Bourtange
Ich renne wie vom Teufel gehetzt. Fünfmal war ich mit dem 49Euro Ticke ohne Fahrradticket unterwegs, nie hatte man mich kontrolliert, aber jetzt, hier, Rheine, Stadt an der Ems, nicht besonders schön, aber mit Kindheitserinnerungen verknüpft, weil der geizige Onkel Ewald hier lebte, der sich die Bonbons für mich in seinem Laden von meinem Vater bezahlen ließ, hier stellt der Schaffner die entscheidende Frage. Ich hätte sagen können, nö, wir haben keine Räder dabei. Dumm nur, dass wir die einzigen Fahrgäste im Fahrradabteil sind. Also sage ich: Ja, tut mir Leid, wir hatten keine Zeit beim Ein- und Umsteigen, und einen Automaten haben wir nicht gesehen. Ich wollte sie bei Ihnen kaufen. Der Schaffner, Ende vierzig, volles dunkles Haar, zurückgekämmt, rasiert, dunkelblaue Hose, Weste, DB Schlips, hellblaues Hemd, schüttelt den Kopf. Ich finde das dreist, sagt er. An jedem Zug steht, kein Einstieg ohne gültige Fahrkarte. Ich sag' Ihnen was, Sie haben zwei Möglichkeiten. Die erste kostet Sie 60 Euro pro Person. Die zweite: Sie steigen aus, kaufen ein Fahrradticket und nehmen den nächsten Zug. Oh nööööö, sagte die Liebste, nööööö. Er fährt stündlich, sagt der Schaffner, aber unser Zug muss wegen eines uns überholenden Zuges noch etwa drei Minuten warten. Der Automat steht in der Halle.
An der Treppe beginnt meine Hose zu rutschen. Ich hatte mich am Morgen auf den letzten Drücker für die Jeans entschieden, aber den Gürtel vergessen. Aufpassen. Nicht stolpern. Wie auf jedem Provinzbahnhof endet sie an einer mehr oder minder schmuddligen Unterführung. Die Halle ist rechts. Der Atem geht kürzer. Beide Fahrkartenautomaten sind besetzt, aber als ich heran bin, wird einer frei. Mir ist warm geworden. Display checken. Atmen. Fahrradkarte. Anzahl: 2. Zahlen. Komm schon, blöde Sau. Und zurück, hundertfünfzig Meter im Trab. Welcher Bahnsteig war's noch? Zwei? Ja, zwei. Treppe hoch, Bergprüfung, rot gepunktetes Trikot, aber die Hose, verdammt. Linke Hand am hinteren Hosenbund, schnaufend. Ein Mann Mitte Siebzig. Bestnoten für Haltung. Repsect. East Side is da best. Der Zug wartet noch und Sie winkt. Steig ein, ruft sie und schiebt die Räder zurück in den Zug.
In Salzbergen geht mein Atem fast wieder normal. Ich bin ein bisschen stolz. Der Schaffner taucht nicht wieder auf. Vom Zielbahnhof fahren wir schnurgeradeaus in das Straßendorf Dörpen. Fast alles links und rechts ist aus den Siebzigern und Achtzigern, Rathaus, Feuerwehr, Sparkasse, Polizei, Aldi, Friseur, Döner, Eisdiele, nebeneinander und gegenüber. Wir sitzen bei Musswessel, ein Bäcker, der seit 1862 backt, mit Herz und mit ... steht auf einem Plakat und wir rätseln, wofür die Punkte stehen. Wir trinken Bäckercappuccino. Ich esse eine Rosinenschnecke, sie einen Apfelberliner. Lecker ist nichts davon.
Wir sind auf dem Weg nach Bourtange. Eine Anfang des 16. Jahrhunderts gebaute, sternförmige, dreifach gestaffelte Festung, in der kaum 200 Menschen leben. Hinter der Emsbrücke weist ein Wegweiser hinunter zum Emsradweg, aber da sträube ich mich, der führt in die falsche Richtung, auch, wenn es der richtige Weg sein mag. Wir folgen der Straße. Eine arabische Familie mit drei Kindern kommt uns auf Rädern entgegen. Moin, rufen sie fröhlich, wie alle hier moin rufen, eine sehr schöne Sitte. Wir fahren durch Heede, fragen, passieren einen See, und dass wir in Holland sind bemerken wir an dem ehemaligen Zollhäuschen zwischen Feldern und Wiesen an einer ruhigen, von Eichen gesäumten Straße. In Bourtange steigen wir auf die Schanze und umrunden die Festung. Man hat sie gebaut, um den einzigen Handelsweg durch das Moor von Groningen über Lingen nach Münster zu sichern. Sie wurden nie eingenommen, bis Napoleon kam. Auf den steilen Hängen der Wälle wird Gras gemäht. Ein zweirädriges Fahrzeug mit einem langem, hydraulischen Ausleger am Hang, an dessen Ende Doppelreifen das Fahrzeug stabilisieren und einer langen Auslegerschere. An den Ecken der Schanze stehen Kanonen. Um den sternförmig, mit Backsteinen gepflasterten Dorfplatz gibt es drei Restaurants, eine kleine Boutique, ein Kapitänshaus. An der Ost- und Westseite stehen kleine Häuser, in denen 60000 Pfund Schwarzpulver lagerten. Im Dorf gib es eine Kirche, eine Mühle und eine Synagoge. Fünfzig Menschen haben die Nazis nach Westerbork geschafft und von dort weiter nach Auschwitz. Zwei sind zurückgekehrt. Ein Dritter hat sich verstecken können. Auf dem Heimweg werden wir nach unseren Fahrradtickets gefragt. Wie sich herausstellt, sind es die falschen. Ich hatte das NRW Ticket gekauft. Ich hätte das NRW-Niedersachsen-Transit-Ticket kaufen müssen. Aber man drückt ein Auge zu.