"Mit offenen Augen"
Lesungen an Grund- und Hauptschulen in Gronau
3.09.01 14:01
Lesereise erster Tag: schlief schlecht die Nacht. Schlief schlecht weil ich verschiedenes befürchtete, vor allem aber Desinteresse. Um halb acht heute früh stand ich vor meiner ersten Schule. Kannte sie noch von früher. Da war sie katholisch. Da empfing einen ein gekreuzigter Mensch, es roch nach Bohnerwachs, es war dämmrig, nur die milchigen Mondlampen leuchteten. Heute sah das schon besser aus: kreativ gestaltet. So, wie Grundschullehrer sich das vorstellen. Begrüßt wurde ich von einem alten Bekannten. Kein Wunder, ganz G. steckt voll von alten Bekannten. Also gleich beim ersten Job heute früh: Ach du, hier? Wir ham uns ja lang nicht gesehen. Stimmt. 30 Jahre, wenn nicht länger. Ich trank dünnen Kaffee, hörte Neuigkeiten aus der Vergangenheit, dann ging es nach oben. Aufgeregtes Stühle rutschen. Ein Knirps sagt, ich hab dich schon gesehen. Ich dich auch, sage ich. Er saß, als ich kam, auf dem Mäuerchen vor der Schule. So ein kleiner Blonder. Lese aus der Sackgasse 13. Sie funktioniert, aber schade ist, dass ich immer nur Bruchstücke schaffe in 45 Minuten. Sie als Zusammenfassung auf die Highlights zu reduzieren, finde ich zu schade. Aber gut. Wir verstanden einander.
Zweiter Einsatz um zehn in einer Sonderschule. Man denkt dort, ich würde zweimal 45 Minuten lesen, aber das mache ich nicht. Rede mir ja auch so schon den Mund fusslig. Aber sie hätten doch zwei Gruppen, sagt der Direktor. Ich schlage vor, zweimal zwanzig Minuten zu lesen. Wir trinken wieder Kaffee. Dieser ist schon ein bisschen stärker. Wir sprechen über die alte Sonderschule, an die ich mich erinnere, das "Brettergymnasium", das noch früher eine höhere Tochterschule war, zu der meine Mutter ging. So kreise ich mich und meine Vergangenheit ein. Lesen werde ich in der Turnhalle. Topmodern das Ding, mit Möglichkeiten für Sound, Licht, Bühne. Die erste Gruppe setzt sich aus Kindern zwischen 8 und 10 Jahren zusammen. Lese "Die weggezauberten Eltern", einen Ohrenbären und lande damit auf fruchtbarem Boden. Der zweiten Gruppe, Schüler zwischen 12 und 16, lese ich "Die Reise ins Glück" vor. Sie lachen, wenn ich laut werde, etwa, wenn von "weißen Scheißern" die Rede ist, aber die Geschichte klickt durch. Einer sagt das zu mir, später, auf dem Schulhof. Mein Lohn.
Dritter Einsatz um 12 in noch einer Grundschule. Mensing, sage ich, als ich ins Sekretariat komme. Man schaut mich an, man wartet, dass ich noch mehr sage. Ich lese hier, füge ich hinzu. Ach Sie sind das! sagt die Sekretärin. Frau S. ist nicht da, ich seh mal nach, wo sie ist. Frau S., die Direktorin. Auch sie glaubt, dass ich zweimal 45 Minuten lese. Ich sage aber, dass da ein Missverständnis vorliegt. Ja dann, sagt die Schulleiterin, die nicht sonderlich interessiert scheint, ja dann. Legen wir die Gruppen zusammen, schlage ich vor, nehmen wir statt 70 als vereinbarte Höchstzahl einfach 100, ja? Gut gut. Und dann kommen sie, noch während der Lautsprecher im Musikraum irgendetwas quäkt. Presse ist auch da und hat schon erfahren, dass ich ziemlich enttäuscht bin über die mangelnde Resonanz der Schulen im Vorfeld. Sie haben das vom Schulamt, mit dessen Leiter ich darüber gesprochen hatte. Sie wollen in ihrem Artikel auch darüber schreiben. Ich lese "Pitti Pörtner und der kleine König". Und obwohl schon Mittag ist und dazu noch Montag, sind die Kinder mucksmäuschen still. Schön. Morgen mehr.
4.09.01 13:57
Nachtrag zu gestern:
Westfälische Nachrichten 4.09.01
Traum bleibt Traum - oder nicht?
Das Klingelzeichen kündigt das Ende der Pause an, und das bunten Treiben in den Gängen schwillt an. Die Kinder scheinen ausnahmsweise nicht enttäuscht zu sein, dass das bekannte Signal sie wieder zurück in die Klassenräume lockt. Heute erwartet sie allerdings auch ein ganz besonderes Ereignis: ein Autor, ein richtiger Schriftsteller, wird ihnen eine Geschichte vorlesen - und das ist sicherlich spannender als Mathematikunterricht.
Spannung lässt Hermann Mensing dann wirklich aufkommen: er gestikuliert, springt auf, klatscht plötzlich in die Hände, legt sich auf den Boden und kommt seinem kleinen Publikum ganz nah. Die rund 100 Viertklässler der Eilermarkschule können sich der Anziehungskraft der Geschichte und des Geschichtenerzählers nicht entziehen: sie sitzen ganz still und lauschen gebannt Mensings Worten.
Mensing entführt die Kinder in eine Welt, in der die Trennung von Traum und Wirklichkeit aufgelöst ist. Der kleine Pitti träumt, dass ihm ein grün bemantelter König aus dem Traumland ein A klaut und - siehe: er erwacht und kann kein Wort mehr richtig sprechen, das ein A enthält. "Mm" - statt Mama ist alles, was er herausbringt. Er erinnert sich an diesen Traum, aber Traum bleibt schließlich Traum, oder? Der kleine König jedoch ist nicht minder erschreckt. Er hat leichtsinnig die Morgenstunde missachtet, die gefährlichste Stunde der Nacht für einen Bewohner des Traumlandes, und findet sich nun in der Wirklichkeit wieder. Die beiden werden viel erleben, bevor Pitti Pörtner wieder sprechen kann und der König ins Traumland zurück gefunden hat. Denn: wer glaubt schon jemandem, der von einem kleinen grünen König erzählt, der Buchstaben klaut und im Traumland lebt?
Mensing empfindet auf überzeugende Weise die Sprachschwierigkeiten des kleinen Pitti nach - und bringt die kleinen Zuhörer samt ihrer Lehrer so immer wieder zum Lachen. Auch die Lehrer zeigen sich nach der Lesung beeindruckt. So ruhig haben sie ihre Schützlinge noch nicht erlebt. (...)
Nach der Lesung bombardierten die Kinder Mensing mit unterschiedlichsten Fragen zu seinem Beruf: Wie lange bist du schon Autor? Wie viele Geschichten hast du geschrieben? Und nicht zu Letzt: Wieviel Geld hast du verdient?
Mensings Antwort lässt nicht lange auf sich warten. "Fünf Trizzillionen Mark" sagt er und erntet ein einstimmiges "Cool." (Birgit Nienhaus)
Lesereise zweiter Tag:
Gut gemacht, Frau Nienhaus. Wären Sie heute gekommen, Sie hätten etwas ganz anderes erlebt. Desinteresse. Unfähigkeit, auch nur zwei Sätzen zuzuhören. Aber das ist eine andere Geschichte. Davon später. Zunächst nämlich eine Fahrt durch mausgraues Regenland. Eine Schule, in der niemand so recht weiß, wo denn das, weswegen ich gekommen bin, stattfinden soll. Und wo man auch glaubt, ich würde zweimal 45 Minuten lesen. Aber wo? - Nun, man macht sich auf den Weg und versucht das zu klären. Als man den Raum nach zehn Minuten gefunden hat, sagt man mir, ich solle schon mal hineingehen, die Gruppen kämen dann gleich. Ach ja. Danke für den freundlichen Empfang. Und dann kommen sie: Hauptschule, Schüler der Klasse 5, also gerade 10 Jahre alt, vielleicht ist der ein oder andere auch schon 11 oder noch neun. Schwierige Klientel also. Was es denn sein soll? frage ich. Finger schießen in die Höhe. Man will Horror. Schätze, damit kann ich nicht dienen. Biete aber eine "Nachtwanderung" an. Eine Protagonistin der Geschichte heißt Anna. "Immer heißen welche Anna!" sagt einer in der ersten Reihe. Ich unterbreche. Wie soll sie denn sonst heißen? "Bertha" sagt er. Gut. Nenne Sie also von nun an Bertha und habe ihm damit zunächst das Maul gestopft. Große Gruppe, weiß nicht, wie viele Kinder. Aber die Geschichte funktioniert ganz gut. Nicht, dass sie mich auf Händen tragen würden, nein, dafür sind sie schon viel zu abgeklärt, sie sehen ja von früh bis spät Haarsträubendes, aber zumindest lassen Sie mich in Ruhe lesen. Biete ihnen als Zugabe den "Elefant", eine heftige Geschichte. Immer, wenn es heftig wird, und ich laut werde beim Lesen, lachen sie. Das ist in Ordnung, sie müssen den Schreck weg lachen.
Die zweite Gruppe besteht aus Schülern der achten und neunten Klasse. Bunter Kulturenmix. Lese deshalb "Die Reise ins Glück". Auch hier Lachen bei lauten Stellen. Lachen, wenn von "weißen Klugscheißern" die Rede ist. Lachen, wenn ich "Asyl" sage. Zugabe ist "Ballade von einer Kanakenstadt". Noch Fragen? Nein, keine Fragen. Bloß weg hier, bloß nicht anfangen zu denken. Weg weg weg.
Die nächste Schule. Untergebracht im ehemaligen Gymnasium der Stadt, damals feinstes Viertel. Erinnere mich gut, wie mich der Direktor 1968 abblitzen ließ, als ich nach meiner Lehre dort mein Abitur nachmachen wollte. Damals galt in G. noch, dass man das Abitur den Kindern Besserverdienender vorbehalten sollte. Heute ist diese Schule eine Hauptschule und man hatte mich gewarnt. Hoher Anteil Russen. Türken. Alle Welt. Sozial komplizierte Familien im Hintergrund. Aber nicht die Russen und Türken nerven, sondern ein kleiner weißer Dicker in der ersten Reihe, der alles längst weiß und das demonstrativ vorführt. Der kommentiert. Der aufsteht, wann er will. Das schärfste an dieser Lesung aber ist, dass keiner der zwei anwesenden Lehrer eingreift. Die sitzen einfach da und lassen mich hängen. Ich lese "Alles ist gut, gar nichts". Hätte vielleicht eine andere Geschichte auswählen sollen. Aber die wäre ihnen wahrscheinlich zu albern gewesen. Ich mache den Kindern keinen Vorwurf. Sie tun mir leid. Sie haben keine Chance. Und das Schulsystem kann nichts tun, um sie da rauszuhauen. Der Grund ist simpel: es fehlt an allem. Vor allem aber an Geld. Und es scheint, als stünde dahinter System. Die Folgen dieser Mangelwirtschaft werden so gravierend sein, dass man sich in einigen Jahren wünscht, man hätte vorher eingegriffen. Aber dann ist es zu spät.
5.09.01 16:17
Lesereise dritter Tag: heute lobe ich mich. Ich war gut. Die Kinder waren gut. Meine Geschichten waren gut. - Erste Schule - komische Adresse: Gasstraße. Reiner Waschbeton aus den goldenen Siebzigern, eine Pausenhalle mit Scheinwerfern, Pult, Mikro und Schülern einer Hauptschule, die ganz anders waren, als die gestern. Offenbar wollten sie mir eine Chance geben. Offenbar hatten sie Interesse. Und mir schien, dahinter stand ein Lehrer, der informiert war. Hatte meine Website gecheckt und wusste, wo der Hase läuft. Ich schaute mir die Schüler an und entschied, mit "Leider Lila" zu beginnen, eine Geschichte, in der Mädchen die Hauptpersonen sind. Sonst sind es immer Jungs. Und da Jungs häufig Großmäuler sind, schien mir das nicht ganz ungefährlich. Risiko! Und? Gewonnen. Sagte ich nicht, heute sei mein Tag? Ja. Sagte ich. Als zweite Geschichte bot ich "Die Reise ins Glück" an. Da ein Mikro vor mir stand, blieb ich leise. Sagte "na, ihr weißen Klugscheißer" und man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Als Zugabe gab es "Der Elefant", und auf die Frage, wo man all diese Geschichten lesen könne, zeigte ich meine Bücher her und verwies auf meine homepage. Ja. So ist er, der moderne Autor. Suizidgefährdet, drogensüchtig, hompage-abhängig, hochgradig depressiv und immer für die Kunden da.
Dann zur einzigen Schule, die im Vorfeld der Lesungen Kontakt mit mir aufgenommen hatte. Ich dachte, so etwas müsse belohnt werden, und bot den Kindern daher eine kostenlose Zusatzlesung an. Sagte, wann immer sie möchten, ich würde kommen. Das gefiel ihnen. Las aus der "Sackgasse 13". Ließ mir viel Zeit. Las nicht so, als müsse ich den Roman in 45 Minuten umfassend erzählen, sondern so, dass keine Nuance verloren ging. Und das funktionierte. Je langsamer ich lese, desto mehr blüht der Text. Im Anschluss an diese Lesung Fragen über Fragen. Die Grundschüler hatten sich vorbereitet. Sie hatten Zettel dabei. Wie alt bist du? Wie groß ist dein größtes Buch? So groß wie ein Kleiderschrank ungefähr, antwortete ich. Und wie schwer bist du? Zwei Tonnen. Wie lange brauchst du für eine Geschichte? Wie machst du das? Woher nimmst du deine Ideen? Schön war das. Und dann: Autogramme schreiben. Ca. 60 - 80. Und noch fünf Minuten Pause, bis zur nächsten Gruppe. Drittklässler diesmal, denen ich "Pitti Pörtner" vorlas. Pitti bringt mich immer auf die sichere Seite, aber das war nicht der Grund. Ich wollte nur nicht zweimal das gleiche lesen. - So weit die ultimative Lobhudelei für heute. Morgen weitere drei Lesungen. Dann Freitag noch und schon ist die Woche vorbei.
6.09.01 16:54
Lesereise 4. Tag: Las an drei Schulen. Die erste in Gronau, nicht weit von der Straße, in der Onkel Hans früher lebte, mein Lieblingsonkel, ein Quartalssäufer und Schuldenmacher. Seltsame Skepsis empfing mich. Nicht einmal der Direktor war informiert. Er versuchte mich auszufragen wie bei einem Verhör. Bockte und hielt hinterm Berg. Als dann noch die Lehrerinnen kamen, in deren Klassen ich lesen sollte, verdreifachte sich dieses Gefühl. Natürlich war man auch hier davon ausgegangen, ich könne ohne weiteres zwei Mal 45 Minuten lesen. Wieso man sich denn nicht mit mir kurzgeschlossen habe, fragte ich, und erhielt als Antwort, man habe die Informationen über die Veranstaltungen ja erst gestern zum ersten Male gesehen. Biete, wie schon vorher, zwei kurze Gruppen je 20 Minuten an. Der ersten lese ich "Die weggezauberten Eltern" vor. Man ist reserviert, aber man hört zu und schenkt mir den ein oder anderen Lacher. Der zweiten Gruppe lese ich aus der "Sackgasse" und hier ist die Stimmung vom ersten Satz grundlegend anders. So anders, dass ich die Kinder "lähmende, durch Mark und Bein fahrende" Geräusche produzieren lasse, die auf mein Zeichen abbrechen. Klappt! Haben viel Spaß. Gebe jedem ein Autogramm. Autogramme sind offensichtlich etwas Tolles. Die Kinder stehen in Reih und Glied und halten mir Hefte hin und kleine Zettel und Stofftiere und Etuis.
Die zweite Schule dieses Morgens steht unterm Schutz des heiligen Georg. Ein Quotenmann sitzt verschüchtert im Lehrerzimmer, die übrigen Personen sind Damen, die rauchen und Kaffee trinken. Man hat den Messe- und Musikraum vorbereitet, auch hier lese ich die "Sackgasse". Ich raffe hier und da, ich schaffe in dreißig Minuten ca. 20 Seiten, die ersten 20 Seiten des Romans, und auch hier sind die Kinder Schätze, die begierig hören und mitmachen.
In der dritten Schule, der Schule des Heidedichters, kommen fast hundert Kinder in einem viel zu kleinen Musikraum unterm Dach zusammen. Nach fünf Minuten ist es schon heiß wie in einer Sauna, es ist nach Mittag, ich habe zweite Klassen vor mir, also Kinder, die gerade sieben Jahre alt sind, vorn sitzt so ein blondes kleines Mädchen und tippt mir, während ich lese, innerhalb von zehn Minuten ein- zwei- drei- viermal auf den Fuß. Beim fünften Mal sage ich, hör mal, wenn du mir noch mal auf den Fuß tippst, haue ich dir dafür jedes Mal auf den Kopf. Sie lacht, ich lache, dann lässt sie mich in Frieden. Auch hier machen die Kinder die Geräusche zum Hören, und als ich zum Schluss frage, ob es schon Vermutungen gäbe, worum es sich bei diesem Spuk handle, sagt einer "eine Tarantel". Ich verrate nichts. Auch in der anderen Schule habe ich nichts verraten und beim Autogramme schreiben gesagt, es sei ein Kamel, aber das hat niemand geglaubt. Noch ein Satz zu den Lehrerinnen: bei einigen hatte ich das Gefühl, dass sie Kinder nicht lieben. Dass ihnen Kinder eher lästig sind, ja, dass sie deren Existenz nur mühsam dulden, und darauf warten, möglichst bald zu heiraten. Strohdumme Tussen. Die Kinder sind wundervoll. Morgen ist mein letzter Tag. Morgen kehre ich an meinen Ausgangspunkt zurück, an die Schillerschule. Mal sehn, wie das wird.
7.09.01 15:31
Lesereise fünfter (und letzter) Tag:
Zickezacke Hühnerkacke. Mäuse furzen. Am Arsch der Welt wohnen. Pippi. A-A. Mal angenommen, ich würde meine Geschichten mit derartigem spicken, wären die Lacher auf meiner Seite. Wenn ich zudem noch zu vordergründigem Spektakel neigte, könnte ich mir sicher bald ein Häuschen kaufen. Da ich aber eher sparsam bin und das Leise dem Lauten vorziehe, wird es mit dem Haus vielleicht noch ein wenig dauern. Drei Schulen heute. Die erste idyllisch am Stadtrand, mit einem wunderschönen Schulhof im Schatten alter Linden. Im Musiksaal versammeln sich zwei vierte Klassen, denen ich die "Sackgasse" vorlese. Reserviertes Zuhören zunächst, es ist Freitagmorgen, gerade nach acht, aber so gegen halb neun tauen die Kinder auf. Ich bin da schon schweißgebadet, aber das macht nichts. Die Fragen sind die üblichen, die Schlüsse, die gezogen werden, zielen bis auf einen alle in die falsche Richtung. Was mir gefällt, denn schließlich soll man seine Leser ins Bockshorn jagen, sie auf falsche Fährten schicken, zappeln lassen.
Die zweite Schule ist meine Schule. Dort habe ich die ersten vier Jahre meines Schuldaseins verbracht. Dort habe ich Eckhard, der einen Wasserkopf hatte, verspottet. Dort habe ich Mutti zu einer Lehrerin gesagt und bin darauf selbst Ziel zahlloser Spottattacken geworden. Dort habe ich Doris R. verhauen und Ronald V. in den Arsch getreten. Dort habe ich von einem Lehrer, dessen Name mir entfallen ist, eins mit dem Rohrstock auf die Finger gekriegt, dass sie bluteten und von dort bin ich weg, um zur Realschule zu gehen. Ich habe dieses Gebäude in all den Jahren immer wieder gesehen, aber betreten hatte ich es seit 1960 nicht mehr. Das Schulklo im Keller, das man durch Schwingtüren vom Schulhof betrat, ist nicht mehr da. Das fiel mir als erstes auf. Drinnen sieht die Schule aus, wie Grundschulen heute aussehen, ich sprach schon davon: kreativ. Die Lehrer sind weiblich, Mitte 20 bis Anfang 40, freundlich. Ich lese unterm Dach, ein schöner großer Raum, früher wahrscheinlich der Dachboden. Drei Klassen hören mir zu, oder vielleicht waren es vier. Was die Sache kompliziert machte, war, dass es zwei zweite Klassen und zwei vierte waren. Was sollte ich denen lesen? Den Kleinen wäre dieses zu groß, den Großen jenes zu klein. Da jedoch auch die Großen noch ziemlich klein aussahen, las ich ihnen "Pitti Pörtner" vor und fuhr ganz gut damit. Das einzige, was mich gestört hat, waren die ständigen Maßregelungen der Direktorin schon bei kleinen Störungen. - Checkten anschließend meine Homepage, konnten aber nicht zugreifen, da der Zugriff angeblich nicht möglich, sondern verboten war. Seltsam.
In der dritten Schule hatte man die Turnhalle für meine Lesung vorbereitet. Dritte Klassen, etwa 70 Kinder in einer Halle, in die fünfhundert gepasst hätten. Ein Mikrofon war da, und, zum zweiten Mal in dieser Woche, eine Flasche Wasser und ein Glas. Man hatte also mitgedacht. Jeder, der mitdenkt, ist mir auf der Stelle sympathisch. Die Kinder waren nicht mucksmäuschenstill, aber sehr empfänglich. Ein Mädchen hielt sich sogar die Ohren zu, wenn sie glaubte, dass es gefährlich wird. Las die "Sackgasse". Beste Frage zum Schluss: wie das denn wäre mit einem Buch, zu Anfang wären die Seiten doch leer, oder? Doch ja, sagte. Sind sie. Ach ja: checkten auch dort meine homepage. Hier hatten wir kein Problem mit dem Zugriff, obwohl alles übers gleiche Programm lief. Manchmal sind sie halt komisch, die Server.
8.09.01 10:25
Mein Herz rast noch. Es hat sich aufgeregt. Es hat ihm einiges abverlangt, sich vor so vielen Kindern zu produzieren. Ich werde nichts tun müssen jetzt. Ich werde still werden. Ich werde langsam gehen und lesen und versuchen, es wieder in Takt zu bringen. Ich werde nicht schreiben. Am liebsten nicht denken. Ich würde mich in künstlichen Schlaf legen und dann in Wien erwachen. So etwas sollte ich tun. Meinem Herzen zuliebe. Wie es poltert und seltsame Sprünge tut. Äußerlich bin ich ruhig. Ansehen tut man es mir nicht.