Hermann Mensing

Cowboys

Herr Vorrink und Hans betreten Frau de Roys Leihbücherei. Hans zieht seine Jacke aus, hängt sie an einen Haken hinter der Tür, setzt sich auf einen Stuhl neben dem Ofen und fängt an zu träumen.

Pferde schnauben. Aus Saloons kommt Musik. Manchmal duckt er vor Kugeln weg. Frau de Roy hält eine goldene Zigarettenspitze. Ihre Fingernägel sind lang, spitz und blutrot. Unter ihrem Angorapullover wölben sich riesige Brüste.

"Magst du einen Bonbon?" fragt sie.

Hans nickt.

Sein Vater legt einen Stapel Wildwest-Romane auf ihren Schreibtisch. Hans starrt auf ihre Brüste. So etwas hat seine Mutter nicht, jedenfalls nicht sowas Großes und Spitzes.

Die Bücherei ist auf Liebes- und Wildwestromane spezialisiert. Auf den Umschlägen sind reitende Cowboys mit Lassos und kantigen Gesichtern. Die Büche­rei ist so etwas wie der Außenposten des Propagandaministeriums eines Landes, das Amerika heißt.

Hans weiß, daß es so ein Land gibt.

Wie man hinkommt, weiß er nicht, aber er nimmt an, daß man den Bahnschienen folgen muß. Eines Tages wird er ihnen in den Sonnenuntergang folgen.

Vorbei an den Lokomotivschuppen, vorbei am Rangierbahnhof, über den Kleiberg und die Kamelbrücke, vorbei an der Schnapsfabrik Viefhues, über die Grenze und immer weiter.

Er schießt aus der Hüfte. Die Stadt wimmelt von Cowboys seines Alters. Es wird nicht mehr lange dauern, und er ist der bestangezogene Cowboy der Stadt. Einer mit Winchesterbüchse, fellbesetzter weiter Hose, mit kariertem Hemd, breitem Gürtel, Colt, Manschetten, Halstuch und Stetson. Wenn er die Büchse anlegt, zielt und schießt, stirbt einer. Einer reißt die Arme hoch und ist tot.

"Du bist tot!" ruft Hans. Einer springt hinter den Busch und schreit: "Nein du!" Hans schießt noch einmal. Einer reißt die Arme hoch und bricht schreiend zusammen. Hans versetzt seinem Opfer einen Tritt. Das Opfer stöhnt. Hans schießt ihm ins Genick und rollt es zur Seite.

Er will sehn, ob es tot ist.

Frau de Roy sortiert Bücher ein.  

Sie ist Holländerin. Die Stadt, in der dies alles spielt, ist eine Grenzstadt. Wer mit dem Zug kommt, sieht Fabriken zu beiden Seiten. Jede hat ein Wahrzeichen: den braunroten Backsteinturm mit Zinnen die eine, einen Kühlturm aus Holz die andere. Darüber steht oft weißer Rauch wie gezupfte Watte. Es sind Textilfabriken. Sie gehören Cousins. Die Stadt lebt von ihnen. Und nicht nur die Stadt. Es kommen auch Leute von der anderen Seite der Grenze: Weber, Drucker, Spinner, Färber, Maschinenschlosser, Elektriker und Büroangestellte.

Herr Vorrink ist Musterzeichner. Hans weiß, daß es zwei Sorten Menschen gibt: die einen wohnen in Siedlungen. Eine Siedlung heißt Klein-Rußland. Eine andere Klein-Marokko. Noch eine andere Musikantensiedlung. Hinter jedem Haus ist ein Garten. Angestellte wohnen da nicht.

Die Angestellten haben es bes­ser: ihre Arbeit ist sauber und ruhig, sie verdienen mehr und müssen nicht so früh aufstehen.

"Helf mir mal, Hans!" ruft Frau de Roy.

Sie steht auf einer Leiter vor einem Regal.

Herr Vorrink sitzt am Schreibtisch und blättert in einem Buch. Hans steht auf und geht zu ihr. Er mag ihren Geruch nicht. Sie riecht wie etwas Verbotenes. Ihre Beine sind stark behaart - dunkles, fast schwarzes Haar, das von den Seidenstrümpfen an die Waden gepreßt wird.

"Nimm mal die Bücher!" sagte sie.

Hans nimmt sie und stolpert.

"Paß doch auf!" Sein Vater wirft ihm einen bösen Blick zu.

"Er träumt", sagt Frau de Roy beschwichtigend, steigt von der Leiter, geht zum Schreibtisch, nimmt die Zigaretten und bietet Herrn Vorrink eine an.

Er nimmt sie.

Das wundert Hans, denn sein Vater ist Nichtraucher.

Er legt die Bücher auf ihren Schreibtisch und setzt sich wieder. Das Ofenrohr glüht. Drei Gangster öffnen die Tür des Saloons. Sie sind schlechter Laune und beginnen zu schießen. Der Wirt verschwindet hinter der Theke. Über ihm zerplatzen die Flaschen in schneller Folge.

Hans duckt sich, aber der Spuk dauert nicht lang.

Er atmet auf und starrt wieder auf Frau de Roys Brüste.

Sein Vater leiht drei Bücher aus.

Eins heißt "Der Coyote", eins "Die Schlucht am Black River" und eins "Westwärts".

Auf dem Heimweg spricht er mit dem Fahrradmechaniker Pankratz, ein kleiner, drahtiger Mann. Sie reden über Fußball, und werden von allen Seiten gegrüßt.

Hans steht zwischen den Männern.

Er fühlt sich klein und ohne Bedeutung.

Sein Vater weiß so viel von der Welt. Sogar in Amerika war er schon mal. Und früher war er ein berühmter Fußballer. Einer, der alles ganz allein machen konnte: der gefährlichste Mann auf dem Platz.

"Bei Schalke hätte ich spielen können!" sagt er oft.

Als er 1947 aus der Gefangenschaft kam, wollte er gleich wieder zurück. Nach zwei Jahren Kriegsgefangenenlager in Oklahoma war er überzeugt, daß er in Amerika Fuß fassen könnte. Aber er hatte die Rechnung ohne seine Frau gemacht. Sie hatte den Krieg allein überstanden, ihre älteste Tochter war an Scharlach gestorben, das alles waren böse Erinnerungen, aber nichts und niemand würde sie von hier fortbringen.

Hans weiß nicht, ob sie kalt oder warm ist.

Aber stark ist sie, das spürt er. Stärker als sein Vater.

Sein Vater ist warm. Nur wenn er die Nerven verliert, ist es besser, außer Reichweite zu gehen.

Seine Frau ist ein "Miststück", seine Tochter ein "Flittchen" und Hans muß erst noch beweisen, daß er "keine Null" ist."

Niemand ahnt, daß er das nie sagen wollte.

Er gerät einfach außer Kontrolle, mehr nicht.

Entschuldigen kann er sich nicht. Dazu ist er zu stolz.

Er hätte mehr aus sich machen können, aber nun sitzt er fest. Er hat sich gegen seine Frau nicht durchsetzen können. Dreiundzwanzig Jahre war er Mittelstürmer der ersten Mann­schaft, jetzt ist er nicht mal mehr im Verein. Seinen Austritt hat niemand verstanden, und er hat ihn niemandem erklärt. Tatsache ist: der Verein hatte versäumt, beim DFB eine goldene Ehrennadel für ihn zu beantragen.

Einmal die Woche geht er zur Chorprobe.

Manchmal spielt er Theater in der Concordia.

Wenn die Laienspielschar der Firma probt, wirkt er entspannt.

Er ist Spezialist für Liebhaber und Trickbetrüger.

Und eitel ist er.

Er tut alles, damit andere Leute glauben, er sei ein feiner Kerl. Alle glauben es. Sie finden ihn hilfsbereit. Sie halten ihn für einen Witzbold.

Wenn er sich eine Zahnbürste unter die Nase klemmt, und dem deutschen Volk Marmelade verspricht, toben die Leute.

"Mein Führer, wir folgen dir!" rufen sie.

Den Nörgler aber, den Brüter und Hypochonder, der nicht mehr auseinanderhält, welche seiner Krankheiten eingebildet und welche wirklich ist, kennt niemand außer seiner Frau, seiner Tochter und Hans.

Aus:

Hermann Mensing

Die Verheißung der Sonnenuntergänge in Arizona

(unveröffentlicht)  1992)

 

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