November 2012                                        www.hermann-mensing.de          

mensing literatur
 

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zum letzten eintrag

Do 1.11.12 12:49

Als ich um 19:53 in Lemgo an einer Ampel stand, Rinteln, Herford und die A2 Hannover/Dortmund im Blick, hinter mir Autohäuser und Tankstellen, dachte ich, wenn ich jetzt aussteige, kennt mich kein Schwein, nicht einmal ich weiß, wer ich bin, und da sprang mich ein mächtiger Blues an. Ein Glück, dass ich nur darauf wartete, dass die Ampel grün wurde, sonst hätten sie womöglich bemerkt, dass ich fremd bin und mich aus dem Auto gezerrt.

Ich war auf dem Heimweg.

Ich war früh hergekommen, um nicht im Dunkeln reisen zu müssen, ich hatte mich für die Landstraßen entschieden, um unbedrängt sehen und riechen zu können durch das offene Schiebedach, und jetzt hatte ich Hunger. Die Bibliotheksangestellte riet zu Gitties Frittenstübchen, da vorn, gleich am Markt, es sei fünf, da habe sie gerade aufgemacht.

Gittie: zierlich, kurzes, dunkelblondes Haar, um die fünfzig. Ihr Stübchen, zwei kleine, niedrige Räume. In einem Stehtische und hohe Hocker. Alu-Beine, nach außen schwingend, schwarz gepolsterte Plastiksitze. Auf den Tischen orangefarbene Gläser mit Teelichtern darin. Im anderen Raum die Theke, die Fritteusen, das alles. Ich bestellte eine scharfe Currywurst und Pommes Mayo. Ob sie die Wurst möglichst scharf machen könne, bat ich, und sie sagte, das könne sie wohl.

Ich ging vor die Tür und rauchte meine Zigarette zuende. Gittie würde Bescheid sagen. Ein schweres, dreirädriges Motorrad fuhr vor. Es war grün und schwarz und sah aus wie ein Jetski. Ein sehr großer, kräftiger Mann stieg ab, nahm seinen Helm ab und verstaute ihn vorn in einem Stauraum. Er hatte ein Glatze. Eine blonde Glatze. Er sah freundlich aus.

Dass er bis Mittag geschlafen habe, sagte er, und bis gerade sein Wohnzimmer renoviert habe und nun auf dem Weg zur Nachtschicht sei, und Hunger habe er, verdammten Hunger, ein Schnitzel, glaube er, wolle er, und dass er nie Zeit habe, verflucht, und nicht mal die Woche Urlaub, die ihm noch zustehe, könne er nehmen, um alles auf Vordermann zu bringen.

Er solle sich nicht beschweren, sagte sie, sie spränge früh aus den Federn, tränke Kaffee, mache noch Wäsche und Haushalt, fahre hierher und in der Mittagspause wieder zurück, mache Haushalt und Wäsche, mache den Rest und müsse schon wieder los, man sehe sich kaum noch, und Urlaub sei bei ihr nicht mal drin.

Mensing, du hast keine Ahnung, dachte ich. Du weißt nichts von denen, gar nichts. Es sind Eingeborene. Du kannst sie nicht verstehen. Halte dich raus, mach die Augen auf, hör zu, alles andere ist Literatur und Lüge.

Dass man im Lipperland akzentfreies Hochdeutsch spricht, war mir schon aufgefallen, als ich nach dem Weg zur Stadtbücherei fragte.

Da runter, da wo die AOK ist.
Ich dankte verwundert, denn woher sollte ich wissen, wo die AOK ist.
Bei der Polizei, oder sind die umgezogen? sagte ein anderer.
Es war dann bei der Polizei.

In der erzählten Zeit springt die Ampel auf Grün. Ich fahre los und erreiche die Autobahn. Auf meiner Spur fließt ruhiger Verkehr, auf der Gegenspur aber zieht ein Lichtwurm durch die gewellte Landschaft, ein kopfloser, mit nichts zu begründender, irrsinniger Lichtwurm, schön anzusehen wie er so funkelt, eine über dreißig Kilometer lange Lichtinstallation, fahrend, nicht verharrend, was ja auch häufig vorkommt, nein, das nun nicht. Ich bin froh, dass ich in Gegenrichtung ruhig rollen und Abstände halten kann, dass ich mich sicher fühle und nicht bedrängt.

Jetzt, Allerheiligen 1.11.2012, 14:09, mache ich Pause.
Von meiner Lesung in diesem exotischen Land erzähle ich später.

16.41

rosengold der westen
und im osten oxidiertes blei,
sichelmond und stolze gesten,
glockenläuten, gott hat frei.

lieh mir seinen garten
gab mir äpfel, einen kuss,
trost von ihm für langes warten,
schelte für den dummen schuss.

sah ihm zu beim wasserlassen,
lachte mit ihm und vergaß,
grundlos weiter mich zu hassen,
eine biene summt ums glas.

jetzt fällt abend auf die nase,
spätherbst, letztes aufgebot,
eine rose in der vase,
gott ist die idee und tot.



Fr 2.11.12 9:37

Ich war mit ihm zu See gefahren letztes Jahr, nicht übers Meer, nein, nur über die Binnenseen rum ums Ijsselmeer, wir waren ein gutes Team und ich hatte mich gefreut, dass er mich besucht. Ich hatte vorgesorgt, wir wollten es uns gemütlich machen und über die Welt reden, und das haben wir auch getan. Verblüffend war, dass er, kaum im Zimmer, kopfüber hinter dem Rack verschwand, auf dem meine Stereoanlage steht, um seinen IPod anzuschließen.

Nun muss man wissen, dass dort Verstärker, Tuner, CD-Player, Plattenspieler und Cassettendeck miteinander verkabelt sind. Ein Wirrwarr von In- und Out-Verbindungen, die zwar markiert, aber nicht auf den ersten Blick erkennbar sind, weil es dunkel ist hinterm Rack, man muss sich schon weit hinunter beugen und wenn man's im Rücken hat, kann es sein, dass man nie wieder hochkommt.

Aber er kam wieder hoch, hatte zunächst den falschen, dann aber den richtigen Anschluss gefunden, sein IPod funktionierte. Gäste mit eigener Musik, das ist doch mal was, dachte ich, wo ich doch mit hunderten Vinylplatten und noch mehr CD's hätte aufwarten können.

Irgendwann im Verlauf des Abend schaut er auf die Bilder, die Chris und ich in jahrelanger Arbeit aufgehängt haben und sagt, das ginge so nicht. Wie, das geht so nicht? frage ich und er sagt, dass da keine Harmonie sei, dass das große Bild viel zu tief hänge, wenn man das ändere, sähe die Sache schon ganz anders aus.

Ich dachte, was redet der? Lehrer, dachte ich, denn das ist er ja, Lehrer, morgens recht haben und nachmittags frei, das ist die beste aller möglichen Hängungen, da pfuscht keiner rein, aber dann dachte ich, na ja, lass mal sehen, Mann, und schon hatten wir das Bild abgehängt und ich bat ihn, es in neuer Position gegen die Wand zu halten, damit ich aus einiger Entfernung sehen könnte, wie es wirkt.

Es wirkte gut. Also holte ich Nägel, Hammer und Zange. Es ging auf halb zwölf, als ich begann, die Nägel einzuschlagen. Und ich dachte, wenn Chris jetzt hier wäre, die würde das unterbinden, denn ringsum schliefen längst alle. Und es war auch nicht so, dass sich die Nägel so einfach in die harte Wand schlagen ließen, nein, Funken stoben und sie bogen sich, so dass wir den Versuch schließlich abbrachen. Ich würde es am Morgen erledigen, sagte ich.

Eh er ging, musste er noch einmal hinters Rack und die alten Verbindungen herstellen. Ich würde das prüfen, hatte ich gesagt, ich prüfte, alles funktionierte wie vorher. Dann kam das bestellte Taxi und er fuhr heim.

11:12

das telefon schellte
es war meine sprachbox
mit sprache drauf,
müden lauten,
man schlafe schon fast,
und wolle noch meine stimme,
doch jetzt sei ich nicht da,
dabei war ich nur kurz im dorf,
aber so ist es, kaum fort,
wird es wichtig,
kaum wieder da, ist es fort.

12:18

Publikum ist heikel. Publikum kann mir Angst einjagen, aber wenn ich dagegen angehe, kann ich es gewinnen, und wenn ich es gewinne, ist alles gut. Mein Publikum hockte kreisförmig am Boden, lag auf Kissen oder drückte sich in eine Ecke.

Wenn ich so einem Publikum vorlese, sind immer welche hinter mir, die deshalb schlechter hören, die sich nicht angesprochen fühlen und früher oder später zu stören beginnen. Mein Publikum aber hatte noch einen Nachteil. Es war eine heterogene Gruppe, nur zu diesem Abend zusammen gekommen. Fremd und an ungewohntem Ort.

Ich fing gut an. Ich spielte zwei, drei Lieder auf meiner Ukulele, ich las ihnen ein Gedicht vor, ich hatte ihre Aufmerksamkeit, dann aber wollte ich die Geschichte lesen, die ich für diesen Abend geschrieben hatte, eine Geschichte, die in ihrem Ort spielt, eine Gruselgeschichte.

Ich hatte kaum begonnen, als zwei Mädchen aufstanden und sich Richtung Toilette aufmachten. Ich unterbrach und fragte, ob es so wichtig sei, jetzt zur Toilette zu gehen. Die beiden drucksten herum. Wenn die ersten zur Toilette gerannt sind, rennen die anderen hinterher, das ist ein Weltgesetz, und so schlug ich vor, dass alle, die noch zur Toilette müssten, jetzt gehen sollten.

Sofort stoben zehn, fünfzehn Kinder los. Es gab nur eine Toilette.

Fünf Minuten vergingen, und die Anfangskonzetration war dahin. Ich bin mir nicht sicher, ob die Geschichte gut war. Während des Vorlesens jedenfalls fielen mir Dinge auf, die ich - ohne der Geschichte zu schaden - hätte streichen können, andererseits ... sie hätte wohl eher die etwas älteren Kinder angesprochen, aber da saßen von Fünf - bis Dreizehnjährigen alle durcheinander, und so bleibt als Fazit, dass nicht alles gut war, als ich heim fuhr.


Sa 3.11.12
11:49

Die graue Decke liegt überm Land. Sie ist feucht. Ich täte keinen Schritt vor die Tür, aber ich habe einen Auftrag. Ich muss ein durch einen glimpflich verlaufenen Unfall leicht ins Wanken gekommenes System stützen, aber das tu ich gern. Weitere Pläne existieren nicht.


So 4.11.12
12:34

Ich hatte gut gegessen bei Gittie und schlenderte die Mittelstraße hinunter. Am Markt warteten vier junge Männer in olivfarbenen Arbeitsanzügen auf einen Bus. Sie musterten mich. Ich nickte. Möglich, dass sie sich fragten, was ich hier tat. Ich lese hier, hätte ich sagen können, ich bin ein Schriftsteller, der für 220 Euro plus Fahrtgeld über Land fährt, zwei Stunden hin und zwei wieder zurück, um Kindern Geschichten vorzulesen. Das hätte ich sagen können, aber da war ich schon weiter und ein großer, freundlicher Schäferhund vor Netto schaute mich an und wedelte.

Am Ende des Dorfes wechselte ich die Straßenseite und ging wieder hinauf. Auf halbem Weg war eine Christliche Buchhandlung. Ich hatte noch nirgendwo eine Buchhandlung gesehen, die als Christliche Buchhandlung firmierte, und dachte, das sind Fundamentalisten hier, protestantische Fundamentalisten, da muss man vorsichtig sein.

Ich versuchte, den Ort mit meinen Recherchen, die ich für die Geschichte gemacht hatte, abzugleichen, fand aber nur die Bäckerei Dreimann, in der es in meiner Geschichte spukt. Ich hatte mit Google Maps recherchiert, die Topographie ein wenig studiert, ich wusste, dass es ein Freibad gab und einen Ferienpark, hatte mir Straßennamen gemerkt, die Rote Kuhle etwa, weil ich dachte, das ist ein schöner Name, hatte mir die Zwergenvilla gemerkt, eine private Kindertagesstätte, ich hatte das alles in meiner Geschichte untergebracht, aber als ich dann in die Bücherei kam und die Kinder sah, kamen mir Zweifel. Ich hätte auf Nummer Sicher gehen können, meine Tasche ist voller Romane für Kinder, von denen ich weiß, dass sie funktionieren, aber nun hatte ich diese Geschichte und wollte sie auch vorlesen. Wie das ausging, wissen Sie schon. Es war ein Experiment, es hat Spaß gemacht, aber ich werde es nicht wiederholen.


Mo 5.11.12
10:43

Im Bus sicherte ich mir einen Stehplatz zwischen Haltestangen, um die Fliehkräfte abzufedern. Zwei Stationen weiter stand links vor mir jemand auf. Davor stand ein sich ebenfalls an eine Haltestange klammernder Mann Mitte zwanzig, graue Reddream Trainingshose, schwarze Bomberjacke, Glatze, ein markantes Gesicht und ein Rucksack mit Flughafengepäckkennung PMI. Ich gab ihm den Vortritt, er stand länger als ich, aber er sagte "Ich bin noch jung." "Ich auch", sagte ich. Darauf er "So sollte das nicht rüberkommen."

Wir lachten, ich setzte mich. PMI? Was ist PMI? Er sah nach Abenteuer aus. Zuhause schaute ich nach. Er war auf Mallorca. Das hat mich enttäuscht. Ich hatte ihm mehr zugetraut, stattdessen hatte er pauschal gebucht. Schade, dass sich nur noch so wenige hinaus in die Welt trauen. Es ist mindestens zehn Jahre her, seit ich die letzten Anhalter gesehen habe.

Den Rest des Tages werde ich damit verbringen, eine Zivilklage gegen den Media Markt zu formulieren, der mich auf Werbeflächen als "Verrückte(n) willkommen beim Preis" verunglimpft. Ich setze den Streitwert auf 10 Millionen Euro an, dann krieg ich vielleicht zwei, das dürfte reichen.


Di 6.11.12 13:53

ich hab den idealzustand erreicht,
zum augenblick fällt mir nichts ein,
verlange nie mehr nach vergangenheit,
und zukunft soll geheim sein.

15:09

dämliche gedichte

hat die hose vorn ein loch,
kriegt man besser keinen hoch,
ist es aber eher am hintern,
wird es hart beim überwintern.


15:14

Vierzeilige Mantra,
nach Besuch beim Urologen zu sprechen:

Ich habe schöne Nieren,
ein Glied, dass manchmal steht,
ich hab nichts zu verlieren
und weiß, dass alles geht.


17:47

glatzen machen keinen sommer,
bärte dulden keinen flaum,
onanieren macht nicht frommer,
frau'n könn'n dir den tag versau'n.

18:08

vor die haut passt keine nase
hinterm herz sticht eine zu,
eine schöne volle blase
schenkt dem schläfer keine ruh.

18:10

haut der bärenfänger zu,
geben bären endlich ruh,
haut er aber knapp daneben,
war's das eben....

18:11

gleitet man mit schwung hinein,
gibt's womöglich kratzer,
blutet nachher wie ein schwein
sorry für den patzer.


Mi 7.11.12 12:07

Erst das Kind, das Laufen lernt.
Dann die alte Dame, die sich in der Demenz verliert.
Zwischen beiden liegen 84 Jahre.

Das Kind ist mit dem Vater gekommen. Letzte Woche hat es die ersten freihändigen Schritte probiert, vom Sofa übers Eck, vom Eck zum Vater, zum Opa. Jetzt sitzt der Vater mit dem Rücken zur Heizung auf dem Fußboden in meiner Küche, ich sitze mit dem Rücken zur Küchentür. Der Vater hält das Kind unter den Armen, damit es in eine stabile Ausgansposition kommt. Dann lässt er es gehen. Das Kind hat die Arme abgespreizt und geht. Noch ist es kaum mehr ein Nach-vorne-Fallen und Stolpern, aber es fängt sich jedes Mal. Einmal bleibt es auf halbem Weg stehen, scheint wegzukippen, fängt sich und schafft den Rest des Weges zu mir. Wir feuern es an, natürlich. Wir halten Blickkontakt mit ihm, damit es sicher sein kann. Und das Kind hat Freude. Zwei Wochen noch, und es wird in der Wohnung herumzulaufen beginnen.

Ich erinnere mich, wie ich dem Vater das Laufen beibrachte. Es muss um Ostern herum gewesen sein, die Narzissen blühten. Ich saß auf dem Rasen vorm Haus, in dem wir damals wohnten, und der zukünftige Vater hatte gerade die Arme der Mutter verlassen und lief auf mich zu. Genauso, wie es sein Kind gerade tat. Ich saß auf der Erde, und rutschte immer wieder ein Stückchen zurück, um seinen Laufweg behutsam ein wenig zu verlängern. Und er kam auf mich zu, strahlend. Meine Frau und ich waren glücklich.

Als der Enkel in meiner Küche sich wieder auf den Rückweg machte, dachte ich an meine Frau und mein Herz wurde schwer.

Die alte Dame weiß nie meinen Namen, wenn ich sie besuche. Sie vergisst ihn, und dann sage ich ihn ihr, und sie sagt, ja, ja, und hat ihn schon wieder vergessen. Sie vergisst auch, dass Bäume Bäume heißen und was ihr sonst nicht einfällt, sind Dingse. Ich rede mit ihr, wie ich mit allen anderen reden würde, und wer es nicht weiß, würde nicht sofort darauf kommen, dass sie dement ist. Sie hat einen klugen Wortschatz und rettet sich manchmal in Ausflüchte, wenn ein Wort nicht parat ist. Sie macht das geschickt. Letztes Mal war sie traurig, weil ihr niemand gesagt hatte, dass ihre Oma gestorben sei. Welche Oma meinst du denn, frage ich, aber das weiß sie auch nicht, ihre Mutter ist es jedenfalls nicht, sagt sie, die lebe ja noch, aber natürlich lebt die schon lange nicht mehr.


Do 8.11.12 14:27

Gestern sollte ich Mitgliedern von Schreibwerkstätten, die sich regelmäßig treffen, von meiner Arbeit erzählen. Zwei Gruppen waren gemeldet.

Die erste, vier Mädchen und drei Jungen im Alter von acht bis zwölf, war zurückhaltend bis schüchtern, ich musste jedem Wort für Wort aus der Nase ziehen. Alle schrieben, soviel konnte ich erfahren, Gedichte, Geschichten über Autos, Tiere, über Menschen an sich, eine malte Mangas, und L., die Älteste und häufig kichernd, sagte, sie schreibe Horror, Fantasie und Gedichte.

Ob sie eines aufsagen könne, fragte ich. Sie sagte, ja, aber es sei ein perverses Gedicht. Ich wusste nicht, was zu erwarten wäre, ich sagte, so schlimm könne es doch nicht sein, sie solle es trotzdem sagen. Sie errötete und legte los. Es ging um Penis, Vagina, Hoden und Brüste, in ihrer Diktion Schwänze, Fotzen, Eier und Titten.

Lieber Himmel, wie kommt eine Zwölfjährige auf so etwas?

Als Kinder kannte ich ein Gedicht, das ging etwa so:

Hose runter, Licht aus,
Papa holt den Dicken raus,
einmal rein, einmal raus,
fertig ist der kleine Klaus.

Harmlos, finde ich. Das von L. fand ich nicht harmlos. Allerdings fand ich es mutig, dass sie es aufgesagt hatte. Aber was hätte ich darauf sagen sollen. Schweinerei? Nein, den Pädagogen wollte ich nicht bemühen, also rettete ich mich in Schulterzucken und eine kurze Lesung, die wir als Ausgangspunkt für eine eigene Geschichte nutzten.

Nach langem Hin und Her sollte sie Der Geldscheißer heißen.

Aha. Irgendetwas in diesem Alter scheint sich nach derben Ausdrücken zu sehnen, ich bin auch gern derb, aber mit dieser Gruppe war nicht viel anzufangen. Wir brachten es in anderthalb Stunden auf ein ein paar mühsame, viel diskutierte Sätze. Das intendierte Gespräch über meine Arbeit fand nicht statt, und erst, als alle schon gehen wollten, sagte ein Junge, dass er eine Geschichte mitgebracht habe, die er vorlesen wolle.


Fr 9.11.12 13:40

Die demonstrative Poetik der Einfachheit

das brötchen lebt,
gebt mir ein messer,
wenn's sich nicht regt,
geht es mir besser


brat mir eine oma,
schlachte den papa,
fall danach ins koma,
keiner ist mehr da.


hebe jetzt ein glied,
mache daraus bratwurst,
singe dann ein lied,
bierchen gegen durst.


werdet wie die pimmel,
tut's vaginen gleich,
zieht doch in den himmel,
oder werdet scheich.


14:17

Now to something completely different.

Die zweite Gruppe meines Auftritts im Jugendzentrum Nordhorn, Mittwochabend, es geht auf zwanzig Uhr. Diesmal sind es junge Frauen und Männer zwischen 14 und 18, schätze ich, und mit denen ist leicht arbeiten. Die treffen sich Woche für Woche und arbeiten an Texten, sie haben diese Texte veröffentlicht und wundern sich, dass niemand sie kauft.

Schon sind wir bei den Illusionen für Dichter.
Viele schreiben Gedichte, wenige wollen dafür bezahlen.

Ich erzähle von meiner Arbeit. Ich berichte von meinen Motiven, ich erkläre Methoden, ja, ich habe Methode, höre ich mich staunend sagen, und dann lege ich drei meiner Romane auf den Tisch und kategorisiere sie. Der ist so, der so, und der so geschrieben, sage ich.

Ich ziehe Zähne.

Wer dichtet, sollte sich keiner Illusion hingeben.
Wer dichtet, benötigt eine dicke Haut.
Er darf Bisswunden nicht fürchten, er darf sich aus Neid und Missgunst nichts machen, er muss sehen und hören und daraus Schlüsse ziehen.

Seine Schlüsse, nicht die Schlüsse der anderen.

Und wenn er das alles tut, kann es sein, dass etwas entsteht, was es noch nicht gab. Bei all dem darf er jedoch keinerlei Garantie für Irgendetwas erwarten. Das gute Schreiben ist wie das gute Leben, es ist nicht gestern, nicht morgen, es ist heute und nirgendwo sonst.

Fuhr nach anderthalb Stunden beschwingt durch die Novembernacht heim.
Und hatte, nebenbei bemerkt, eine Menge Geld verdient.


15:56

hach, sie steht da, kopf gesenkt,
braun wie macchiatos latte,
gras im maul, ich hab es ihr geschenkt,
dass sie mich begatte.

16:17

Nun könnte jemand fragen, sagen Sie mal, Herr Mensing, wie kommen sie bloß auf so was?
Die Antwort ist einfach. Ich fuhr heute gegen neun durchs Wiehengebirge. Linkerhand war diese Weide, und darauf standen zehn, fünfzehn hübsche, schokoladenfarbene Kühe. Zum Anbeißen.

16:19

demonstrativ, diese poetik,
einfach und mit buckelreim,
sehnig und so voll athletik,
zartes mörderschwein.

16:51

Heute eine wundervolle Lesung in Wehrendorf. Vom ersten bis zum letzten Augenblick war ich Herr der Lage. Lesen, Interagieren, szenisches Spiel, Ukulele spielen, alles ging Hand in Hand, als hätte ich es geplant. Und als sie dann immer noch Zugabe Zugabe riefen, las ich ihnen noch ein Gruselgedicht vor und fuhr beschwingt heim.

So soll es sein, dachte ich.

Und kurz hinter Lotte dachte ich, wieso verkaufen sich meine Romane nicht so, dass ich davon leben kann. Da stimmt doch was nicht. Aber dann erinnerte ich mich an das Fazit meiner Erörterungen zu Poesie und Prosa. Es lautet: erwarten Sie nix. So ist es, dachte ich und gab Gas.

19:06

war einmal ein schnitzel,
böhnchen als salät,
knirscht im hals ein ritzel,
wird es heute spät.


Sa 10.11.12 17:16

Die Tür zum Balkon stand offen, ich saß auf dem Sofa und las Zeitung, als ein Rotkehlchen ins Zimmer spazierte. Meine Katze lag in der Küche und schlief. Ich riet ihm dennoch, die Wohnung schleunigst zu verlassen, aber das Rotkehlchen hatte vergessen, wie es hereingekommen war. Es flog aufgeregt hierhin und dorthin, landete schließlich vorm Fenster und glaubte, es könne hindurch. Zum Glück kollidierte es nicht. Ich stand auf und versuchte es zu fangen. Als ich es in meiner Hand barg, schaute es mich an. Aufpassen, sagte ich. Ja, sagte es.


So 11.11.12 9:35

Sie begrüßen sich, sie lachen und küssen sich links und rechts auf die Wangen, sie setzen sich, trinken Kaffee und packen ihre Tanzschuhe aus, ziehen sie an, sie plaudern, sie machen das, was ich nicht kann, und es scheint sie nicht zu irritieren, dass sie bis auf die Aussichts aufs Tanzen wenig miteinander verbindet.

Im großen Saal spielt schon Musik, hier spielt das Vorspiel. Ich habe auch Kaffee, ich sitze auch eine Weile mit ihnen, aber mir fallen keine Sätze ein, die ich sagen könnte, also gehe ich in den großen Saal. Der DJ begrüßt mich. Er sagt immer das Gleiche. Und ich antworte entsprechend. Ein paar tanzen schon. Ich hänge mein Jackett über einen Stuhl und schaue zu.

Der Saal füllt sich. Ich sehe eine asiatische Frau, sehr kräftig, nicht dick, mit Tatoo auf dem linken Oberarm. Japanerin, denkte ich. Sie tanzt mit einem Holländer. Ich treffe ihn dann und wann, wenn ich tanzen gehe. Der Holländer interessiert mich nicht. Diese Asiatin interessiert mich. Sie tanzt, wie ich mir Tanzen vorstelle. Sie sieht abenteuerlich aus.

Die will ich haben, doch dann kommt diese Russin, eine freundliche Frau, und fordert mich auf. Ich darf sie nicht drehen, sagt sie, sie habe eine Knieoperation hinter sich. Gut, sage ich. Aus den Augenwinkeln beobachte ich die Asiatin. Sie hat sich hingesetzt. Ich beende meinen Tanz mit der Russin, setze mich und bereite mich auf die Asiatin vor.

Wenn ich mit ihr tanze, reicht es nicht, gestelzt übers Parkett zu drehen, wie die meisten. Da muss das Tier her. Ich kenne es und wir lieben uns. Also atme ich durch, gehe zu ihr und fordere sie auf. Sie willigt ein. Und dann geht der Tanz los. Ich liebe die kräftigen Frauen mehr als die zierlichen, wenn es ums Tanzen geht.

Die Asiatin tanzt energisch. Sie tanzt voller Empathie. Sie weiß, wo die Eins ist, während viele andere ständig auf der Suche danach ihre Figuren drehen. Sie ist genau das, was ich jetzt brauche. Ich habe einen guten Tag hinter mir, ich hatte Erfolg und ich hatte mich sehr geärgert, jetzt konzentriere ich mich auf die Freude. Sie lacht, wenn ich sie in die Doppeldrehung führe. Sie lacht, wenn ich sie kreisen lasse. Sie weiß, was ihr Körper will und ich darf es sehen. Nach drei Tänzen bin ich außer Atem und glücklich. Und noch heute, anderthalb Tage danach, spüre ich sie in allen Knochen. Sie würde mich tot tanzen, das weiß ich, und ich hätte nichts dagegen.


15:32

feinster herbst umspinnt den narrhalesen,
während er fünf liter kölsch erbricht,
nachher sagt er, er sei's nicht gewesen
und kennt seinen namen nicht.


Mo 12.11.12 13:53

In knapp 13 Tagen bin ich für eine Schreibwerkstatt gebucht, die der Deutschlandfunk in Kooperation mit dem Boedecker Kreis veranstaltet. Der Ort ist fixiert. Die Idee: Mit Jugendlichen ab Klasse 5 Gedichte zum Thema Ozeane schreiben.

Das Thema mag man finden, wie man will, ich finde es heikel. Aber unmöglich finde ich, dass gerade eine Mail vom DF kam, in dem Plakate angekündigt werden, die man "gern als auch pdf" weiterleiten wolle, und man danke im voraus für die Hilfe beim Aufhängen. Was glauben diese Radiomenschen? Schulen sind schwerfällige Apparate. Die brauchen für solche Unternehmungen Monate Vorbereitungszeit, weil sie zugeschissen werden mit Veordnungen.

Also ich bin gespannt, was das wird. Wahrscheinlich mühsame Quälerei.

19:15

die nagelbetten machen winterschlaf,
die fußsohlen erobern afrika,
das steißbein heißt seit gestern graf
und eine gräfin ist auch da.


Di 13.11.12 10:20

Ich hatte Reihe 8, Platz 36 und 37 rechts außen gebucht und das Kino füllte sich langsam. Blockbuster Kino, alle Jahre schaue ich mir so etwas an, danach bin ich in der Regel geheilt. Eimer Popcorn wurden hereingetragen und Smartphones bedient. Plötzlich steht da ein Paar und der Mann sagt, Entschuldigung, aber Sie sitzen auf unseren Plätzen. Wie? sage ich und zeige ihm unsere Karten. Da steht das Datum für morgen drauf, sagt er. Für morgen? O Gott. Offensichtlich hatte ich bei der online-Buchung gepennt.

Mein Sohn sagte, er würde rausgehen und erst wieder reinkommen, wenn alle drin wären, dann könne man immer noch sehen. Ich sagte, ich würde drin bleiben und setzte mich zwei Reihen nach hinten, wo zwei Plätze frei waren.

Ich beobachtete die Laufrichtung aller Neuankömmlinge und war erleichtert, wenn sie vorbeigingen. Als mein Sohn zurückkehrte, hatte niemand meinen Platz reklamiert, auch der neben mir war noch frei. Er setzte sich, aber ich spürte die Spannung, die in der Luft lag. Er mag sowas nicht. Das Kino war fast ausverkauft, als doch noch zwei Männer auftauchten, die diese Plätze gebucht hatten.

Ich hatte mich natürlich nach Alternativen umgeschaut. Ausverkauft bis auf die beiden äußeren Plätze in der letzten Reihe des Parketts. Wir wechselten. Es wurde dunkel. Die Werbung begann. Eine Dreiviertelstunde Werbung, es war nicht zum Aushalten. Dann endlich der Film. Jetzt würde niemand mehr kommen. Die Spannung fiel ab. Das Schießen, Verfolgen und sinnlose Zerstören von Material nahm Ausmaße an.


18:52

ja, man atmet,
also lebt man doch,
und man wartet
auf ein neues hoch.

19:59

Fünf Bettler auf etwa 250 Meter Einkaufsstraße, alle auf Knien, die devote Balkanmethode, bei der ich im Hintergrund immer organisierte Sklaverei vermute, Käfige, in die man sie abends einschließt. Ich gebe denen nichts. Hilfe mich, bin krange, hat einer auf ein Schild geschrieben. Dem gebe ich auch nichts, obwohl er tatsächlich sehr krank aussieht. Am Ende ein Portugiese, der eine große Europakarte an sein Rad gelehnt hat, mit dem er seit neun Jahren unterwegs ist. Er hat seine Routen in die Karte gezeichnet. Sie führen überall an den Küsten entlang. Dem gebe ich was.

22:28

liegt die kuh nicht längst im stroh,
hat's der bäu'rin nicht genügt,
war der bauer denn nicht froh,
und hat sie gepflügt?


Mi. 14.11.12 18:52

Meine Gazelle brauchte neue Schläuche und Mäntel. Vorn hätte ich das selbst machen können, hinten nicht, hinten ist der Kettenkasten, die Schaltung, die Rücktrittbremse, das alles brächte ich zwar auseinander, aber zusammen brächte ich es nicht mehr, denn vernünftiges Werkzeug besitze ich nicht, und ich habe auch kein Talent.

Deshalb hatte ich sie gestern zum Fahrradhändler gebracht. Vorhin wollte ich sie abholen. Der Mechaniker sagte, er habe mich schon anrufen wolle, dieses Rad dürfe er nicht reparieren. Wieso? fragte ich. Er wies mich auf einen Schaden im Rahmen hin, der jederzeit dazu führen könne, dass er bräche. Und was würde ich dann machen?

Ich sagte, dass ich so nicht dächte, ich sagte, dass ich jederzeit verunglücken könne, dazu müsse nicht unbedingt der Rahmen meines Rades brechen. Ja, ja, sagte er, schon, natürlich, aber er müsse das sagen. Wieso? Sicherheitsvorschriften. Früher wäre das anders gewesen. Da hätte er es einfach auseinandergenommen, ein Rohr eingefügt, verlötet und fertig. Aber wie gesagt, das ginge heutzutage nicht mehr, haftungstechnisch.

Ein Lobbyistengesetz, nehme ich. Die Leute sollen neue Räder kaufen.

Ich sagte, ich müsse drüber nachdenken. Ich habe in meinem Leben noch nie ein neues Fahrrad gehabt, ich hatte sie gefunden oder gebraucht gekauft, die Gazelle hatte ich vom Sperrmüll, ihr Besitzer hatte vielleicht einen Unfall und war gut versichert, jedenfalls erinnere ich mich, dass mir der frühere Inhaber des Fahradgeschäftes schon einmal in den Ohren lag wegen der vorn verbogenen Gabel. Ich hatte sie nie ausgetauscht.

Das Rad fährt sich wunderbar, ich habe weder Schmerzen im Rücken noch sonstwo, wenn ich mit ihm fahre, und ich fahre häufig mit ihm. Vorhin fand ich im Internet eine Gazelle, die genauso aussschaut wie meine, neu ist, einen Nabendynamo hat, was mir sehr gefiele, und 450 Euro kostet. Ich kenne jemanden, der unter Umständen bereit wäre, mir die alte Gazelle für 100 Euro abzukaufen. Er schaut sie sich morgen an. Wenn er sie will, kaufe ich eine neue.

21:22

der dämlack ist nicht dämlich,
es ist die welt, die spinnt,
sie hat erst neulich nämlich
wieder ne chance verpinnt.


Do 15.11. 12:50

Nach der Lesung:

Kind (männlich, ca. 10 Jahre alt blond, dünn): Du?
Ich: Ja?
Kind: Du bist ein sehr guter Dichter.

17:04

der abend fällt,
die kälte zieht ums haus,
ich hab das nicht bestellt
und zieh nie mehr blondinen aus.


Fr 16.11. 22:16

die buchen lodern feurig,
ich fahr durch matten dunst,
ich bin noch immer heurig
und liebe meine kunst.

die linden stehen blank,
ich trete fest aufs gas,
ich bin am herzen krank
von welt, und werde blass.

die eichen tragen lange,
ich hege meine last,
vergrabe meine bange
und lieb mich ohne hast.

nur tannen bleiben farbig,
bis nächstes jahr es sprießt,
mein weltverstand bleibt fahrig,
so lange jemand schießt.


Sa 17.11.12 13:31

Ich höre die Melodie fast täglich. Es ist ein bisschen wie früher. Der Schrottkerl kommt, flötet es im Viertel. Und dann kommt ein Sprinter die Straße herab. Darin sitzen zwei Männer. Der am Steuer ist Türke, der neben ihm ist dunkelhäutiger, ein Roma vielleicht. Der Wagen fährt langsam vorbei. Der Roma lächelt mich an. Ich nicke und denke, ich sollte mal fragen, ob sich das Geschäft lohnt. Dann weiß ich die Antwort. Sie würden ja sonst wohl nicht herumfahren. So dumm wie wir Dichter können sie doch nicht sein. Also frage ich nicht. Aber wer diese eindringliche Schrottkerlmusik geschrieben hat, dieses weit klingende, durchdringende Flöten, dass die beiden den ganzen Tag hören müssen, das könnte ich schon fragen, weil ich es gern wüsste. Gibt es da ein Studio, das sich mit durchdringenden Flötentönen beschäftigt?


So 18.11.12 12:15

Herrchen hat eine attraktive Frau. Sehr attraktiv, wenngleich eine spöttische Schärfe ihrem Gesicht etwas Unwägbares gibt. Man zuckt zusammen und glaubt, sie könne gefährlich sein, aber wenn sie spricht, verfliegt dieser Eindruck. Herrchen sitzt rechts neben ihr. Er hat ein langes, schmales Gesicht und wirkt verschlossen, mit seiner Frau wechselt er nicht ein Wort, mit dem Hund ist er in ständigem Kontakt. Wenn er sagt, geh mal zur Tür, begrüße die Gäste, geht der Hund los.

Der Hund versteht Englisch, denn Herrchen ist Amerikaner. Und, sagt er, wo sind die Pferde, go, look for the horses, und dann springt der Hund zum Fenster und bellt. He doesn't like horses. Ein kluger Hund. So einer wie Freddy und Bertie auf der Isle of Lewis, Hirtenhunde, die mit Chris und mir immer spazieren gingen und aufpassten, dass wir nicht auseinanderliefen.

Die Gäste essen Kuchen. Köstliche Kuchen, ich kann kaum aufhören zu essen, kleine, dunkle Schokoladenvierecke und hausgemachter Käsekuchen mit Schichtkäse. Aber ich tanze ja, nach dem Kaffeeklatsch fahre ich heim, ruhe mich aus und dann werde ich den Kuchen weg tanzen. Und ich werde mich fein machen. Ich ziehe den Anzug an, den ich Ahaus gekauft habe als Chris und ich auf der Suche nach einem neue Auto waren, sieben Jahre ist das her, ein grüner Zweireiher. Dazu trage ich das blaue Hemd und eine lachsfarbene Krawatte.

Und dann fahre ich los und tanze. Schick bist du, sagt jemand zu mir. Das finde ich auch. Sie ist auch schick. Und dann ist da dieser Mann, sicher schon über fünfzig, ein schmieriger Typ mit Menju, ein alternder Latinostecher. Der ist der DJ, erfahre ich und befürchte Schlimmstes. Aber dann stellt sich heraus, dass er rasiermesserscharfe Stücke auflegt, was mir als Tänzer sehr liegt. Also tanze ich bis halb zwei, und da heute der Himmel als feuchtes Tuch über allem liegt, werde ich mich kaum bewegen. Lesen werde ich, Musik hören, lesen.

16:14

ich lege
den bademantel auf den stuhl im flur,
schlüpfe in meine brecht sandalen,
ziehe den mantel des toten über,
schlage mir seinen schal um
und verlasse das haus.

weit und breit nur der herbst
und mein hunger auf kuchen,
eine silhouette unter riesigem schirm,
der staatsanwalt hat auch kuchen gekauft
und fragt, wie es geht.

gut geht es, gut,
und das ist nicht mal gelogen.

der bauer mit dem
dicken runden kopf
und dem roten gesicht
steht hinter mir, als ich torte kaufe
und die verkäuferin bitte,
sie als geschenk einzupacken.

das mach ich, sagt sie,
ich weiß, sage ich
und dann lachen wir,
der bauer lacht auch
und ich bin drauf und dran,
tach zu sagen,
denn wir haben uns noch nie gegrüßt.

was für ein erfolgreicher tag.
möglich, dass ich mich heute noch bewege.
aber das gegenteil ist wahrscheinlicher.

war das ein gedicht?

18:55

Unter meinem Sofa stehen Dutzende Mixtapes, die ich bis in die späten Neunziger aufgenommen habe. In der neuen Welt mixe ich auf Spotify. Das macht auch Spaß und vertreibt Zeit.


Mo 19.11.12 12:16

Unsere Wahrnehmung ist leicht zu täuschen. Eine geringfügige Veränderung der Konstanten, schon irren wir. Licht ist ein großer Täuscher, mit dem Hören ist es auch nicht weit her, und dann sind da natürlich die festsitzenden Bilder in unseren Köpfen, die Vorurteile, die alles durcheinander bringen und kein klares Urteil erlauben.

Samstag sah ich die Japanerin wieder, mit der ich vorletzte Woche tanzte. Sie trug ein fein geblümtes Kleid, die Oberarme waren bedeckt, sodass ich ihr Tatoo nicht sehen konnte, überhaupt hatte ich sie erst gar nicht erkannt, aber dann (rundes, freundliches Gesicht) schließlich doch. Ich sagte, haben wir nicht, und sie nickte und sagte ja, und ich fragte, wollen wir jetzt, und sie sagte, nein, ich feiere gerade ein bisschen Geburtstag, ach, du bist das, sagte ich, ja, ja, sagte sie. Sie hat einen biblischen Namen, keinen japanischen, und offenbar war sie vorletzte Woche auf Krawall gebürstet, jedenfalls schloss ich das aus ihrer Kleidung. Mir gefällt sehr, wenn Menschen die Erwartungen der anderen brechen.

15:50

Ich schreibe, schrieb ich, neuerdings kaum noch. Das Schreiben ist mir zur Qual geworden, ja, schrieb ich, zur Qual, es ist zu einer körperlichen und geistigen Qual mutiert, wo es doch früher eine Freude war, aber heute, heute schrieb ich, heute ist ist es eine Qual, ist unbeschreiblich, dem Leben ähnlich, unfassbar, und das zu beschreiben hat sich nach allem, was ich in den letzten vierzig Jahren zu beschreiben versucht habe, als unbeschreiblich erwiesen.

Das Schreiben, fuhr ich fort, während meine Finger über die Tasten tanzten (denn das können sie, sie sind diejenigen, denen Ehre gebührt, sie haben sich jede Finte gemerkt und sind schneller als ich, als der Schreibende je schreiben könnte), das Schreiben also ist mittlerweile kaum mehr als eine mechanische Tätigkeit, die jeder verrichten könnte, es sei denn, er schriebe Gedichte, und das, schrieb ich, das liegt mir ferner als die fernste Galaxie.

Das Schreiben in einer Welt voller Widersprüche ist ein verzichtbarer Luxus, das Schreiben gehört verboten wie das Schießen, das Spekulieren, das Verhungernlassen, das einzige, was noch geschrieben werden könnte, wäre eine neue Verfassung, eine die Welt rettende Verfassung, aber wie gesagt, niemand schreibt so etwas heute, die schreibende Zunft ist ein Haufen um Reputation ringender Selbstdarsteller, die von den gleichen üblen Motiven getrieben werden wie die Schießer, die Spekulierer, you name it.

Also, schrieb ich, mein lieber Kollege, schrieb ich, überlege dir gut, ob du noch weiter schreibst.


Di 20.11.12
17:57

Bei der Recherche für meinen Lyrix-Workshop am Samstag stieß ich auf Gedichte, die selbst ich dämlicher kaum hätte schreiben können. Aber derart befeuert habe es dennoch getan. Sie werden sehen, jedem hängt eine tragische Tiefe an, die man genießen muss, andernfalls wäre es zum Verzweifeln. Hier also die Verse mit dazugehörigen *Gebrauchshinweisen.

*Zweizeiler mit religiöser Konnotation

O Gott, du hast den Müll nicht rausgebracht,
jetzt steht er da ganz still und lacht.


*Zweiteiler mit Genderappeal

Camelia, einst eine Damenbinde,
verwandelt in Marokko ihr Geschlecht,
seitdem ist sie ein Törtchen und gelinde
gesagt, steht ihr das gar nicht schlecht.


*Zweizeiler mit existentieller Konnotation

Am Horizont, die Edeltanne -
kommt heute abend in die Pfanne.

*Zweizeiler mit sexueller Konnotation (Explizit Lyrics)

Das Hühnerauge sieht sehr schlecht,
drum ist ihm jede Fotze recht.

Der Lingam freut sich schon sehr dolle,
er stich heute abend seine Olle.


Mi 21.11.12 13:08

dienstag201112

ich gehe zum vergnügen in die stadt,
8000 schritte, unterwegs kaffee,
ich atme milden herbst und sonne satt,
auf einem hügel überm see.

am ufer treff ich einen mann,
mit grauem bart und hunden,
er grüßt mich und erzählt mir dann,
dass er mich immer gut gefunden.

das freut mich, denn normalerweise
sind leser ferne unbekannte
über dem fahlen see hing leise
ein lied, das ich nicht kannte.

ich dankte für das lob und ging
zur bibliothek mit der idee,
gedichte auszusuchen, und ich fing
ein netz voll aus dem büchersee.

nun lese ich und hoffe, dass mich eines fängt,
denn samstag bin ich als experte
gebucht für eine lyrik-werkstatt, die mir in den knochen hängt,
also, "experte", gehen sie zu werke.


Do 22.11.12 00:02

in spitze winkel
ist der horizont zerteilt,
schornsteine und antennen kommen vor,
ich hab mich heute nicht beeilt,
und glaube nach wie vor,

dass auch das letzte licht im westen,
der linke fuß, mein großes herz,
das allerlei und meine besten,
mir beistehen im schmerz.

mein fuß hat weite erde,
mein herz das schwarze loch gesehn,
mein arsch sagt, komm zur erde,
es wird von selbst geschehn.

so sind sie, meine besten,
lebendig und schon tot,
ich beuge mich zum westen,
und tauch ins abendrot.

15:11

ich habe
ihnen die grundnahrungsmittel entzogen,
ich mache das wie die israelis,
wegsperren, mauer drum,
auch mal was reinschießen, rumms,
tralalalaaa, fertig.
paar tote?
egal.
unsere leute sterben ja auch.

könnt ihr nicht anders?
bitte, dann schlagt euch tot,
neu ist die technik ja nicht,
aber was heute so alles überlebt
was da nach gemetzeln in rollstühlen wackelt,
das ganze gemüse,
das wäre früher gestorben,
aber wie gesagt: das ist eure sache.

zynisch?
nein, das ist traurig.
traurig ist,
dass es täglich geschieht,
dass es sich täglich weltweit wiederholt,
dass alle es wissen.
das ist traurig.
dass es trotzdem geschieht,
das ist zynisch.

17:26

Was ich schon vor 10 Tagen befürchtet hatte, ist eingetreten. Der Deutschlandfunk hat in der Vorbereitung für seine Lyrix Werkstatt derart geschludert, dass sich niemand angemeldet hat. Na dann, dachte ich, als ich es vorhin erfuhr und atmete auf, denn es gibt Schöneres, als mit Sekundarschülern Gedichte zu schreiben. Immerhin liegt meiner roter runder Tisch jetzt voller Gedichtbände, und ich habe schon wundervolles gefunden.

Eine Art Restfrust trieb mich dann in kurzer Folge zum Küchengroßreinemachen und Fensterputzen. Als das getan war, schrieb ich mir einen Einkaufszettel, um die Spülbürste nicht zu vergessen, die ich seit Wochen kaufen will. Im Supermarktregal lagen Bürsten für 0,59, 0,79 und 1,75 Euro. Ich testete jede, fand, dass es etwas Vernünftiges sein solle, hatte auch gefunden, dass die 1,75er besser wäre, besseres Material, dachte ich und trug sie zur Kasse. Die Kassierin scannte sie ein. Die Bürste kostete 0,59 Euro. Auch ein Protest half nicht.


Fr 23.11.12 10:37

Morgens zwischen Aufwachen und Aufstehen bin ich der größte Schriftsteller der Welt. Da fabuliert mein Hirn Romane, die in sich stimmig, doch kaum fassbar sind. Heute früh hieß einer Rübe. Rübe, dachte ich im Traum, wer ist Rübe? Rübe ist doch kein Name.

Rübe schien ein vordergründig einfältiger Mann, der achtzig Menschen auseinander halten konnte, während Kühe, zitierte mein Traum zu meiner Erheiterung, 100 Artgenossen auseinanderhalten können. Rübe ist für drastische Aufgaben im Millieu zuständig. Nachdem er einige Beseitigungen spurenlos ausgeführt hatte, sah er sich plötzlich einer Flut neuer Aufträge ausgesetzt.

Rübe arbeitet nach einem ganzheitlichen Konzept. Selbst Vegetarier schien es ihm dennoch Verschwendung, seine Schlachtungen durch Säure, Verklappung, Einbetonierung und was es sonst an Möglichkeiten gibt, verschwinden zu lassen. Deshalb gründete einen Internethandel für Kannibalen. Er brummt, was Rübe viel zusätzliche Arbeit macht.

Ich stand auf, duschte, machte mir einen Kaffee und war beeindruckt.

15:18

Was nun Rübe und seine Fähigkeit, achtzig Artgenosen auseinander halten und identifizieren zu können anlangt, operiert er damit im guten Mittelfeld. Ich jedenfalls bringe es wahrscheinlich auch nicht auf mehr, wobei zu berücksichtigen ist, ob man auch Namen erinnert oder nur Physiognomien. Kühe müssen keine Namen erinnern, soviel steht fest, fest steht aber auch, dass sie tatsächlich 100 Artgenossen abspeichern können, ich erfuhr davon letztlich im Fernsehen. Also ist Fernsehen doch ein informatives Medium und Träume sind mehr als Schäume. Ob ich Rübe nun tatsächlich schreibe? Nein. Eher nicht. Obwohl, so ein Splatterroman wäre schon was Feines.

19:54

Rumba mit der Nordmeerflotte,
Flotten Otto mit der Lotte,
Lotterie in Radjasthan,
Flöten auf dem Äppelkahn.

Nageln auf dem Nagelbrett,
Brettern mit Nanette im Bett,
Bettläg'rig mit Bretterschmalz,
Schmalz verbrennen in der Pfalz.

Falze falzen im Falsett,
Setter trimmen im Quartett,
Tetras packen im Akkord,
Cordhosen und kalter Mord.


Samstag 24.11.12 13:54

So einen Samstag hält niemand leicht aus, ohne Schaden zu nehmen, schlimm aber wird es erst, wenn man beginnt, mit Zweizeilern um sich zu schlagen. Ich warne Sie, es wird ernst.

Zweizeiler

mit existentieller Konnotation

Wird die Rübe abgeschlagen,
passt das Hemd nur schlecht zum Kragen.

...ohne jeden Sinn

Tuckt der Tacker das Gesagte,
ist er selbst der Ungefragte.

...mit pornografischer Konnotation

Bleibt der Vordereingang verschlossen,
probier's hinten unverdrossen.

...mit universaler Gültigkeit

Wenn es oben gibt, gibt's unten,
gibt's das nicht, ist es erfunten.

...ohne jeden Sinn

XXXXXXXXXXXXX
YYYYYYYYYYYYY


Dämlicher Vierzeiler
mit verborgener politischer Konnotation

Herrlich war's in Transsilvanien,
blutiger noch als in Albanien,
doch das allerschönste Schlachten
fand in Gaza statt am achten.


Höhepunkt meiner heutigen Arbeit ist dieses Gedicht, ein Beispiel hervorragender, zeitgenössischer deutscher Amateurlührick

hellsichtig
dein feenkleid, du
ich - hermaprhoditenähnlich,
wir, seelen, ach, herbstzeitlose
darüber schwebend: wir - ohne hose
schau, stalaktitengleich steht es
im urgrund, ja, schmeichle mir,
gehab dich wohl, engelgleiche kokotte,
gerate in urgrund und hebe
das sein mit dem schaufelbagger,
so schwebe denn fort, herzlieb,
sei gravitätisch und verneige den busen,
den hängenden, gärten gleich,
gier gramgebeugt großem entgegen,
ja, ja, das sind wir,
hochadel im herbstnebel,
oh, du, tu es mir, tue es


So 25.11.12 16:19

Sehr ernstes Herbstgedicht

Ernst geht nicht raus, trotz Sonne, Wind und Himmel,
Ernst legt sich hin, ihm juckt die Nase,
Ernst hat den größten aller großen Fimmel,
Ernst hat die wunderbarste Blase.

Ernst will nicht, dass mit ihm mit Frohsinn kommt,
Ernst mag nicht, wenn man seinetwegen lacht,
Ernst hat den Herbst mit Schwung vertont,
Ernst hat sich was dabei gedacht.

Ernst holt sich halbwegs munter,
Ernst und gefasst ein Butterbrot,
Ernst macht Kaffe, die Welt geht unter,
Ernst starrt gefasst ins Abendrot.

Ernst geht und nimmer kehrt er wieder,
Ernst hat die Nase voll und flatuliert,
Ernst sagt, was soll's, beim nächsten Flieder,
Ist Ernst der erste, der sich gratuliert.

17:01

Auf dem Weg zwischen Tiefkühlregal zur rechten und Milchprodukten zur linken schiebt ein kleiner Mann seinen Einkaufswagen. Körper und Kopf haben normale Proportionen, er hat aber nur einen Arm, kurze, krumme Beine und läuft wie ET. Zwei blonde Mädchen, knapp sieben, starren ihn an. Da denken zwei Mädchen, was für ein kleiner Mann, sage ich zu dem kleinen Mann. Können Sie Gedanken lesen? fragt er. Ja, sage ich. Und dann schaue ich, wie er einkauft. Für die oberen Regale ist er zu klein. Ob er nur aus den unteren kauft?


Mo 26.11.12 15:46

Montags mache ich Programm. Das ist wichtig, um nicht den Kopf zu verlieren. Ich stehe auf wie gewohnt, ich trinke Kaffee und esse zwei Brote, vorher habe ich schon die erste Maschine mit Wäsche befüllt und gestartet. Während sie arbeitet, drehe ich eine Runde ums Dorf, das dauert eine halbe Stunde und führt mich vorbei an in besten Lagen stehenden Häusern, nirgendwo Menschen, höchstens, dass mal ein Schornstein raucht. Auf dem Heimweg kaufe ich Zutaten für unser Abendessen. Zuhause hänge ich Wäsche auf, Wäsche ab, bügle, hänge in Folge noch zweimal Wäsche auf, sauge Staub, fahre zum Aldi, treffe jemanden aus meiner Vergangenheit, der mich fragt, wie's so geht, und ich sage, es geht. Sie fehlt morgens, mittags und abends, aber das ist nicht zu ändern. Sie ist tot, ich lebe, ich bin nicht allein und versuche, die Familie zusammen zu halten. Mehr kann ich nicht tun. Und in drei Minuten lege ich mich aufs Sofa und träume ein bisschen.

22:11

Sommernächte tun gut, Herbst- und Winternächte nicht.


Di 27.11.12 10:19

im november

nichts da,
kein einziger gedanke,
der mehr wüsste, als ich weiß,
keine idee, aus der ich energien schweiß,
kein funke, der für's feuermachen taugt,
ein herz ja, aber müde, ausgelaugt,
kein mut, in diese dunkelheit hinaus zu gehen,
nicht einmal lust, das alles neu zu überstehen,
und wo ich hinschau, nichts als zeitvertreib,
es stimmt, mir fehlt der glaube, ich verbleib
mit grüßen an das unerfüllte...


Mi 28.11.12 11:30

Wachholder wächst dort, aber man darf nicht hingehen und ihn anfassen, die Wege sind von der übrigen Fläche durch niedrige Holzgeländer getrennt, man soll nur herumgehen und staunen, herumgehen und sich vorstellen, dass es früher einmal weite Heiden und Sanddünen und Flächen gegeben hat, auf denen Wachholder wuchs, so soll man sich das vorstellen, und dann geht man herum, ein Eichelhäher fliegt davon, der Boden ist rostbraun von Laub, ein Bach mäandert durch einen Buchenwald, und wenn man gerade zu glauben beginnt, man seit tatsächlich weit fort, hört man die große Straße, die das Gebiet im Nordosten abschneidet, und man sieht den Parkplatz des Heidekruges, aber dorthin gehen wir nicht. Wir treffen einen Hund, wir treffen zwei Männer, wir sehen einen Baggersee, und dann ist da das Landhaus mitten im dunklen Wald. Es ist alt und innendrin ist alles Eiche und WDR4, ein Dackel liegt vorm Kamin und wirft sich vor Freude auf den Rücken, als er mich sieht. Ein Mann bedient. Sein rechter Arm ist ein Stumpf, der am Ellenbogen endet. Ich finde, er sieht amputiert aus, Folge eines Unfalls, denke ich, aber sie sagt, da waren kleine Finger dran. Contergan? Altersmäßig könnte das stimmen. Beim nächsten Mal will ich genauer hinschauen, aber beim nächsten Mal habe ich es schon wieder vergessen, ich beobachte nur, wie er die Teller auf diesem Arm balanciert.

17:13

Um weiter schreiben zu können, werde ich eine Larve erfinden müssen. Am besten wäre eine mir so absurd fern stehende, dass ich hinter ihr sagen und verhandeln könnte, was immer mir gefiele. Keine Volte wäre zu abenteuerlich. So eine Larve würde meiner Prosa Beine machen. Zumindest also bleibt Hoffnung, wie immer. Nur ist die Larve noch nicht erfunden. Aber ich ahne sie immerhin, das ist Fortschritt.



Do 29.11.12 10:31

Las gestern bei Büchner (Woyzeck):
Mir wird ganz schwindlig vor den Menschen.

Mir wird ganz schwindlig vor den Menschen,
ich trete einen Schritt zurück,
aus der Distanz gesehen handeln sie in ihren Grenzen
mit allem was sie tun und haben gegen Glück.


18:10

Mein Nachbar hat mir einen Adventskranz geschenkt. Das tut er jedes Jahr und jedes Jahr freue ich mich. Aber eine Kerze darf ich noch nicht anzünden, das ist erst ab Sonntag erlaubt. Schon wieder ein Jahr, denke ich, und bin froh, dass alles gut ausgegangen ist. Trotz aller Unwägbarkeiten habe ich das kleine Polster, das ich mir in meiner kurzen Karriere als Lehrer erarbeiten konnte, noch nicht aufgebraucht, und die anderthalb Jahre bis zum Erreichen des Rentenalters überstehe ich auch. Dann lebe ich in Saus und Braus. Als erstes werde ich mir einen jadegrünen Jaguar kaufen, so einen, wie ich vorhin in der Stadt sah, einen mit Rechtssteuerung.


Fr 30.11.12 10:49

Nun ist schon wieder etwas passiert. Es ist nicht der Rede wert, könnte man meinen, aber dann redet es doch und je mehr es redet, desto ungeheuerlicher wird es. Es sagt, dass es jeden Augenblick eintreffen könne, dass es lethal sei, es lächelt unverschämt und behauptet im gleichen Atemzug, dass es das aber nicht unbedingt sein müsse, es könne durchaus noch zwanzig, dreißig Jahre so weitergehen, es könne, sagt es, Volten schlagen, von denen man in seinen düstersten Träumen nicht träumen wolle. Wie wäre es, sagt es zum Beispiel. wenn ich zwar die physischen Funktionen aufrecht erhielte, aber den Geist in die Dunkelheit führte? Gemein, sagte ich und hoffte, ich würde das nicht Aber wenn es trotzdem so kommt, werde ich es hoffentlich akzeptieren. Gut, sagt es, das ist eine Antwort, die mir gefällt. Wünsche noch einen schönen Tag. Danke, sage ich und mache mich an die Arbeit.


13:47

Kulinarische Mittagsgedicht

Eisbein, zart, in krosser Kruste,
Sauerkraut, so wie es musste,
und dazu fünf Liter Bier,
schmeckten mir, schmeckten mir.


16:32

Finanzplan 2013 war das Plakat überschrieben. Es zeigt eine strahlende junge Frau mit schulterlangem, blonden Haar. Vor diesem Plakat steht ein Kind, dass noch nicht lange laufen kann. Das Kind war zwischen den Wartenden herum getorkelt, aber da niemand sich ihm zugewendet hat, lacht es diese Frau an. Genial, dachte ich, frühestmögliche Kundenwerbung.

Alle wollen noch Geld holen, als gäbe es morgen keines mehr. Vor der Kasse staut es sich und vorm Geldautomaten ebenfalls. Ich überlege "nichts mehr drin" zu sagen, nachdem der Automat mich ausgezahlt hatte, ließ es dann aber. Die hinter mir Wartenden schienen nicht zum Spaß hier.

Die Fischfrau (wenn auch nicht die von mir wegen ihrer frischen, fröhlichen Jugend bevorzugte Susanne) beriet mich in Sachen Filet. Ich wählte Dorade. Sie schuppte den Fisch und zog mit einer Spezialzange das Rückgrat heraus.

Am Käsestand stimmte etwas nicht. Es dauerte eine Weile, eh ich wusste, was. Ihr habt ihr einen neuen Wagen, stimmt's. Stimmt, sagte der Käsemann, nicht die von mir bevorzugte Käsefrau Mitte Siebzig, mit der ich bei einer Zigarette hinterm Käsewagen dann und wann Familiäres bespreche.

An dem Gemüsestand, den ich normalerweise meide, weil ich seinen Besitzer nicht ausstehen kann, kaufte ich Shitake Pilze, ohne recht zu wissen, wofür. Dann ging ich zum Iraner, der seit einem dreiviertel Jahr ein kleines Gemüsegeschäft an der Ecke betreibt. Gestern hatte er mir gestanden, lange für die Revolution gearbeitet zu haben, jetzt aber gäbe er dem Kapitalismus den Vorzug.

Noch verwirrt über die Verwendung der Shitake Pilze riet er mir auf meine Frage nach Gemüse zu Fisch zu Fenchel, und eine blonde Mittsechzigerin, die ihren sichtbaren Verfall übertrieben überschminkt hatte und dort einkauft, weil der Iraner mit ihr flirtet, dass es eine Pracht ist (wie er das bei mir, wenn auch auf anderer Ebene, ebenso tut, weshalb ich glaube, dass sich sein Geschäft etablieren wird), flirtete plötzlich mich an und riet mir zu Weißwein. Ich verriet ihr nicht, dass ich plante, Rotwein zu kaufen, musste ihr aber versichern, dass ich den Fenchel genau so zubereite, wie sie es mir gerade beschrieben hatte.

Beglückt von so viel sozialer Interaktion ging ich heim und kochte mir einen Kaffee, den ich mit einer Spur Zimtzucker süßte.







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