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Hermann Mensing

Märchenzeit

 

Das Meer lag wie ein Spiegel und verschwamm mit dem Horizont. Die Fähre nach Oslo, ein mächtiges Schiff, schwebte in der Ferne vorbei. Auf den granitenen Buckeln der Insel leuchteten rostrote Holzhäuser in der Nachmittagssonne.

Von weitem flogen Stimmen herüber - Jungen und Mädchen zwischen fünfzehn und siebzehn, wie Paul fast alle das erste Mal mit einer Gruppe in Ferien.

Paul saß abseits auf einem Fels.

Er war sicher, dass keiner Augen hatte für das, was für alle sichtbar war. Sie hatten andere Interessen.

Das war gut so, denn nur so war es ihm möglich gewesen, herumzustreifen, ohne dass man ihn mit Cola bespritzt oder gefragt hätte, was er von dem oder dem Mädchen hielt.

Es gab drei oder vier, die ihm gefielen, aber selbst, wenn sie neben ihm gingen, waren sie ihm fern wie Sterne.

Er konnte sie riechen, sich an ihnen berauschen, aber ihre Spiele spielte er nicht. Das wäre ihm viel zu gefährlich gewesen. Er wäre errötet. Ihm wären die Worte im Hals steckengeblieben. Nicht eines hätte geklungen wie die, die er abends im Bett sprach, wenn er sich vorstellte, sie endlich zu treffen.

Kurz vorm Einschlafen formte sich jedes Wort mühelos. 

Dann war eines mächtiger als das andere.

Mit jedem brachte er Mädchen dazu, ihm gebannt zuzuhören. Jeden Wunsch lasen sie ihm von den Lippen ab, mehr noch, er brauchte den Wunsch nicht einmal aussprechen.

Ihn denken genügte!

Nur denken, wie früher, als er noch in der Märchenzeit lebte und alles möglich war.

Die Schiffssirene heulte, das Zeichen.

Paul nahm seinen Rucksack und machte sich auf den Weg.

Bis zum Anleger war es nicht weit - Marstrand ist eine kleine Insel.

Nach und nach trudelten alle ein und gingen an Bord.

Die Nachzügler waren die gleichen, die immer zu spät kamen. Sicher hatten sie Bier getrunken und Joints geraucht, beides kam vor; sie giggelten und hatten gerötete Augen. Ein paar Mädchen sahen aus, als hätte jemand versucht, ihnen unter die gerippten Pullover zu greifen.  

Die Fähre legte ab. In den Wellen, die sie seitwärts davonschob, tanzte ein Himmel kopfüber und erinnerte Paul daran, dass er den Brief an Linda zuende schreiben wollte.

Linda lebte in London.

Er hatte sie vor gut einem Jahr bei einem Internet-Chat kennengelernt. Seitdem wechselte ein Brief den nächsten.

In Briefen machten ihm Mädchen nichts vor.

Da hatten sie keine Chance, ihn so zu verwirren, dass ihm das Blut in den Kopf schoss, was sie gern an ihm ausprobierten. Manchen schien es Spaß zu machen, sich auf seine Kosten mächtig zu fühlen. Verursacher einer Verwirrung zu sein, die er nicht einmal richtig benennen konnte. Außer vielleicht, dass man so etwas Schüchternheit nannte. Aber war bedeutete das schon.

Paul besaß ein Foto von Linda. Love Linda stand hintendrauf. Seit er gemerkt hatte, dass die meisten nicht wussten, dass love Linda nicht mehr bedeutet als deine Soundso, zeigte er das Foto manchmal herum und prahlte.

Gestern Abend zum Beispiel, unten am See.

Bei manchen Jungen galt nur, wer schon mal hatte.

Paul hatte noch nie, aber das musste ja niemand wissen.  

Die Fähre nahm Fahrt auf.

Paul stand am Heck und sah in das schäumende Wasser.

"Hi Pauli! Wo warst du - ich hab dich gesucht?" sagte jemand. Paul drehte sich um. Laura strahlte ihn an. Ihre Haut war kakaofarben, ihr Gesicht schmal und stolz, wie das ihres Vaters. Auf der Hinfahrt hatte sie ihm ein Foto gezeigt. Ihr Vater war Ghanaer, Pauls Mutter war Holländerin, darüber waren sie ins Gespräch gekommen.

Paul errötete. Laura war schön. 

Aber er hasste es, wenn man ihn Pauli nannte.

"Äh - da hinten", sagte er, zeigte zum Horizont und spürte,  wie es ihm wieder die Kehle zuzuschnüren begann. Er wollte noch etwas sagen über den Horizont, aber es ging nicht. Also schwieg er.

Nach einer Weile ging Laura weg.

Eine Junge warf eine leere Cola-Dose über Bord.

An Land stiegen alle in einen Bus, der sie zurück nach Harskogens Friluftgaard brachte, ein Landschulheim an einem See in den Wäldern bei Göteborg, ein Holzhaus mit Terrasse, Schlafsälen und Aufenthaltsräumen.

Am Abend spielte Paul Fußball vorm Haus. Jemand verzog eine Flanke, der Ball drehte in hohem Bogen weg, landete auf dem Parkplatz und rollte hinter einen Wagen. Paul lief hinterher. Als er sich bückte, um den Ball aufzuheben, setzte der Wagen zurück und warf ihn um.

Paul schrie. Der Wagen hielt. Paul rappelte sich auf und trat wütend gegen die Tür. Eine junge Frau stieg aus. Sie war bleich vor Schreck. Als sie fragte, ob alles in Ordnung sei, traf es Paul wie ein Schlag.

"Ja, ja", sagte er, "alles in Ordnung."

"Dann ist ja gut", sagte sie, entschuldigte sich und fuhr davon. Paul hatte sie schon ein paar Mal gesehen, ohne sich etwas dabei zu denken. Sie arbeitete im Haus. Sie sprach gebrochenes Deutsch, ein unnachahmlicher Singsang mit unter dem Gaumen gerolltem RRRR.

Etwa so: RÜHRRREI.

In der Nacht träumte er von ihr. Am nächsten Morgen lächelte sie ihm zu. Sonne und Mond gingen auf und sein Herz begann zu rasen. Am Abend ging er zum See. Ein Feuer brannte, jemand spielte Gitarre, ein paar Jungen alberten mit schwedischen Mädchen. Einer schleppte eins zum See, um es ins Wasser zu werfen. Es kreischte.

Paul hatte keine Lust auf kreischende Mädchen.

Er hatte den ganzen Tag an die Frau mit dem Auto gedacht. Sie hieß Siv und wohnte in einer Blockhütte ein wenig abseits. Durch die Äste der Bäume hindurch sah er, dass sie noch Licht hatte. Ob er zu ihr gehen sollte?

Das Feuer brannte herunter.

Es war ruhig und der Himmel spannte sich endlos, ein tiefschwarzes Netz, in dem Millionen Lichtfische zappelten.

Siv gefiel ihm. Der Name gefiel ihm, ihm gefiel, dass sie schon so erwachsen war; ihr dunkelbrauner Bubikopf, ihre grünen Au­gen, ihre Figur, ihre Stimme, alles verzauberte ihn. Das Licht in der Blockhütte brannte immer noch.

Paul hätte nur aufstehen müssen, um hinüberzugehen, aber er traute sich nicht... 

den Rest der Geschichte findet ihr in:

Prickeln auf meiner Haut

10 Geschichten über das erste Mal, Ueberreuter 1999

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