegessen, gespült, gesessen, gelesen, Gedichte überarbeitet, Baader Meinhof 2 gesehen, was für ein hilflos gewalttätig, hirnloser Wahnsinn, soll ich noch telefonieren, nein, lieber nicht, unter die Decke, draußen immer noch Sturm, die Jalousien zum Schutz heruntergelassen, das macht die Sache ein wenig klaustrophobisch, versteh nicht, wie Menschen immer so leben können zur Nacht, wird aber nicht ewig dauern, morgen früh wenn Gott will undsoweiter, jetzt wieder lesen, schlafen, aufstehen, und darauf warten, dass mir etwas einfällt, irgendetwas, das Sinn macht, egal was, ganz egal, und wenn es nur Sonne ist und ich hinaus kann, das wäre schon etwas. Ruft doch an.

Di 24.11.09   10:31

normal null 9


der mann gähnt
dabei fliegt etwas aus seinem mund
kreist um die lampe
kichert
setzt sich auf den rand der kaffeetasse
und beschimpft ihn

der mann ist empört
der mann sagt
sagen sie
kennt man da
wo sie herkommen
keinen anstand

doch sagt das ding
man kennt dort alles mögliche
aber ich dachte
es wäre interessant
einmal das gegenteil auszuprobieren

soso sagt der mann
ich fürchte
da sind sie bei mir an der richtigen adresse
zögert nicht
greift das ding
will es mit dem tauchsieder töten

aber das ding ist stärker
es tötet den tauchsieder
und in folge den mann
die dicke katze
es macht
dass die letzten blätter vom baum fallen
es kann sturm und gewitter
es verursacht ein verkehrschaos
es macht
dass die bauarbeiter
reihenweise von den gerüsten fallen
und die kirchenglocken aus ihren verankerungen reißen
und da natürlich jetzt viele mit offenen mündern dastehen
fällt es dem ding ganz leicht
spurlos zu verschwinden

11:39

normal null 10

hände hoch
ausziehen
hinlegen
sagt der inspektor für lebensfragen
sie sind angeklagt
wie
fragt man
und zieht unbemerkt
ein manuskript aus der tasche
einen kontoauszug
und einen kaufvertrag
für ein auto mit bad

der inspektor wirft einen blick
aber der verliert sich im staubsauger
mit dem der mann hantierte
eh der inspektor kam
und nun weiß er nicht weiter

aber ich habe doch sagt er
schon möglich sagt der mann
der am boden liegt
aber sie hätten und das haben sie nicht

scheiße sagt der inspektor
sehen sie sagt der mann
vielleicht einen kaffee auf den schreck
der inspektor errötet
im dienst sagt er dürfe er nicht
ach kommen sie
sagt der mann
hat ja keiner gesehen

13:33

normal null 11

der buchhändler
schaut den karton an
und mich
fragend
vier sage ich
vier fragt er wie
vier sage ich
vier von zwölf
also 25 prozent
hmm macht er
gar nicht schlecht
meine rede sage ich
hat sich das lebensende
für heute erledigt

15:40

normal null 12

ätsch
ruft der mann
er hat lange gelebt
und erlaubt sich zum kaffee
drei frauen
er hat scheine
und die frauen haben nichts gegen männer
die scheine haben
ätsch
sagt der mann
wir sind unter uns
hört einen augenblick zu
ein mann wie ich
hat zu lange gelebt
deshalb ist sein zustand
nicht beneidenswert
aber da er überlebt hat
muss er ja irgendwas anstellen
um nicht zu verblöden
da er nicht fernsieht
nicht golft und nicht skat spielt
da er politik nicht versteht
und schon gar nicht sich selbst
geschweige denn liebe
will er mit euch kaffee trinken
und plätzchen essen
sonst nichts sagen die frauen
nein sagt der mann
das ist seltsam sagen die frauen
sollen wir denn nicht na sie wissen schon
nein sagt der mann sollt ihr nicht
ihr sollt nur ein lied singen
ein lied sagen die frauen
wir können kein lied
ach sagt der mann
singt ein lied auf falsche zähne
auf die erschlafften glieder
ein lied auf männerbrüste
und bandscheibenvorfälle
das könnt ihr doch oder

ps.

sie konnten es gut
und der mann hatte
freude
was nicht zuviel verlangt ist
für einen mann mit scheinen


Mi 25.11.09 11:08

Romanfang 13

Vor ca. 60 Jahren hatte ich mich aufs Sofa gelegt hatte, um zu schauen, wie das Leben funktioniert. Eine Weile nagte das schlechte Gewissen, aber das hörte bald auf, von einem Tag auf den anderen sah ich keinen Grund mehr, eines zu haben, denn die Welt würde auch ohne mich weitergehen, ich war eine temporäre Erscheinung, und je weniger ich mich einmischte, desto besser wäre es, hatte ich damals gedacht, hatte das Kissen aufgeschlagen, mir eine Decke über die Nase gezogen und gedacht, das, was ich jetzt sehe, sehe ich alle Tage und es wird sich kaum etwas ändern, mal sind Blätter an den Bäumen, mal nicht, mal scheint die Sonne, mal nicht, undsoweiter.

Das war eine schöne Erkenntnis, ich nahm das Glöckchen und bimmelte einen Kaffee heran, nahm das Glöckchen und bestellte Essen, denn Kaffee und Essen und Trinken, das brauchten selbst temporäre Erscheinungen.

So also lag ich und lag und die Welt veränderte sich, mal ging es schnell, dann ging es langsam, mal wurde hier geschossen, dann dort, und als ich eines Tages doch aufstand, weil ich glaubte, es sei an der Zeit, frische Luft zu schnappen, stellte ich fest, dass ich niemanden kannte, was nicht verwunderlich war, denn ich kannte ja niemanden.

So beschloss ich, mich wieder hinzulegen, mich fröstelte ein wenig bei dem Gedanken, dass man mich vielleicht einer Prüfungen unterzog, ich
dachte, vielleicht gibt es einen, der das alles aufschreibt, weil ja die temporären Erscheinungen dieser Welt ständig Geschichten produzierten, die Einfluss hatten oder auch nicht, und da fröstelte es mich noch mehr, denn was würde wohl drin stehen in so einem Protokoll, in einem Protokoll über jemand, der 60 Jahre auf einem Sofa lag und die Welt vorbeiziehen ließ wie einen Traum, und da, genau an dieser Stelle, erwachte ich und erschrak.

Aber ich beruhigte mich schnell, denn Wachen und Träumen waren ein und dasselbe und bisher hatte noch niemand bewiesen, dass das eine wichtiger als das andere wäre. Dass der Zustand der Welt vor meinen Fenstern Realität genannt wurde, war auch nicht mehr als eine Behauptung.

Gut, dass das so ist, dachte ich, denn sonst müsste ich vielleicht doch ein schlechtes Gewissen haben, aber so, nein, schließlich kann der Traum, aus dem ich erwacht bin, ja auch der Tod sein, und ich werde nie feststellen können, ob ich tatsächlich gelebt habe. Woran sollte ich das festmachen können, am Wetter, an den sozialen Veränderungen, woran, dachte ich
, seufzte, lächelte und legte mich wieder hin.

Das war schön. So zu liegen war schön, ich nahm ein Buch, die Welt war voller Bücher, die auch nichts weiter waren als Beschreibungen verschiedener traumhafter Ereignisse, ich bimmelte noch einen Kaffee heran und begann staunend zu lesen, was andere träumten.

16:55

Sie ist klein, schmallippig, wirkt mürrisch, aber das Kind, das neben ihr sitzt, ein Junge von etwa fünf Jahren, ist dafür doppelt fröhlich. Es kniet auf dem Sitz, schaut nach draußen, sagt was vom Nikolaus, und sie antwortet scharf und auf türkisch. Das Kind antwortet in einwandfreiem Deutsch, und lässt sich darin auch nicht beirren, obwohl ihr irgendetwas über die Leber gelaufen scheint, es spricht weiter und weiter, und sie auch, das ist ein schöner Kontrast.

20:15

normal null 13

wie soll ich das nur wieder erklären
soll ich sagen
es war nicht so gemeint
das wäre dann lüge
soll ich sagen
es war so gemeint
das wäre dann wahr
und dann müsste ich gehen
dann sage ich also nichts
dann tu ich als ob
dann ist alles
wie es dann immer ist
und eh ich dann mich versähe
wäre der knoten so dick
dass ihn niemand mehr durchhaut
und also was dann dann
was und wie dann
das geknäul nicht
ist zu gefährlich
das geschäft viel zu alt
auch die tricks
und dann das als ob
dann lieber nicht hingehn
lieber hierbleiben
tonsteinescherben hören
und denken
scheiße
damals haben die mich
mit jazz angefixt und gesagt
dass das andere nix wäre
und ich hab es eine weile geglaubt
wieso erzähl ich dir das
damals warst du noch gar nicht geboren
und wenn ich tot bist
lebst du noch vielleicht
deshalb gute nacht
weite welt
wofür tu ich das alles
ich bin nicht verrückt

23:23

"Ich hatte kein Geld, war aber nicht unglücklich in jener Zeit. Schon gar nicht hatte ich as, was man mir seit Jahrhunderten immer unterstellte, nämlich Depressionen. Ich wusste gar nicht, was das ist. Ich hatte ein, zwei wirklich gute bücher darüber gelesen und wusste deswegen, dass ich garantiert NICHT depressiv war. Ich hatte weiß Gott schlimmere Probleme Da shatte ich den Therapeuten auch immer gesagt - zum Beispiel, dass ich nur eine Stunde am Tag die Gesellschaft von Menschen ertrüge , aber sie hatten mir niemals geglaubt. In den Augen der Ärzte hatte ich eine schwere und verdeckte Depresion, und wenn ddie auskuriert sei, würde ich Tag und Nacht gesellig sein können und wollen. Und ganz viel Geld verdienen dann. Denn mit nur einer Stunde Gesellsigkeit pro Tag konnta man kein Einkommen zielen. Diese Erfahrung hatte schon Kafka gemacht und war früh gestorben." (aus: Joachim Lottmann Der Geldkomplex, Roman, KIWI Paperback 1116)


Do 26.11.09   13:41

Die linke Sofaecke ist meine. Das weiß sie. Ich sitze da, weil ich von dort die Stereoanlage bedienen kann, weil das Licht am besten fällt, weil ich mich auf die Lehne aufstützen kann und überhaupt. Es ist meine Ecke. Ich weiß, dass sie diesen Platz, kaum bin ich aufgestanden und habe den Raum verlassen, übernimmt und so tut, als könne sie kein Wässerchen trüben.

Normalerweise rolle ich sie, wenn ich zurückkehre, auf liebevoll bestimmte Art einfach zur Seite. Sie meckert dann zwar, bleibt aber in der Regel da, wo ich sie hingerollt habe, liegen. Gestern war das anders. Ich rollte sie nicht fort, sondern wies sie mir scharfem Ton an, meinen Platz zu verlassen. Ihr Unterkiefer zuckte runter und hoch, sie funkelte mich an und machte äußerst gefährliche Töne.

Nicht weiter schlimm, ich kenne sie, es amüsiert mich und weil ich weiß, dass sie das doppelt nervt, amüsiere ich mich noch ein bisschen mehr und tippe sie in die Seite, um meiner Aufforderung Nachdruck zu verleihen. Jetzt wird sie langsam zum Raubtier. Ich tippe sie noch ein- zwei Mal an, dann schlägt sie zu.

Aber da ich das weiß, bin ich vorsichtig, ergo schneller als sie. Sie liegt jetzt halb gedreht mit dem Rücken zur Lehne, zeigt mir ihren weißen Bauch, hat beide Vorderpfoten wie ein Torwart vorgestreckt und die scharfen Messer zum Töten der Beute ebenfalls.

Tsst, weg da, zische ich und tippe ihr in den Bauch. Eh sie zuschlagen kann, bin ich schon wieder in Sicherheit. Jetzt ist sie richtig sauer. Jetzt spielen wir das Spiel Ich bin der Chef und Du bist die doofe Katze. Ich weiß, dass es mich treffen kann, es wäre nicht das erste Mal, dass so ein Spiel mit blutender Wunde zuende geht, aber diesmal nicht. Diesmal pariere ich jeden Hieb und schlage zurück, tippe mit ausgestreckter Hand ihre Schlagpfote zur Seite, ihre Führhand, könnte man sagen.

Au Scheiße, das nervt sie total. Dieser Mensch ist schneller als sie, trifft ihre Führhand wieder und wieder, bis sie sich entschließt, meckernd und mit aufgerichtetem Schwanz meine Ecke zu räumen und beleidigt das Wohnzimmer zu verlassen.


Fr 27.11.09  10:45

normal null 14

zum glück
wurde nicht erklärt
zum glück war es ein stürmischer abend
ich musste busse nehmen von hier nach dort

beim umsteigen noch schnell etwas kaufen
ich musste hoffen
vielleicht
hatte ich doch falsches gesimst aus schwaben
dachte ich noch
doch dann saß ich schon da
und stellte fest
dass es ein leben nach dem tod gibt
ich hatte das nicht geglaubt
aber dieses leben danach existiert
es ist überall
es juckt am hals und am ohr
es juckt auf der nasenspitze
es riecht gut
aber eins will es nicht
es will keine zeichen hinterlassen
na ja denke ich
zeichen müssen nicht unbedingt sein
aber für so ein leben danach
also wenn man festgestellt hat
dass da tatsächlich eins ist
dann wäre ein zeichen schon schön
sagen wir am hals oder sonstwo
aber nun gut
ich bin ohne zeichen gekommen
ich gehe ohne zeichen
und kann dann zuhause nicht schlafen
weil ich das rauschkraut nicht mehr vertrage

21:18

normal null 15

es geht nicht
dachte ich
nachdem ich lange gewartet hatte
also überlasse ich das geschäft anderen
halte mich im hintergrund
und komme nur aus der deckung
wenn ich gefragt werde
es wäre vernünftig
ins bett zu gehen und auszuschlafen
unter der decke hemmungslos zu furzen
zu schnarchen und glücklich zu sein
wer weiß wo ich morgen aufwache
wer weiß wer an meinem bett steht
wer weiß ob die bäckereien nicht über nacht
in die finanzkrise stürzen
oder noch telefonieren nein nicht
noch ausgehen nein nicht es ist bitter kalt
weihnachten kommt näher
da muss man sich schützen


Sa. 28.11.09 10:53

normal null 16

der nachbar
hat einen adventskranz gebracht
es ist ein schöner kranz
er soll mich daran erinnern
dass ich allein bin
jedes licht ist das licht
dass ich mir nie ausblasen werde
ich darf aber zuschauen
wie die flammen flackern
die kerzen weniger werden
und mich freuen
bis es heißt
ruhe in frieden
bis dahin könnte noch was geschehen
ich könnte auf sofas sitzen und tirillieren
ich könnte weitergehen
ich würde mich nicht mehr zurückhalten
wir würden uns gut verstehen
die welt und ich
und alles wäre durcheinander
überall lägen socken hosen etc.
sogar bh's dürften dabei sein
ich mag gar nicht dran denken
überschlage den winter
die feste die geburtstage
ich nehme die welt
und spiele den letzten ball
wie der einschlägt
mann wie die jubeln
und dann war abseits


Mo 30.11.09   8:36

normall null 17

die liebe
hatte die nase voll
jeden tag entscheidungen
tausend anträge
jeder wollte wissen
was ist

männer
verstiegen sich in treppenhäusern
frauen hielten zurück
denn sie waren bedient
die liebenden tobten
wer hier rief
hatte spötter auf seiner seite
hier
ich will nicht mehr
ich will alles

ps.

einer einer geht noch rein


17:38

normal null 18

also verlassen wir uns
schade es hat nicht lange gedauert
wenn morgen das neue beginnt
weiß ich nicht
ob ich noch will

geh ans telefon
sag dass es nichts bedeutet
aber
erwarte nicht
dass ich es glaube
ich habe mich nämlich verhoben
weißt du
und als ich dachte
jetzt wird's einen augenblick leicht
war's schon wieder vorbei

also komm
wirst sehen
was wir
miteinander treiben
im foyer der künste
ich nehm dich von allen seiten
musst es nur sagen
ich gebe mir mühe
oder gebe mich auf

19:50

So viel also zum November.
Es wird nicht leichter, aber zwischendurch war es schön.
Allen, die ihren Anteil daran hatten, vielen Dank.

Vielen Dank für den Goldenen Hirsch, für die Real Fullmooners,
die Mojitos, für die Tänze, für den Abend auf dem Sofa, als es so heftig regnete und die Welt kaum zu sehen war, es wird leichter und leichter und schwerer und schwerer, wir sehen uns im Dezember.


 

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