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Neviges

1680, der dreißige Krieg war seit knapp 40 Jahren vorbei, hört Pater Antonius Schirley im Franziskanerkloster Dorsten während seines täglichen Gebetes vor einem unscheinbaren Bildchen der heiligen Maria eine Stimme, die ihn auffordert: bring mich nach dem Hardenberg, da will ich verehret sein. Sie versprach außerdem Wunderheilungen. Der Pater übersandte das Bild nach Neviges. Seitdem wird dieses kaum postkartengroße Bild verehrt. Es hat Zeiten gegeben, in denen bis zu 300000 Menschen im Jahr dorthin pilgerten. Kein Wunder, dass die Kirchen, in denen das Marienbild hing, bald zu klein wurden. Im Jahr 1960 wünschte sich Kardinal Frings für Neviges "einen plastischen Baukörper als Bild und Zeichen einer Wallfahrtskirche." Ein Wettbewerb wurde ausgeschrieben, Architekten fertigten Entwürfe, Gottfried Böhms neo-expressionistischer Entwurf bekam den Zuschlag.

Seit ich das 49 Euroticket zur Erkundung meiner Heimat nutze, halte ich die Augen auf, denn so eine Tagesreise braucht ja immer ein Ziel. Wie ich auf den Mariendom gestoßen bin, weiß ich nicht mehr, irgendeine Notiz irgendwo, nehme ich an, aber ich war sofort fasziniert, denn Architektur ist immer auch Skulptur im öffentlichen Raum. Der Brutalismus hat sich nicht sonderlich viele Freunde gemacht. In meiner Heimatstadt Gronau gibt es ein "brutalistisches" Rathaus, das von allen Bürgern leidenschaftlich gehasst wird.

Neviges ist ein hübsches Städtchen im Bergischen Land. Fachwerkhäuser und mit Schiefer verkleidete Häuser bilden einen spätmittelalterlichen Kern und die protestantische Kirche, denn eigentlich war man hier Protestantisch, der von Hardenberg hatte sich den Reformierten angeschlossen, was für die Bürger verbindlich für ihre Glaubenswahl war, später aber war er doch wieder katholisch geworden. Man braucht kaum zwei Stunden mit der Regional- und der S-Bahn, und schon vom Zug aus sehe ich eine der zeltähnlichen Domspitzen zwischen den Dächern. Sie wirkt nicht spektakulär, auch nicht fremd, sonder eher Teil dieses hügeligen Landstriches und seiner Häuser ringsum. Aber wir brauchen erst einmal einen Kaffee nach der Reise, den gibt es bei Hanis, ein Türke, der mir erzählt, dass es mit der Wirtschaft in Neviges nicht zum Besten stehe, den mittelständischen Industrien der Metallverarbeitung gehe es nicht gut, eine Firma habe tausend Mitarbeiter entlassen und verlagere die Produktion nach Ungarn. Man sieht das im Stadtbild. Viel stand. Jetzt aber zum Dom. Beton ist ein Werkstoff, der auf vielfältigste Arbeit verarbeitet werden kann, weil man ihn gießt. Der Mariendom hat eine Leichtigkeit, die mich verblüfft. Und eine strenge Schönheit, die mich rührt. Wie die Neviger Bürger ihn finden, weiß ich nicht, aber ich kann mir schon verstellen, dass es da ein Murren gab. Wir umrunden ihn, alles ist Geometrie und zum Himmel strebend, und betreten ihn. Im Gegensatz zu den oft überladenden katholischen Gotteshäusern ist dieses karg, aber mit den Akzenten der leuchtenden Fenster gewinnt sie eine mit den Tageszeiten wechselnde Farbig- und Leichtigkeit. Dass man etwas so Schönes aus Beton machen kann. PS. Brutalismus kommt nicht von "brutal", sondern von beton-brute, Sichtbeton.




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