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Hermann Mensing

Reise ins Glück

 

Im Dorf fielen die Männer sofort auf. Sie waren anders gekleidet als wir, sie sprachen anders, und es hieß, dass man sich vor ihnen in acht nehmen müsse.

Papa schärfte mir ein, einen Bogen zu schlagen, wann immer ich einem begegnete. Ich hielt mich daran. Aber ich ließ sie nicht aus den Augen. Sie fuhren schwere Limousinen, sie kurvten mit quietschenden Reifen durchs Dorf, und obwohl ich das albern fand, wirkten sie furchteinflössend.

Ein paar Wochen später hörte ich Papa sagen, die Männer wären gar nicht so schlimm, wie er gedacht hätte, sie hätten ihm sogar ein Angebot gemacht, ein sehr interessantes Angebot.

Was für ein Angebot? fragte Mama.

Uns von hier fort zu bringen.

Mama wurde kalkweiß vor Schreck. Fort?

Ja, sagte Papa und beschrieb mit ausgestreckter Hand merkwürdige Spiralen in die Luft. In ein anderes Land. Für immer.

Niemals!

Aber wir werden verhungern, wenn nicht bald etwas geschieht. Oder ihre Kugeln werden uns treffen. Wir müssen es tun!

Mama begann zu weinen.

Ich schlüpfte durch die Hintertür aus dem Haus und rannte zum Kirchplatz.

Dass Mama so ahnungslos war! Jeder im Dorf wusste doch, dass die Männer Agenten waren. Man gab ihnen Geld, und sie brachten einen in ein Land, in dem es Frieden und Arbeit gab. -

Ich hatte von diesen Ländern gehört. Ich hatte Bilder gesehen. Die Menschen waren gut gekleidet, ihre Autos nagelneu, was immer man kaufen wollte, konnte man kaufen, niemand schoss und es gab zu jeder Tageszeit Elektrizität und fließendes Wasser.

So wie früher bei uns.

Ich setzte mich auf die Kirchenstufen.

Seit dem Auftauchen der Männer hatte ich so viele Geschichten gehört, dass mir der Kopf schwirrte.

In den meisten ging es um Geld und wie schnell man es in jenen Ländern verdienen kann. Man sagte, es läge dort auf der Strasse. Man müsse es nur aufheben. Jeder sei seines Glückes Schmied, sogar ein Weißer könne das, Hauptsache, er wolle arbeiten. Und natürlich kannte jeder jemanden, der sein Glück dort gemacht hatte.

Die Leute erzählten irre Gesichten.

Sie sagten, dass Frauen ohne Erlaubnis ihrer Väter heiraten dürften, sie sagten, es gäbe dort keine Kartoffeln, man äße von früh bis spät Fleisch, sie sagten, dass Männer Männer liebten und Frauen Frauen, im Fernsehen liefen von früh bis spät Hollywood-Filme und einige behaupteten sogar, es gäbe nicht einmal einen Gott.

Ich wusste zufällig, dass das nicht stimmte.

Ihr Gott hieß nur anders und hatte keinen Sohn, der für uns gestorben war, und Maria kannte auch keine Sau. Davon aber mal abgesehen hatte ich das Gefühl, dass die meisten Geschichten erstunken und erlogen waren.

Zum Beispiel die, dass sie Häuser von Weißen anzündeten. Oder die, dass sie Weiße mit Baseballschlägern tot schlugen wie räudige Hunde. Oder dass sie Weiße jagten wie Tiere. Ich konnte das einfach nicht glauben, denn warum sollte das jemand tun, der genug von allem hat?

Nein, ich war sicher, dass das nicht stimmte.

Ich konnte einfach nichts Schlimmes daran entdecken, mit Mama und Papa fortzugehen. Dort war die Zukunft, hier war nichts als Vergangenheit. Hier versprach einem niemand mehr etwas. Ich fand es aufregend, Onkel Heinrich zu folgen, der seit einem Dreivierteljahr fort war. Er hatte eine Karte geschrieben, auf der stand, wie gut es ihm ging, und dass alles wahr wäre, was man sich von dort erzählte.

Ich stellte mir vor, dass ich berühmt werden würde. Einer, der sein Glück gesucht und gefunden hatte. Ich würde das ganz bestimmt schaffen. Und dann würde ich Mama und Papa ein Haus kaufen und wir wären zufrieden.

Mama hatte verweinte Augen, als ich nach Hause kam.

Wir gehen fort! sagte sie nach einer Weile und versuchte tapfer zu lächeln.

Ich sagte, dass hätte ich längst geahnt und dass es doch gar nicht so schlimm wäre.

Mama umarmte mich.

Vielleicht nicht für dich! Du bist ja noch ein Kind.

Pahh, machte ich.

Was Mama immer hatte! -

Wenn ich mit Papa in die Wälder ging, um Brennholz zu sammeln, war ich wohl kein Kind mehr, wie? - Wenn ich die schweren Bündel ins Dorf trug, strich mir keiner über den Kopf und sagte, ach du bist ja noch ein Kind.

Mamas Lächeln verflog. Sie begann wieder zu weinen. Ich versuchte sie zu trösten, doch sie stand einfach da und heulte, so dass ich nicht mehr wusste, was ich tun sollte.

Stell dir vor, fort von hier! jammerte sie, als wäre Fort das schlimmste Wort, das sie kennt. Als sie dann sagte, dass es in vier Wochen schon so weit wäre, war auch mir plötzlich zum Heulen. Ich ließ mir nichts anmerken, aber ich spürte, dass es einen Unterschied macht, von etwas zu träumen, und etwas tatsächlich zu tun.

Kein Wort zu niemandem, verstanden? sagte Mama.

Ich nickte, aber ich hatte das Gefühl, man würde es mir sowieso ansehen.

Das Dorf war in heller Aufregung. Gerüchte schwirrten.

Der geht und der, die und die gehen auch, hieß es.

Mit jedem Tag, der unsere Abreise näher brachte, wuchs meine Furcht. Warum bloß? -

Wo ich doch mein Glück machen wollte!

Wo ich den Gedanken doch immer noch gut fand!

Wo doch die Aussicht bestand, in Frieden zu leben!

Die Furcht war stärker.

Und dann tauchte plötzlich auch Heimweh auf.

Die Berge, meine Berge wären für immer verloren.

Meine Wege durchs Dorf, ich würde sie nie mehr gehen.

Meine Wolken, mein Wind, alles auf immer und ewig.

Und meine Freunde, all die, die nicht gingen! 

Aber dann kam eine Welle von Angriffen und ich war froh, als es endlich losging.

Wir trugen kaum mehr Gepäck als das, was wir am Leibe hatten. Papa hatte unser kleines Haus verkauft, aber der Erlös war lächerlich niedrig gewesen. Papa hatte alles verkauft, was zu verkaufen war. Ich wusste das, weil ich gelauscht hatte. Das bisschen Geld, das Papa geblieben war, nachdem er den Agenten bezahlt hatte, hatte Mama ihm in sein Jackenfutter eingenäht.

Der Morgen unserer Abreise war strahlend schön.

Papa hatte uns eingeschärft, nicht zurück zu schauen, einfach in den Bus zu steigen und nach vorne zu blicken, aber als wir aus dem Dorf hinaus die Straße zum Berg hochfuhren, sah ich mich um und wusste, dass mein Herz diesen Blick nie vergessen würde.

Ich weinte. Alle weinten. Die Männer, die Frauen, die Kinder. Aber dann schob der Busfahrer eine Cassette mit fröhlichen Liedern in den Rekorder und unsere Tränen trockneten.

Der Bus fuhr den ganzen Tag.

Am Abend erreichten wir einen Hafen. Am Kai lag ein Schiff, das aussah, als würde es jeden Augenblick in zwei Teile zerbrechen und mit Mann und Maus versinken.

Damit sollten wir fahren?

Schnell schnell schnell, sagten die Männer, Mitternacht müssen wie Da und Da sein.

Da und Da? tuschelten die Leute.

Da und da? riefen sie, wir wollten aber doch nach Dort.

Ja, ja, ja, knurrten die Männer, natürlich, eins nach dem andern. Sie blickten sich unruhig um, während wir an Bord rannten und versuchten, einen Platz unter Deck zu ergattern. Aber da war längst alles voll, uns so blieb uns nichts, als uns hinter Kabelwinden zu ducken, die an Steuerbord standen.

Wenig später legte das Schiff ab. Die See war ruhig, der Himmel wölbte sich tief ins All, und wenn Mama nicht so traurig dreingeschaut hätte, hätte ich es vielleicht schön gefunden, von der sanften Dünung geschaukelt zu werden.

Irgendwann schlief ich ein.

Als mich jemand wach rüttelte, spürte ich, wie das Schiff schlingerte. Ich öffnete die Augen. Mich umgab tiefschwarze Nacht, und ich hörte verängstigte Stimmen. Aus dem Dunkel tauchten Gestalten auf und verschwanden wieder. Manche trugen Baseballschläger, andere Maschinenpistolen.

Wir sollen von Bord! sagte Papa.

Von Bord?

Ja, sie sagen, das Ufer sei gleich da vorn.

Ich starrte in die Dunkelheit. Tatsächlich. Ich konnte Lichter sehen. Fern schimmernde Lichter.

Los los los, schrieen die dunklen Gestalten, vorwärts ihr faules Pack, wir machen hier keinen Ausflug, dies ist eine Reise ins Glück, also los, nehmt ein Bad. Und dann schwimmt. Ihr werdet am Ufer erwartet...

Den Rest der Geschichte findet ihr in:

Du bist nicht wie wir, Ueberreuter Verlag, Wien 2001