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Hermann Mensing

Briefe an Annette von Droste Hülshoff

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Liebe Annette,

ich kenne einen gewissen Herrn M., der sich Dichter nennt, der, schaut man sich seine Bibliografie an, fleißig war, sehr fleißig, sagen manche, aber dieser Fleiß hat nie dazu geführt, dass er seinem ICH nähergekommen wäre. Vielleicht ist ICH gar nicht existent. Herr M. ist deshalb manchmal von solcher Unruhe befallen, von Unwillen, Ekel und Abscheu, dass ihm nur ein sich selbst gewisses ICH helfen könnte, solche Tage zu überstehen. Aber es ist nicht da. Er geht in der Wohnung herum, er sieht sein Leben in Ecken und Schränken, auf Regalen, an Wänden, überall finden sich Spuren eines Bewohners, der Herr M. sein muss, dennoch ist nirgendwo ICH, das sagen könnte, ruhig Blut, Dichter, du bist siebzig, du darfst dich zurücklehnen. Wer darf sich zurücklehnen? ICH, sagt das ICH. Herr M. wäre der erste, der seinem ICH das DU anböte, und so bleibt es mit sich und dem Dichter allein. Mit den Tasten seiner Schreibmaschine, die eine computerisierte Maschine ist, mit einer Zeit, die eine computerisierte Zeit ist, und mit der Gegenwart, der einzigen Größe, die etwas über das Leben des Menschen aussagt. Was sollte er also tun? Sollte er - nur, um mehr Gegenwart spüren zu können - von früh bis spät Text produzieren? Sollte er weiter warten, dass jemand begreift, dass seine Texte die Gegenwart spiegeln. - Ist er verkannt? Herr M., halten Sie sich für einen verkannten Dichter? Nein. - Für was denn? - Für einen verkannten Dichter. Für einen faulen Dichter. Für einen Dichter, der, hätte er Frau, Kinder und alles übrige hintenan gestellt, auf den Olymp aller Dichter gestiegen wäre, aber das hat er gescheut, denn seine Frau und seine Kinder waren ihm mehr wert. Und nun, was bleibt nun? Noch eine Woche, noch zwanzig Jahre, man weiß das nicht, auf jeden Fall bleibt die Gegenwart. Du, Nette, hast dich entschlossen, jenes, was dich kränkte und zu verschiedenen Zeiten, oft und sehr gekränkt hat, in Zukunft als etwas Unveränderliches zu tragen. Dem schließe ich mich an, Nette. Und heute Abend ist Tango.


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