März 2001 www.hermann-mensing.de
mensing literaturDo 1.03.01 7:56 (1.03.1973 rio de janeiro/brasilien)
Ein bis zwei Gründe, sich ein Ohr abzuschneiden. Täglich.
Fr 2.03.01 8:20 (2.03.1973 rio de janeiro/brasilien)
Wegen Ratlosigkeit vorübergehend geschlossen.
9:50
Niemand konnte sitzen wie er. Sein Stuhl stand unterm Küchenfenster, damit er die Ereignislosigkeit der Straße mit allen Sinnen aufnehmen konnte. Stunden um Stunden verbrachte er in bewegungsloser Aufmerksamkeit, was ihn entweder erheiterte oder in düstere Stimmungen trieb. Heute schien der Tag heiter. Je tiefer sich die grauen Wolken herabließen, je häufiger sich vereinsamte Schneeflocken zu größeren Verbänden zusammentaten, um dem Winter ihren Abschied zu tanzen, desto erfreuter registrierte er, wie er ohne jeden Einfluss auf den Gang der Dinge nehmen zu können seinem Leben zuschaute und es aufforderte, mit ihm zu tanzen. Fehlte nur noch Musik.
11:34
Keine neuen Nachrichten. Sollte nicht ununterbrochen das Telefon klingeln, um dem Tag Sinn vorzutäuschen. Stattdessen: keine neuen Nachrichten. Keine Musik.
13:23
Körperflüssigkeiten werden vermengt, haarsträubende Versprechungen gemacht, die Kreislauf, Schlaf und Verdauung beeinträchtigen. Benebelt taumle ich durch Jahreszeiten und hoffe auf Bestätigung. Möglich, dass ich mich vorm Alleinsein fürchte, möglich, dass ich zu viele Lieder gehört habe, letztlich aber will nur die Natur ihr Recht, den Rest bilde ich mir ein. Warum sollte es mir besser gehen als einem Goldfisch, dessen Kurzzeitgedächtnis so kurz ist, dass er das Glas, in dem er im Kreis schwimmt, aufregend und interessant findet. Oh ist das aufregend und interessant. Oh oh oh. Und noch immer keine Musik. Vielleicht sollte ich es mit "walking into clarksdale" von Jimmy Page und Robert Plant versuchen.
16:37
Gottes Wort 4:
Gott sprach: Hermann, ich hätte dir einen Tumor hexen können, also hör auf, rumzunölen. - Ich: Hättest du. Hast du aber nicht.
17:39
Die Choreographie, nach der wir auf dem Wochenmarkt kaufen, heute mutig durchbrochen. Gemüse und Narzissen also bei Bauer Hoffschulte, wo wir bisher fast nie gekauft haben, keine Änderung bei den Kartoffeln, doch da, wo wir sonst Gemüse kaufen, diesmal kühle Mißachtung. Warum? Wir wissen es nicht. Manchmal genügt ein Blick, das Gefühl von Verbundenheit, das einen zwang, hier und nirgendwo anders zu kaufen, zu missachten. Eigentlich wollte man das doch schon seit langem, oder? Beim nächsten Mal tut man es wieder, beim übernächsten auch, vielleicht sogar noch beim dritten Mal, spätestens dann fällt man in die alten Gewohnheiten zurück. Danach kann es wieder Jahre dauern, bis man sich aufs neue traut.
Sa 3.03.01 9:43 (3.03.1973 rio de janeiro/brasilien)
"Man erwacht, geht auf die Straße und überlebt. Das macht fröhlich." (1)
15:58
Hervorragend die Note für die Seitenlage: den rechten Arm angewinkelt, die Wange in der Handfläche lagernd, die Beine eng und in embrionaler Haltung. Tadellos wie M. den Schwung des Winterschlafs nutzt, um zur Frühjahrsmüdigkeit überzugehen. Souverän seine ruhigen Atemzüge, bewundernswert die Lethargie, mit der er den Samstag vergammelt, während der Himmel in Grau ersäuft wie ein Rudel hungriger Wölfe in der Tundra.
21:34
Bestnoten auch für Urin und Stuhlgang, PSA, Blut und das EKG. Allerdings leicht erhöhte Cholesterinwerte. Verwunderlich seine Affinität für Menschen mit slawischem Akzent.
So 4.03.01 10:23 (4.03.1973 rio de janeiro/brasilien)
Das Wolfsrudel vagabundiert noch. Ich höre Ricki Lee Jones "its like this". Ich trinke Tee. Ich lese Haruki Murakamis Erzählungen "Der Elefant verschwindet." Ich bin in allem unzuverlässig und vertraue niemand an, was ich denke. Ich denke alles mögliche. Manches erschreckt mich. Anderes erheitert mich. Vieles ist einfach nur nutzlos. Ich mute es dennoch niemandem zu. Nicht einmal meinem Tagebuch. Sollte ich also jetzt tot umfallen, niemand würde je erfahren, was mit mir los war. Aber noch lebe ich. Und vielleicht finde ich in meinen Geschichten Löcher, die ich mit meinen Geheimnissen stopfen kann. Wer weiß.
13:46
In Rio war ich König der Welt, in Tokyo hatte ich an jedem Finger eine, in San Francisco sowieso, in Queens experimentierte ich mit Diaphragmen, in La Paz mit Kokain, in Mangalore aß ich Opium zu Frühstück, in Amsterdam LSD und in Oaxaca magische Pilze, das Blaue kann ich vom Himmel lügen, es wird nichts daran ändern, dass ich an meinem Schreibtisch sitze und versuche, den Tag zu verbringen. Ich lese mich dumm. Ich denke Dinge nicht, die ich denken will. Ich zwinge mich, Dinge zu denken, die mich von den Dingen, die ich eigentlich denken will, ablenken. Ich beschäftige mich mit nichts. Ich treibe durch den Tag. Manchmal gelingt es mir, etwas Nützliches zu tun: Fenster zu putzen etwa, aber die Wahrheit ist, dass ich zu nichts Lust habe. Ich könnte mich kaputt lachen über mich. Vielleicht stimmt es. Vielleicht bin ich Dr. Ohrenbär.
Mo 5.03.01 7:35 (5.03.1973 rio de janeiro/brasilien)
Ja. Könnte wahr sein das alles. Gleich verlasse ich das Haus und fahre in mein Büro. Kehre dahin zurück, wo ich begonnen habe. Befasse mich wieder mit dem Versenden von Waren kreuz und quer durch Europa. Guten Morgen liebe Ware, wohin willst du denn heute?
8:37
Gestern gegen 20:00. Wir kamen aus dem Kino.Der nächste Bus fuhr erst in zwanzig Minuten. Nicht weit von der Haltestelle stand eine Frau Anfang dreißig in einer Tankstellenausfahrt und wich keinen Meter, wenn Autos ein- oder ausfuhren. Ihre Jeansjacke lag vor ihr auf dem Boden. Sie stand leicht vornüber gebeugt, die Arme vor der Brust verschränkt. Sie sah gut aus, ein wenig hager, aber nicht vernachlässigt. Wäre ein Bus gekommen, wir hätten uns nicht weiter um sie gekümmert, aber so geriet sie in den Mittelpunkt unseres Gespräches und wir beschlossen, zumindest hinzugehen und zu fragen, ob wir ihr helfen können. Sie stand da mit geschlossenen Augen. Als ich fragte, ob wir etwas für sie tun könnten, sie brauche keine Angst zu haben, senkte sie den Kopf und lächelte flüchtig. Wo sie wohne, fragte ich und sie sagte Grevener, und ob wir sie bringen sollten. Sie nickte. Chris hakte sich bei ihr ein. Sie hatte Schwierigkeiten, ihre Bewegungen zu koordinieren, aber im Kopf schien sie klar. Wir erklärten ihr, dass wir unseren Sohn anrufen würden, der käme mit dem Auto, dann brächten wir sie heim. Ja danke, sagte sie und als ich sie fragte, ob sie einen Kaffee wolle, sagte sie nein, es ginge schon, und als ich fragte, ob sie nicht doch einen Arzt wolle, sagte sie, nein, nur nach Hause, da käme sie schon zurecht. Wir brachten sie heim. Uns fiel auf, dass sie häufig die Augen schloss, so, als wolle sie nicht sehen, was um sie herum ist. Aber sie sprach klar und deutlich. Nur ihr Körper schien ihr nicht zu gehorchen. PS. Wer glaubt Quentin Tarrantino könne Filme machen, möge sich "yen town" anschauen.
13:54
Gottes Wort 5:
Und Gott sprach: Hermann, morgen wirst du 52. Ich: ach ja? Und du???? (Gelächter)
17:18
Gottes Wort 6:
Und Gott sprach: Tilt. Ich: Ja dann...
17:22
Man bildet sich's ein oder man sieht es dem Himmel an, man hört's an den Vögeln oder man denkt, dass man's hört, man spürt's an den Menschen oder man hofft, dass man's spürt, der FRÜHLING kommt, wispern alle, der FRÜHLING kommt, ja.
Di 6.03.01 8:18 (6.03.1973 rio de janeiro/brasilien)
Lieber Herr Mensing,
Ihr Geburtstag am 6. März ist für uns ein freudiger Anlass, Ihnen auf diesem Wege die herzlichsten Glückwünsche zu übermitteln.
Weiterhin Gesundheit und alles Gute
Dr. Johanna R. Geschäftsführerin
9:51
Dieser Tag wird vergehen wie andere Tage auch. Übermorgen werde ich mich schon kaum noch an ihn erinnern, es sei denn, ich hätte System in meine Aufzeichnungen gebracht, etwa: Wetter, Stimmung, Menschen, besondere Ereignisse, große Gefühle etc.
13:35
Wetter: sonnig mit Temperaturen um den Gefrierpunkt. Menschen: ein Handwerker heute früh, der sich bei mir den Schlüssel für den Heizungskeller abholt und ankündigt, er wolle das warme Wasser abstellen, um Wasseruhren einbauen zu können. Menschen: Frau P. in der Reinigung. Ich bringe ihr meinen irischen Leinenanzug, sage, es sei mein Lieblingsanzug, sie solle vorsichtig damit sein. Natürlich, sagt sie, 24.90 sagt sie und ich sage, ich muss erst zur Bank, Geld holen. Klar Herr Mensing sagt sie. Menschen: die immer böse ist. Die immer brummend und gefährliche Blicke werfend hier vorbei geht, eine noch junge Frau, früher hübsch, jetzt aufgeschwemmt von Psychopharmaka, das Gesicht dick mit weißer Creme eingefettet, die kam mir vorhin entgegen. Möchte manchmal "buhhh!!!" machen, wenn ich sie sehe. Besondere Ereignisse: Ja. Habe mir die Haare auf Millimeterlänge gestutzt. Die Zeit ist günstig, außerdem passt dann die Mütze besser, die ich von Chris bekommen habe. Eine Hand voll dunkelblonde, mit grau versetzten Haaren in den Mülleimer geworfen und ein wenig sehnsüchtig hinterher geschaut. Sie wärmen, die paar Haare, die ich auf dem Kopf hatte. Große Gefühle: düsterer Gesang von Herrn Cash. Außerdem: ich mache immer alles falsch, obwohl ich es richtig will. Ich sage dies und meine das. Ich meine das und sage dies und zum Schluss weiß ich nicht einmal mehr, wie alles begonnen hat. cut.
17:12
Wetter: sonnig, milder als heute früh. Klar. Menschen: Besuch von der Nachbarin, die mittlerweile auch glaubt, ich sei so etwas wie ein Hausmeister, da immer zu Hause, immer ansprechbar und im Besitz des Schlüssels für den Heizungskeller. Werde also demnächst auch entsprechende Mietminderung beim Vermieter einfordern, denn jeder, der hier im Hause irgendetwas will, schellt bei mir. Menschen: Schwester K., die mir zum Geburtstag gratuliert und mir einen Reiseführer für Rom schenkt. Menschen: am Telefon der Leiter des Altenheims in Gronau, in dem meine Mutter und meine Tante wohnen. Empfehle ihm meinen Roman. Machen sie das mit jedem so, fragt er. Ich: ja, schließlich war ich auf keiner Eliteschule, verfüge also nicht über ein weitverzweigtes Netz langjährig gewachsener Beziehungen, ich muss das alles allein machen, mir öffnet niemand die Türen. Besondere Ereignisse: trinken den ersten Geburtstagswhisky. Heißt: An Cnoc, gälisch. Aus der Knockdhu Distillery, Banffshire, Scotland. Große Gefühle: ja, Freude, Ulli, mit dem ich vor zwanzig Jahren Musik gemacht habe (groove missiles hieß die Band) und der schon seit über zehn Jahren in Berlin lebt, hat einen Sohn bekommen. Im übrigen: frohe Erwartung.
Mi 7.03.01 9:20 (7.03.1973 rio de janeiro/brasilien)
Wetter: mausgrau und kühl, als wolle alles von vorn anfangen. Würde mich lieber in warmen Nischen verkriechen und wüsste auch, wo. men-sing: wechselblütiges Tier. Braucht Sonne. Menschen: der Handwerker. Heute will er nicht nur das Warmwasser abstellen, sondern auch noch das kalte. Bis Mittag, sagt er und ich sage: und wie soll ich dann scheißen? Er: ???? Ich: gut, dann scheiße ich in ihren roten Opel. Worauf er mir zuzwinkert. Kaffee habe ich mit Mineralwasser zubereitet. Menschen: eine Nachbarin, die bei unerwarteten Ereignissen zu hektischen roten Flecken im Gesicht neigt, die, wenn wir uns auf der Straße treffen, Gespräche vom Zaum reißt, bei denen nur sie weiß, wovon geredet wird, gestammelte Sätze meist, die ihr wie böse Träume zufliegen und oft kein Ende haben. Ich bin immer vorsichtig, wenn sie mir entgegen kommt, weil ich nie sicher sein kann, ob sie es bei einem Satzfragment belässt. Gestern stand sie am späten Nachmittag plötzlich vor der Tür, um den Apfelbrand, den sie mir schon vor einem Jahr versprochen hatte, zu bringen. Danke danke. Menschen: Badewannen-Jupp*: um halb neun versucht er, den blitzblanken Findling in seinem Vorgarten mit einem neuen Hochdruckreiniger noch blanker zu sprühen. Große Gefühle: Manno, es ist noch zu früh, oder? Also. Fuck u too.
13:36
* lebt seit den 60igern hier. Wird Badewannen-Jupp genannt, weil das Viertel damals gerade entstand und er auf Baustellen stahl, was noch nicht eingebaut war. Wurde gestellt, verurteilt, hat seine Strafe abgesessen, aber verziehen hat ihm niemand. Zu Festen der Nachbarschaft lädt man ihn nicht ein. Über die Jahre hat er es zu drei oder vier Häusern gebracht, die er penibel sauber hält, verwaltet, in denen er alle Reparaturen ausführt und ein Auge auf seine Mieter hat. Ich habe mich einmal mit ihm gestritten, als er im Mai seinen Kamin feuerte und die Strasse voll stinkendem Rauch war. Möglich, dass er alte Reifen verbrannte. - Ich drohte ihm an, die Polizei zu rufen, wenn er das Feuer nicht auf der Stelle ausmacht. Er hat es ausgemacht. Viele andere hätten mich danach nicht mehr mit dem Arsch angeguckt, er nicht. Wir sind zwar keine Freunde, aber wir respektieren uns.
18:15
Strickte ein wiederverwendbares Kondom aus zarter Merino-Wolle. Herrlich.
Do 8.03.01 9:46 (8.03.1973 rio de janeiro/brasilien)
Wetter: mausgrau und kühl. Menschen: noch keine Menschen. Oder doch: der Nachbar J., Geophysiker mit katastrophal zugemüllter Wohnung, schellt, um sich den Zweitschlüssel seiner Wohnung zu holen, den er bei uns aufbewahrt. Wir sind so etwas wie die Schlüsselbewahrer der Nachbarschaft. Haben Zugang zu zwei Wohnungen und einem Haus. Menschen: natürlich, der Postbote, die arme Sau, der nicht nur Briefe schleppt, sondern auch dummdreiste Werbebotschaften in jeden Briefkasten stopfen muss. Dabei erinnere ich mich gern an meine Zeit als Postbote. Damals gab es das noch nicht, nein, nein... (harrrr). Tiere: Sensationen: Session gestern abend, mit einem Saxophonisten, der so eine beschissene time hatte, dass der Bassist und ich uns nur bedauernd anschauen konnten und versuchten, ihn zu stabilisieren. VERGEBLICH. Anschließend im hot jazz club. Hörte ein Set des Frank Delle Quintetts mit einem grandiosen Trompeter aus USA: Sean Jones, fast noch ein Kind, ein furioser Solist und einfühlsamer Begleiter. Geiles Konzert. Große Gefühle: leichte Erregung, denn gleich geht's in die Geist-Schule, um mit Kindern einer fünften Klasse meine Lesung in der Stadtbücherei vorzubereiten. und sonst: naja.
14:00
Menschen:Tiere:Sensationen: das schönste meines Besuches in der 5b heute morgen: ein Mädchen sagt, Herr Mensing, ich schreibe auch, aber auf arabisch. Das ist ja ein Ding, sage ich. was denn? Was ich erlebe, sagt sie. - Führst du Tagebuch? - Ja, sagt sie und ich sage: ich auch. Habe schon fast vierzig Bände. Da staunt sie. Sensationen: Die Sackgasse 13 wird im Rundfunk besprochen. Näheres erfahre ich noch. Sensationen: man ruft mich an, weil ich lesen soll. Ja. Mehr davon. Ich will lesen lesen lesen. Wetter: mausgrau noch, aber ich fliege so hoch, dass ich es genießen kann. Mausgrau schmeichelt der Haut, mausgrau ist warm und beruhigend, mausgrau schmiegt sich um mich und beschützt mich vor Sonnenbrand. so it goes, sagt der große Held meiner Jugend, Kurt Vonnegut jr., den ich jedem empfehle. Menschen: Haruki Murakami. Lese seit Oktober nichts anderes. Fordere ihn dringend auf, etwas Neues zu schreiben, denn Naokos Lächeln, seine letzte auf Deutsch erschienene Arbeit habe ich auch schon wieder fast durch. Also, Herr Murakami, bewegen sie ihren Arsch. Arigato Goseimashta, wie wir Japaner sagen.
Fr 9.03.01 13:32 (9.03.1973 rio de janeiro/brasilien)
Menschen Tiere Sensationen. Angeblich Hochkultur, gestern abend: Stadttheater Münster. Nach Vorlage eines französischen Zeitungsromanschreibers hat Puccini La Bohéme geschrieben. Die Inszenierung: zum Sterben langweilig. Nicht eine überzeugende Stimme, schöne Musik, ja, dazu eine durch einen Gaze-Vorhang weichgezeichnete Bühne, was sehr ermüdend wirkte. Erst als Mimi im Sterben lag, ging dieser Vorhang quälend langsam in die Höhe. Wieso kehrt der Regisseur das Ganze nicht um, lässt ihn runter, jetzt, wo sie stirbt. Und wieso war er nicht oben, als die vier ihr lustiges Künstlerleben lebten. Aprospos lustig: ich wette, dass diese Typen reiche Väter hatten und nur so taten.
Achtung! Nennen sie drei wichtige italienische Komponisten.
Äääääääää - Verdi, Stradivari, Mussolini.
15:44
etymologisch: sich die Kante geben.
Gestern ca. 14:55 im Hausflur. ich wollte das Haus verlassen, ging zur Tür, griff die Klinke mit rechts, zog und machte den Schritt nach draußen. Das heißt: ich hätte den Schritt nach draußen gemacht. Wäre alles gewesen wie immer, hätte das timing gestimmt, die Tür wäre offen gewesen, die Synchronisation von Handbewegung, Schritt und Körperdrehung hätte perfekt geklappt. Eine falsch liegende Fußmatte vereitelte das. Die Tür öffnete sich nur einen Spalt und ich schlug mit der rechten Gesichtshälfte gegen die Türkante.
17:37
Achtung Autofahrer: heute ist Vollmond.
Sa 10.03.01 11:43 (10.03.1973 rio de janeiro/brasilien)
Zurück zu dem, was die Welt interessiert. Sieht Else Buschheuer tatsächlich so gut aus, wie sie manchmal aussieht, oder ist ihr Gesicht eher eine von verbissenem Ehrgeiz gestaltete Maske, hinter die man lieber nicht schaut? - Da wir kleine Kämpfe hinter uns haben, hier mein Ratschluss: sie sieht verbissen gut aus, aber ich mag sie nicht. Sie schreibt nicht schlecht, aber verspannt. Sie ist eine Zicke.
Mo 12.03. 01 8:04 (12.03.1973 rio de janeiro/brasilien)
Wäre ich je auf den Gedanken gekommen, mit meinen Eltern zu feiern? - Nein, nie. Bei uns ist das anders. Auf Chris und meinem Geburtstag tauchen die Freunde unsere Söhne auf. Sie spielen Ständchen auf der Ukulele. Sie trinken mit uns. Sie rauchen unser Gras. Sie fühlen sich wohl. Von Nestflucht keine Spur. Also feierte ich am Samstag auch den Geburtstag unseres ältesten Sohnes. Hockte unter Zwanzigjährigen und amüsierte mich. Achtzig Prozent von ihnen tranken Billigbier. Die übrigen mixten sich Cocktails aus Red Bull und Wodka bzw. Robby Bobble Pfirsich und Wodka. Robby Bobble ist ein alkoholfreies, moussierendes Getränk, hergestellt von einer Weinkellerei im Badischen. Sowohl die eine wie die andere Mischung schmeckte abscheulich. Einer rauchte Marihuana. Kaum inhaliert, brach er in ein viertelstündiges, kaum unterbrochenes Lachen aus, das sich anhörte wie das Meckern einer Ziege. Im übrigen sehr höfliche Leute und lustig.
13:12
Jahrzehntelang haben wir nicht gebügelt. Als Max im Alter von sieben ein Bügeleisen sah, fragte er erstaunt, was das wäre. Wir schämten uns. Seit einiger Zeit bügle ich aus therapeutischen Gründen. Es löst Verspannungen, hilft gegen Durchfall, korrigiert Gedankenfehler, es isoliert Krankheitskeime und verdampft sie. Das alte chinesische Bügeln (nicht umsonst bügelt der Chinese in aller Welt) ist von hohem Wert für geistige und körperliche Gesundheit. Auf die Latte gelegt macht es sie dauerhaft steif, dem Bauch schmilzt es Fett weg, dem Hirn plättet es unnötige Windungen und dem Tag fügt es Sinn zu.
Di 13.03.01 9:12 (13.03.1973 rio de janeiro/brasilien)
Kein Eintrag.
Mi 14.03.01 13:34 (14.03.1973 an bord der ancona auf dem weg nach europa)
Neue Homepage. Die Kinderseite wird sich in den nächsten Tagen entwickeln. Viel Spaß.
So 18.03.01 16:05
Es regnet. Den Frühling haben wir in Rom gelassen.
Mo 19.03.01 7:37
Wie wir da rumirren zwischen den Stelzen einer Hochstraße, Absperrungen einer Baustelle und Wegweisern, die hierhin und dorthin zeigen. Vielleicht schlafen wir noch. Vielleicht haben wir in der S-Bahn-Station nicht aufgepasst. Es ist feuchtkalt und menschenleer. Vier Uhr. Eine Viertelstunde später haben wir den Shuttle Bus gefunden. Als wir einsteigen, blickt der Fahrer müde von seiner Zeitung hoch, faltet sie, startet den Motor und fährt los. Grau ist die vorherrschende Farbe. Das Terminal leuchtet rot-weiß. Corporate identity nennt man das. Es gibt schon Kaffee. Beim Check-In sagt eine Angestellte zu ihrer Kollegin, R. hat sich krank gemeldet, deshalb bin ich hier, ich kann mir aber was besseres vorstellen. Haben Sie nur eine Tasche? Ich nicke. Und ich wette, die ist gar nicht krank. Ich säße gern am Fenster. Ja, das geht. Gate 93. Danke. Noch etwa zwei Stunden. Fliegen geht schnell. Die An- und Abreise zum Flughafen und das Drumrum sind quälend. Wenn ich heute sterbe, will ich hocherhobenen Hauptes sterben. Gut angezogen bin ich sowieso. Ich will mich den Römern zeigen. Bestes irisches Leinen. - Und ab. Neben uns sitzt einer, der in aggressivem Rasierwasser gebadet hat, eine jämmerliche Figur mit Doppelkinn und Hundeblick, ein rheinischer Witzbold, der mir allerdings eines voraus hat: er schläft gleich nach dem Start tief und fest. Zum Glück sabbert er nicht. Ich klebe am Fenster. Keine Sekunde würde ich ertragen mit dem Gedanken ans Sterben, wenn ich nicht wenigstens sehen könnte, wohin ich stürzte. In ein watteweiches Meer, das mit jeder Minute leuchtender wird, bis die aufgehende Sonne seinen Rand in gleißendes Licht taucht. - Rom. Fiumuncino. Kurz nach neun. Wir verlassen das Terminal. Ich trage meinen Mantel überm Arm. Ein Bus bringt uns zum Hotel. Unterwegs machen wir doofe Witze. Sprechen Italienisch. Hängen allem ein I an. Sagen: Salati. Grabi. Palmi. Omi. Wir lachen uns schlapp. - Via Veneto. Die spanische Treppe. Rom zu unseren Füssen. Der Vatikan. Wir ersteigen die Kuppel. Piazza Navona. Das Pantheon. Der Trevi-Brunen. Wir sind kaum im Hotel, als wir es schon wieder verlassen, um die Stadt laufend zu erobern. Bon giorno. Si. Tutti va bene. Die Preise für Capuccino variieren. Im Café El Grecco kostet er 10.000 Lire, in einer Bar abseits 1.500. Japan ist komplett angereist. Hat sich mit hochmodernem Gerät ausgestattet, trägt Gucci-Tüten, Versace- Einkaufstaschen, ist oft sehr jung und falls weiblich ausgesprochen süß. So handlich. Wir lassen flanieren und schauen uns die Augen wund. Nein. Wir träumen nicht. Wir sind in Rom. Und wir beginnen zu begreifen, dass das Leben schön ist, wenn der Mensch schon am 15. März gegen zehn in einem Straßencafé sitzen kann, ohne zu frieren. -
Die aktuellen Wetterdaten: Montag 19. März 8:21 Schneeregen. Über Temperaturen will ich nicht sprechen.
Well well well.
Fortgang: Menschen Tiere Sensationen. In einer Trattoria an der Via del Erba, die Vatikanstadt gleich um die Ecke. Ein altes hutzliges Männlein serviert uns mit großer Geste Minestrone, Omelette Prosciuto, Wasser und Brot. Dann geht er ab und wir sehen ihn in der Trattoria von Tisch zu Tisch gehen, hier einen leeren Teller nehmend, ihn dort wieder hinstellend, verwirrtes Hin- und Hereilen, ohne rechten Plan aber mit viel Grandezza.
Um die Ecke ist ein Internetcafé. Schicke den Kindern Elektropost. - Ciao tutti. Es ist kurz nach Mittag. Nach ruhigem Flug über wundervolles Wolkenland, dem man ansehen konnte, was es unter sich verbarg, sind wir in Rom eingeschwebt, haben uns zum Hotel fahren lassen, ein Zimmer zum Hof bezogen, unsere Sachen verstaut und sind losmarschiert. Wir sind nun seit drei Stunden unterwegs, die Stadt gefällt uns sehr, sie riecht nach Weihrauch und Macht, jedes Gebäude strahlt Ruhm und Alter, der Tiber wälzt sich lehmbraun einkanalisiert tief durch den Bauch der Stadt.
Die Häufigkeit himmlischen Hilfspersonals nimmt zu. Kleine Schwestern aus der dritten Welt, tiefschwarze junge Frauen in schneeweißen Paradeuniformen, die gern von Brüdern verschiedener Orden zum Geschlechtsverkehr gezwungen werden, alle fühlen sich dem katholischen Himmel nah, der zum Kotzen sein muss, voller Mord- und Totschlag, ein Himmel aus zweitausendjähriger Unterdrückung, Heuchelei und Beutelschneiderei. Und wir mittendrin. Wir verjagen die fotografierenden Touristen im Petersdom, wir führen eine Kleiderordnung ein, wir verbieten ihnen, mit ihren Mobiltelefonen direkt vom Ort des Geschehens nach Hause zu berichten, wir leeren die himmelhohe Kuppel von allen und sind ganz allein. Aber nicht einmal dann würde Gott sich herablassen, denn Gott hat keinen Prunk nötig. - Wir steigen die gewundenen schmalen Treppen hinauf, uns wird schwindlig bei schrägen Wänden, immer hinauf, hinauf, bis Rom uns tatsächlich zu Füßen liegt, diese ockerfarbene, rostrote Stadt mit den sie umringenden Hügeln, und begreifen wie nie zuvor, was es heißt, Macht auszuüben und nichts weiter. Da hinten wohnen wir! sage ich. Den ganzen langen Weg sind wir gegangen.
Die aktuellen Wetterdaten: Montag 19.03.01 13:04 Rattenkalt. Ich will sterben. In der Hölle ist es warm.
Fortgang: Nein. Wir haben keinen Plan. Wir zeigen hierhin und dorthin und vermuten, was sein könnte. Ansonsten folgen wir groben Richtungen und hoffen auf das Wunder der Überraschung. Ein anderes Mal werden wir nachschlagen, werden nachlesen, dass der Piazza Navona Roms schönster Platz ist. Als hätten wir das nicht sofort gewusst, als wir von der Ponte Umberto kommend, der Via Zanardelli folgend plötzlich auf ihm standen, wenngleich wir finden, dass der Piazza Sydney Sonnino in Trastevere der schönste Platz ist. Fußball spielende Jugendliche, ein Blumenstand, ein Ramschverkäufer, ein paar Bänke und wir, ringsum die Gassen der Stadt jenseits des Flusses, mehr nicht. Hier fühlten wir Rom ohne den Trubel, der für uns veranstaltet wurde. Aber diesen Platz werden wir erst morgen entdecken, oder vielleicht erst übermorgen. Vielleicht entdecken wir ihn nie, vielleicht entgehen uns die schönsten Plätze dieser Stadt, stattdessen haben wir aber Dinge gesehen und gehört, die niemandem auffielen. Das Zwitschern der Schwalben, als wir der Via Veneto bis zur Porta Pinciana gefolgt waren, um im Schatten der Stadtmauer zur spanischen Treppe zu gehen. Die Luft war voll von aufgeregtem Geschrei. Zunächst hörten wir nur und wußten nicht, was, dann sahen wir sie. Hier sind sie also, dachte ich und beschloss, Ausschau zu halten zu Hause. Noch habe ich keine gesehen. - Manchmal bilden Fassaden und hoch aufschießende Palmen vollendete Bilder. Klick Klick Klick. Wir hatten beschlossen, schwarzweiß zu fotografieren. Ein Mal habe ich das bereut. Ansonsten gab es genügend Bilder, die ohne Farbe auskamen. Einen Engel auf der Ponte Angelo habe ich in den Himmel geschickt und ich bin sehr gespannt.
Schon setzt wieder Verblödung ein. Verblödung im Wollen, Tun und NichtSeinLassenKönnen. Die Daten: sieben Grad, eher vier, sehr frischer Wind.
21:15
Gleicher Tag gleicher Ort: zur Erheiterung der Menschen
Foto Jan Mensing 16:45 Uhr
Di 20.03.01 8:43
flashback: 20.02.1973 an Bord der Ancona, unterwegs von Rio nach Lissabon: was macht Helena Cancado in meinem Bett?
Jesus steht am Rande des Petersplatzes und trinkt Limonade. Sein sandfarbenes Gewand wird von einer braunen Kordel gehalten. Der Faltenwurf ist klassisch kitschig wie auf den dreidimensionalen Bildern, die man für 20.000 Lire überall kaufen kann. Diese Bilder waren das einzige, was mir von meinem ersten Rombesuch 1974 in Erinnerung geblieben war. Der Gekreuzigte mit geschlossenen Augen von links, mit geöffneten von rechts. Der aktuelle, der wirkliche Jesus ist etwa einsneunzig groß, dunkelblond, hat schulterlanges Haar, einen Bart und seine Füße stecken in bequemen Schuhen. Jemand filmt ihn. Ich lache ihn an. What do you think of this? fragt mich der Kameramann. Lustig! sage ich. Lustig! sagt Jesus und schenkt mir ein Lächeln. Ganz entspannt steht er da und genießt verwunderte Blicke. Ob ich mich mit ihm fotografieren lassen soll? - Jesus spaziert über die Via della Conciliazione und überquert die Ponte Sant'Angelo. Später treffen wir ihn auf der Piazza Navona. Er probiert Sonnenbrillen bei einem der fliegenden asiatischen Händler. Bangdladeshi, Nepali meist.... Ich fotografiere ihn. Später sehen wir ihn im Pantheon.
13:29
Im Campo di Fiori, nachmittags. Wir trinken Campari, beobachten einen Lampenmacher in seiner Werkstatt gegenüber, ein mittelgroßer, leicht verfetteter Mann Mitte 60 schlurft über die kleine Piazza de Vicco, wir sind müde nach langem Fußmarsch, aber hier ist ein guter Platz zum Ausruhen, das Viertel scheint klein und vertraut, der Lampenmacher verlässt seine Werkstatt und kommt auf einen Expresso in die Bar, der halbfette Mann mit rotem Pullover scheint betrunken, verloren, oder beides, ein Polizist fährt vor und wartet. Wir spekulieren, dass er seinen Chef abholen muss, dessen Geliebte hier irgendwo wohnt. Nun muss er pünktlich um sechs zu Hause sein. Dann taucht ein Mops auf. Mit Frauchen. Die beiden nähern sich einem schwarzen Müllsack an der Ecke. Schon mehrere Hunde hatten ihn markiert. Der Mops riecht daran, dreht sich um seine Achse, legt noch eine halbe Drehung nach, stemmt seine Hinterbeine gegen den schwarzen Sack, markiert im Handstand und folgt Frauchen.
Die schönste Kirche? S. Maria in Trastevere. Zündete eine Kerze für uns an. Man weiß nie, wofür es gut ist.
Chris Frage nach "Roma" von Fellini wurde in der Mediothek der Stadtbücherei so beantwortet: "Ist das ein neuer Film?"
Mi 21.03.01 13:44
(21.03.1973 auf dem Atlantik zwischen Südamerika und den Kapverden)
dämliches aus dem hause men-sing:
frühlings ist's mit schnee und eis // vögel fallen tot von bäumen // ich weiß was, was keiner weiß // davon darfst du nicht mal träumen // es beginnt mit g-verkehr und es endet oft im schlaf // ja, man tut es liebend gern, auch wenn man es gar nicht darf // frühlings ist's mit Minus O und die füsse werden kalt // wer sich zu sehr nach Süden sehnt, wird im Norden alt.
14:23
bei Schnee und Frühlingsanfang, da fühlt sich das Leben gut an, mittags mit einem Butterbrot in der Linken und der Vorstellung, dass wir heute abend nach Bielefeld fahren, um uns im PC69 Chris Whitley anzuhören, da weiß man schon nicht mehr so genau, aber es wird schon, denkt man, während handtellergroße Schneeflocken vorm Fenster tanzen und aus irgendeiner Wohnung nicht weit von hier "I'm dreaming of a white easter" dudelt.Ja, so sieht das aus heute. Bin gerade zurück von einer Hörspielgalerie. Da lässt eine Stadtbücherei im Auftrage des WDR ein paar Schulklassen einfliegen, einen Autor (mich) , stellt eine schrottige Stereoanlage irgendwo hin und spielt ein Hörspiel des jeweils anwesenden Autoren (ich) ab, die Kinder hören zu und fragen dem Autor (mir) nachher Löcher in den Bauch. War ganz witzig, denn sie haben mich zum Beispiel gefragt, warum es mir Spaß macht, Hörspiele zu schreiben. Gute Frage das. Oder: wie das denn eigentlich geht, so ein Hörspiel, muss ich mir das alles allein ausdenken. Und: welche Farbe ist meine Lieblingsfarbe.Daher komme ich also gerade, aber eigentlich bin ich noch gar nicht recht wieder hier, denn letzten Donnerstag sind Chris und ich allein nach Rom gejettet. Hatte ihr das zum Geburtstag geschenkt. Und in Rom war wie erwartet längst Frühling, Schwalben zwitscherten Mücken jagend pfeilschnell über die heilige Stadt, Touristen so weit das Auge reicht, während Frau Mensing und ich immer auf abseitigen Pfaden wandelnd Rom von hier und dort betrachteten. Ja. Das war wundervoll, diese vier Tage bis Sonntag werden wir so schnell nicht vergessen, Clappercenium an der Via Veneto, selbst Jesus trafen wir und noch einige andere.Dass dir mein Buch gefallen hat, dass es vor allem all das nicht ist, was viele Kinderbücher sind, und dass du das sofort gemerkt hast, spricht nicht nur für dich, sondern (bescheiden) auch für mich und das freut mich riesig.Du weißt ja, Trash regiert die Welt, oben und unten wird sie zugeschissen von übelstem Auswurf, und ich hoffe, ich hoffe wirklich sehnlichst, dass ich mich sauber halten kann so lange es geht. (...) Was ich von dir höre, klingt gut. Mach weiter so, und wenn du Lust hast, zu kommen, immer gern.Also, bis die Tage Hermann22.03.01 15:00 (23.03.1973 auf dem Atlantik zwischen Südamerika und Europa)Schneetreiben um diese Zeit gestern, dass ich schon dachte, das schaffen wir nie bis Bielefeld, aber dann wurde es milder, der Schnee schmolz, Nachtfrost war nicht vorhergesagt und so fuhren wir über Land. Langsam nach Bielefeld. Wer will schon nach Bielefeld? Gäbe es da nicht das PC69, ein Club mit interessantem Programm. Acts, die man hier nie hören könnte, tauchen dort auf. Ich hatte erwartet, Whitley würde mit der Rhythmusgruppe seiner letzten CD Perfect Day auftreten. Eine sparsam spielende und Räume öffnende Kombination von Bass und Schlagzeug, die sonst mit eigenener Band (Soul Coughing) arbeitet, aber das war nicht so. Whitley, vor Tourbeginn in L.A. wegen Drogenbesitzes am Flughafen verhaftet, kam deshalb über eine Woche zu spät nach Europa, es blieb keine Zeit mehr, mit der von seinem Management gebuchten deutsch/belgischen Rhythmusgruppe zu proben, aber ich hatte den Eindruck, selbst, wenn Zeit gewesen wäre, sie passten einfach nicht zueinander. Whitley braucht Räume, die sie zuspielten. Habe ich zu viel erwartet? - Ja/Nein. Ich habe Whitley letztes Jahr allein gesehen, und da war er unwerfend gut. Gestern abend war ihm anzumerken, dass er sich mit dieser Band nicht wohl fühlte. Das Publikum reagierte entsprechend. Sieger des Abends war Jerry Joseph, ein Singer/Songwriter, der im Vorprogramm auftrat. Rückfahrt über nebliges Land.
17:37
Ich höre, die Hälfte der ersten Auflage der "Sackgasse 13" sei verkauft. Und das, obwohl noch keine (mir bekannte) Rezension erschienen ist. Bis auf die Einschätzung des ekz-Informationsdienstes: "Nomen est omen, so ist es nicht verwunderlich, dass Tim nicht falsch liegt, als er beim Anblick des neuen Heims mulmige Gefühle hat. Aber nicht das unheimliche Ächzen und Stöhnen der alten Heizung, die weinerlichen Töne des von Todesängsten geplagten Kaninchens George und die roten Lichter im Keller sind die Bedrohung, sondern ein lautloses Monster in Form einer Riesenspinne zieht mit psychologisch fein gewobenen Spinnweben das Netz um seine Opfer immer enger. (...) Erfrischend real schildert H. Mensing (ich) die Dramatik um das Monster, er arbeit viel mit leisen, Gänsehaut erzeugenden Thriller-Elementen, ohne zu übertreiben, und am Ende klappt man als Leser das Buch mit einem Seufzer zu. Auch im Hinblick auf die effekthascherische Erzählweise eines R.L.Stine eine wohltuende Abwechslung. (Kirsten Brodmann)
Der Autor springt jubelnd hoch, aber was ist das, was zum Teufel ist das, er - er steigt immer höher, er - er wird - er wird immer kleiner - er ist - er ist....
Fr 23.03.01 12:56 (23.03.1973 fast ertrunken)
Nein, nicht in den Wolken verschwunden. Gerade kehrt er zurück, wir können ihn sehen, wir hören seine verzweifelten Schreie. Jetzt schlägt er auf und bleibt liegen wie tot. Dann aber hebt er den Kopf und sagt: .... Wie bitte? - Nicht, dass Rom heute 22 Grad meldet und Westfalen knappe 5, nein, das wäre mit 52jähriger Erfahrung zu ertragen und taugt nicht als Grund für den abgrundtiefen Ekel, der sich seiner mal wieder bemächtigt hat, nein, es muss andere Ursachen geben, Ursachen, denen man nur mit einem Gedicht entgegentreten kann, dämlicher noch als das von vorgestern.
ritzt sich unser meister // mit 'nem dolch aus gold // und denkt scheibenkleister // hab das nicht gewollt // doch da sprudelt blut schon // liter plätschern weg // und als wäre es ein hohn // gibt's auch noch 'nen fleck //
Ja geehrte Gemeinde.
Die Beisetzung findet nicht statt. Danke.
14:37
re: roma: am Nachmittag waren wir aus Trastevere kommend auf den M. Gianicolo gestiegen, wo ein Reiterstandbild an Garibaldi erinnert und man über die Stadt sehen kann. Ein kleines Karussell dreht sich, Kinder können auf Ponies reiten, es gibt Eis und Cola. Wenn man in Richtung Vatikan wieder absteigt, kommt man einer mickrigen Baumruine vorbei. Wir hätten sie nicht beachtet, hätte da nicht ein Mann Fotos gemacht, den ich für Deutsch hielt und so fragte ich: Und was sehen wir hier? - Hier hat Tasso sein Werk vollendet, antwortete er, unter diesem Baum. - Tasso??? - Goethe, sagte Chris, die viel klüger ist als ich. Goethe hat ein Stück über ihn geschrieben. Ach ja? Ja. Torquato Tasso: italienischer Dichter, Kollege in Diensten verschiedener hoher Herren, ehe er sich selbst der Häresie bezichtigt, von der Inquisition verurteilt wird, in einem Irrenhaus landet, frei kommt und schließlich in Rom stirbt.
21:15
Wir bieten: Soul Coughing. Wir hören: I'm rolling, I'm rolling I'm rolling. Wir vertreiben die Zeit. Wir könnten: arbeiten, aber: Arbeit macht frei. Daher diese Hemmung. Wir preisen: soul coughing. Wir hoffen: dass Sackgasse 13 viele Auflagen erlebt. Wir träumen: wie das Leben sich doch erträglich erweist. Ja. Durchaus lebenswert für Augenblicke, in denen man alles vergisst, bis wieder die Wüste durchquert werden muss bis zum nächsten Mal. Das nächste Mal war nicht heute. Vielleicht ist es morgen.
menschen: badewannenjupp baut um. seit vorgestern drillt er löcher in wände und böden. er sieht gut aus mit seiner zigarre, seiner Cordschlägermütze, dem runden festen bauch und der blauen latzhose. wie er da auf dem balkon steht und die welt ihm gehört. ich beneide ihn. menschen: frau p. von der reinigung. ach herr mensing, die hose ist erst montag fertig, hat sich verzögert, schlimm? - nö. tiere: auf dem weg in die stadt, heute mittag, stehen da herrchen und hund am ende der dorffeldstraße. herrchen spricht mit jemandem, während hund, ein rostbrauner, kniehoher mischling mit borstenhaar wie verzaubert in den himmel starrt. nehme an, dass er fliegende würste sieht. tiere: ein rotfink flog mehrfach gegen unsere scheibe, ein kurzes ticken verursachend. danach setzte er sich auf einen ast und sang liebeslieder, kleine atemwölkchen ausstoßend. wir sind geneigt, dies für liebeswerben zu halten, denn er war seitdem schon drei- oder viermal hier und verhielt sich immer genau wie beim ersten mal. wir denken: er ist verliebt. in unseren karl. dabei ist karl doch schon alt. menschen: torquato tasso, sich von adligen aushalten lassend. menschen: pöppelmann und pöppelfrau. der rucksackmann. hugo. der christ. schweinegesicht. humpelmann. humpelfrau. martin. und viele andere.
So 25.03.01 14:46 (25.03.1973 wir passieren die Kanaren)
Wir frieren. Wir wünschen uns fort. Wir kommen niemals dort an. Wir frieren. Wir wünschen uns fort. Wir kommen niemals dort an.
Mo 26.03.01 9:32 (26.03.1973 an Bord der Ankona auf dem Weg nach Cadiz/Spanien)
Gut. Man muss sich damit abfinden. Man darf nicht klagen. Okay. So ist der Norden. So ist das Leben. Gebongt. Ich halte ja schon das Maul. Ich klage nicht. Ich sage nicht, dass es mir zum Halse heraus hängt. Mir ist es völlig egal, ob es schneit oder nicht schneit, ich klage nicht. Ich habe nichts verloren und nichts gewonnen. Habe ich Recht?
re: nach Rom, schnell, an die Ecke Via Veneto - Piaza Barberini, es ist Samstagmorgen, wir sitzen in der Sonne, trinken Capuccino und lassen die Menschen für uns flanieren. Der Kellner kommt, sagt 16.000 Dollar, George. Nice day, George. Thank you, George. Leider bin ich an diesem Morgen ein wenig schwerfällig. Gracie Luigi, hätte ich sagen sollen. Si, Luigi. Va bene Luigi. Ja. So ist das.
16:17
Westfälische Kommunikation.
Ich: Tja, das wird heut nix mehr!
Der Besitzer des örtlichen Lotto-Toto-Tabak-Zeitschriften- Bücher-Spielzeug-Geschenkartikel- Geschäftes: Scheiße alles!
Wenig später.
Ein Kunde der Sparkasse: Das ist jetzt soweit. Die Natur schlägt jetzt zurück. Ich sach das ja schon lange.
Di 27.03.01 9:19
flashback: 27.03.1973 cadiz: die passagiere der ankona unterzeichnen petitionen. die rederei ziert sich. man sagt, das schiff könne nicht, wie vereinbart, nach lissabon weiterfahren. man bietet uns 50 dollar refund? 2.700 peseten. und ich, was mache ich damit? fahre ich heim, oder kehre ich um? mache ich mich auf den weg nach afrika - den linden frühling gegen heiße wüstenwinde eintauschen? ich weiß nicht. ich komme an zeitungskiosken vorbei, die deutsche zeitungen von gestern verkaufen. alles ist plötzlich so nah und ich falle fast um. alles ist so nah und ich entferne mich. ich schreibe postkarten, sende telegramme. ist dies das ende der reise? komme ich nach einem jahr heim? war das jetzt wirklich wirklich? und wenn ich dann zuhause bin, was folgt dann? was will ich da? studieren?
9:44
two jumps in a week: I bet you think that's pretty clever don't you boy // flying on your motorcycle // watching all the ground beneath you drop // you'd kill yourself for recognition // kill yourself to never ever stop // you broke another mirror // turning into something you are not // don't leave me high // don't leave me dry :// drying up in conversation // you will be the one who cannot talk // all your insides fall to pieces // you just sit there whishing you could still make love // they're the ones who'll hate you when you think you've got the world all sussed out // they're the ones who'll spit at you // you will be the one screaming out // it's the best thing that you ever had.... (2)
Mi 28.03.01 9:25 (28.03.1973 cadiz/spanien)
Westfälische Nachrichten / Münstersche Zeitung
Gruselgeschichten für die Kinder
Münster: Zu einem gruseligen Lesevergnügen mit Hermann Mensing lädt die Stadtbücherei Mädchen und Jungen ab zehn Jahren ein. Der Autor aus Münster stellt am Freitag, 30.März, um 17 Uhr seinen vor wenigen Wochen erschienen Roman "Sackgasse 13" vor. Er erzählt von einem Umzug in ein Haus mit einem Mitbewohner, der den wildesten Albträumen entsprungen zu sein scheint. Für die passende Leseumgebung sorgt die Klasse 5b der Geistschule: sie wird den Raum in der Kinderbücherei entsprechend schaurig dekorieren und gestalten.
Mit der Autorenlesung eröffnet die Stadtbücherei am Alten Steinweg eine kleine Reihe mit weiteren Titeln von Hermann Mensing, der seit seinem Debüt 1984 mit "Der radikale Träumer" fast ausschließlich für Kinder schreibt. Die Arbeiten des gelernten Kaufmannes, Weltreisenden und ausgebildeten Lehrers wurden in zahlreichen Rundfunkanstalten ausgestrahlt. Das Hessische Staatstheater zeigte 1997 das Mensing-Stück "König Hühnerschulte" als Uraufführung. Das Hörspiel "Die Hühner von Münster" dürfte auch vielen kleinen und großen Münsteraner bekannt sein. Es handelt von der Hühnerschar, die vor Jahren auf dem Domplatz für Furore sorgten.
Ja ihr Lieben, kommt aus aller Frauen Länder. Auf dass ich euch das Fürchten lehre....
10:22
Gestern oder vorgestern machte Chris mich auf eine geradezu hymnische Besprechung der vor zwanzig Jahren erschienenen LP Remain in Light von den Talking Heads in der Frankfurter Rundschau aufmerksam. Jan, unser ältester Sohn, war damals gerade geboren. Die Platte lief von früh bis spät, und wir waren beim Hören auf einen Namen gestoßen, der uns sehr gefiel. Mojique. Das hatte was, fanden wir. Jan sollte natürlich Jan heißen, weil wir mit unseren Herzen so nah bei Holland waren (und sind), aber der zweite Name sollte Mojique sein, der, der den Wind versteht. So hatten wir das Lied Listening Wind damals gedeutet. Der Beamte der Stadt weigerte sich, den Namen ins Geburtsregister einzutragen. Hätte er noch nie gehört, kenne er nicht, nein, das ginge nicht. Worauf ich noch am gleichen Tag mit dem Textblatt der LP aufkreuzte und ihm einen längeren Vortrag über den Einfluss der Talking Heads auf die Popkultur der 80iger Jahre hielt, der ihn anscheinend überzeugte. Und so kam unser Ältester, der fast ein Kopf größer ist als ich, zu seinem zweiten Namen. Gestern oder vorgestern muss das gewesen sein, woran man sieht, dass man ewig jung bleibt. Selbst bei schlechtem Wetter. Qualität verdirbt eben nicht. Oder?
10:55
Unbedingt hören: das Gitarrensolo von Andrian Belew: The Great Curve, Talking Heads, Remain in Light, letztes Stück auf der ersten Seite. Laut hören, sehr laut hören, die Fenster müssen scheppern und die Polizei muss kommen, sonst hat das alles keinen Wert.
13:00
Ich habe lange gedacht, das Leben würde Fragen beantworten. Stimmt gar nicht. Es stellt jeden Tag neue. Verflixt. Und was jetzt?
14:02
zur Debatte:
Deutschland ist nichts, aber jeder einzelne Deutsche ist viel. (3)
Do 29.03.01 14:22 (29.03.1973 Sevilla)
Schade. Hatte mir ein Foto aus dem Netz geladen, das ich gern hier veröffentlicht hätte, aber es funktioniert nicht. Meine Kenntnisse reichen nicht aus. Daher für den, der es sich vorstellen kann, es zeigt eine unbekleidete Frau um die 30, dunkelhaarig, mit so einer Mopp-Frisur, die ich mag. Und ein schwarzes, magisches Dreieck von großer Schönheit.
Fr 30.03 01 12:15 (30.03.1973 Sevilla)
Werde langsam nervös. Aber es ist keine panische Nervosität. Eher eine freudige. Daher: wer kann, heute nachmittag 17:00 Stadtbücherei Münster. Ich stelle die "Sackgasse 13" vor. Und wenn mich der Mut nicht verlässt, werde ich die letzte Viertelstunde vor Lesungsbeginn als Gespenst reglos in einer Ecke stehen und die Leute beobachten. Vielleicht ab und an das Rucken eines Armes, eine Körperdrehung, mehr nicht. Eher so wie die lebenden Statuen in Fußgängerpassagen und auf öffentlichen Plätzen. So stelle ich mir das vor. Und um siebzehn Uhr werde ich das Gespenst abstreifen und die Hörer das Fürchten lehren.
Sa 31.03.01 10:49 (31.03.1973 Sevilla)
So weit, so gut. Der Raum der Stadtbücherei war mit so viel Liebe gestaltet. Dreißig Kinder hatten sich Mühe gegeben. Als ich kurz nach drei kam, musste ich jede Zeichnung kommentieren, jede Spinne begutachten und das große Netz, dass sie am rechten Bühnenrand installiert hatten, loben. Hinter dieses Netz würde ich mich stellen, so viel war sofort klar, aber dann kam das, woran ich gar nicht gedacht hatte: außer den Kindern, die mit der Vorbereitung beschäftigt waren, kamen nur vier weitere Menschen, die ich vorher noch nicht gesehen hatte. Fünf, Entschuldigung, ein Junge setzte sich noch zu uns. Die Presse erschien überfallartig, drei Fotografen, die in fünf Minuten ein wahres Blitzlichtgewitter über die Kinder und mich abschossen und dann wieder verschwanden. Begann zu lesen. Die erste Seite war schwer, danach ging das Lesen leicht. Und ich kann sie fesseln mit der Geschichte. Jetzt müssen nur noch mehr Menschen kommen. War allerdings anschließend fix und fertig. Chris lud mich zum Essen ein. Westfälische Küche: Erbsensuppe als Vorspeise, danach Himmel und Erde. Chris aß: Knisterfinken. Danach leichte Entspannung, wenngleich noch immer enttäuscht wegen der fehlenden Menschen. So it goes, sagt der Held meiner Jugend, Kurt Vonnegut Jr.
_____________________________________________________________
Zitate: 1. Max Frisch // 2. high&dry "the bends" Radiohead // 3. Goethe
(aktuell) - (download) - (galerie) - (in arbeit) - (notizen) - (start)