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Hermann Mensing

Romananfang 1

Der Mann sah nicht aus, als habe er Pläne. Er sah auch nicht aus, als habe er aufgegeben. Der Mann sah aus, als versuche er, unauffällig zu sein, was einem scharfen Beobachter natürlich hätte auffallen können.

Er setzte sich in ein Café, er schaute, er las Zeitung, er telefonierte.
Ob die Wahl des Cafés zufällig war oder nicht, ist schwer zu sagen, aber es war ein Café in strategisch günstiger Lage. Ob die Zeitung ihm Profil geben sollte oder einfach nur eine Zeitung war, nach der er gegriffen hatte, weil sie in einem der Zeitungsständer stand, wissen wir auch nicht.

Wir wissen nichts von dem Mann, obwohl am Tag darauf die Zeitungen voll von ihm waren.
Viele hatte ihn gesehen. Manche konnte die genaue Tageszeit nennen, andere wussten, was er bestellt hatte, wieder andere erinnerten sich an die Zeitung, die er gelesen hatte. Es gab sogar jemanden, der meinte, gehört zu haben, der Mann habe mit seiner Mutter telefoniert, um sich von ihr zu verabschieden.

Erstaunlich, dass trotz der Gewalt der Explosion so viele Augenzeugen überlebt hatten. Von dem Mann jedoch war nichts übrig geblieben. Als man Tage später Reste eines Mobiltelefones fand und begann, aus den Überresten Adressbuch, geführten Telefonate, gespeicherten Fotos und SMS zu rekonstruieren und ein Profil zu entwerfen, stellte sich schnell heraus, das es sich bei dem Mann um den Schriftsteller K. gehandelt haben musste.

Dieser K., schrieben die Zeitungen, habe in den frühen Achtzigern ein wildes Leben gelebt. Er sei, las man, ein Punk gewesen, ein Punkliterat, der mit ausufernden Lesungen Furore gemacht, mit Selbstverstümmelungen Aufmerksamkeit auf sich gezogen, ein paar Jahre im Literaturbetrieb eine Rolle gespielt habe, seitdem aber in der Versunkung verschwunden sei. Weder sein Verlag noch sonst jemand wisse, wo er sich in all den Jahren aufgehalten, was er getan, wovon er gelebt habe.

Dann aber zerfiel dieses Profil wie Staub, denn der Schriftsteller, um den es sich handelte, meldete sich bei einer großen Presseagentur. Er meldete sich, um zu sagen, dass es sich bei dem Mann, der in jenem Café die Explosion verursacht habe, nicht um ihn handele, er könne das beweisen, ansonsten aber solle man ihn in Ruhe lassen.

Rückfragen liefen ins Leere, der Mann, von dem man angenommen hatte, er sei bei dem von ihm verursachten Anschlag ums Leben gekommen, der Schriftsteller K., der in den Achzigern ein wildes Leben gelebt hatte, dieser Mann hatte der Pressesagentur unzweifelhafte Beweise hinterlassen, unter anderem ein Foto, das ihn bei der Lektüre einer Tageszeitung zeigte, die zwei Tage nach dem verheerenden Anschlag erschienen war.

Die Ermittler versuchten alles, stellten aber fest, dass das Telefonat, das der Mann mit der Presseagentur geführt hatte, aus jenem Café geführt worden war, das es seit der Explosion nicht mehr gab, was Spekulationen anheizte, die dem Boulevard noch für Wochen erhöhte Auflagen bescherten, sodass schließlich ein für das BKA arbeitender verdeckter Ermittler zu dem Schluss kam, diese Geschichte sei rundum erfunden, weder habe es diesen Mann, dieses Café, noch diesen Anschlag je gegeben, man habe bei der Geschichte auf Fotos zurückgegriffen, die entstanden seien, als man das Gebäude, in dem sich besagtes Café befand, im Rahmen der Neugestaltung der Innenstadt abgerissen habe.

Kurz darauf meldete sich der Schriftsteller, dem man das Attentat zur Last gelegt hatte, in einer Kolumne einer angesehenen Wochenzeitung zu Wort. Er habe, sagte er, nach sorgfältiger Überlegung beschlossen, die Hintergründe dieser Geschichte öffentlich zu machen.

Über all die Jahre habe er im Stillen gearbeitet, ohne je wieder die Aufmerksamkeit erreichen zu können, die er in den Achtzigern erreicht habe, nur, weil er damals jung, wild und zu allem bereit gewesen sei, ja, sogar zur Selbstverstümmelung.

Die Einkünfte seines damaligen, kurzzeitigen Ruhms hätten es ihm jedoch gestattet, ein - wenn auch bescheidenes - Leben in der Stille zu führen. In all den Jahren habe er gearbeitet, ohne dass jemand von ihm Notiz genommen hätte. Dann aber seien diese Reserven langsam zur Neige gegangen, so dass er sich gezwungen gesehen hätte, erneut auf sich aufmerksam zu machen.

So sei er schließlich auf die Idee gekommen, ein Attentat zu inszenieren. Er habe eine Weile überlegt, ob er seine Gewalttat irgendeiner Sache widmen solle, dem Kampf gegen das Kapital etwa, dem Kampf gegen die Umweltzerstörung, dem Kampf gegen Bodenminen, dem Kampf gegen Massentierhaltung, dem Kampf gegen den Ziosnismus oder sonst irgendeinem Kampf, sei aber schließlich zu der Überzeugung gelangt, das Attentat als Kunstwerk an sich zu inszenieren und es dem Betrachter zu überlassen, welchem Kampf es gewidmet sei.

Der Presse nach dem Attentat habe er denn auch entnehmen können, dass sie - je nach weltanschaulicher Orientierung - schnell mit Zuschreibungen in diese oder jene Richtung bei der Hand gewesen sei, sodass er, der Schriftsteller, vollauf zufrieden sei mit der Wirkung dieses Attentates, das ja in Wirklichkeit nie stattgefunden habe.

Er bedanke sich für die Aufmerksamkeit und werde in Kürze (nächste Woche schon) mit einem neuen Roman an die Öffentlichkeit treten, der die Hintergründe dieses Attentates beleuchte, ein bewegender Roman (Zitat) über die Mediengläubigkeit der Gegenwartsgesellschaft und ihrer Sucht nach Gewalt.

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