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Hermann Mensing

Briefe an Annette von Droste Hülshoff

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Liebe Annette,

vor zwei Jahren habe dir das letzte Mal geschrieben. Die Seuche, von der erzählte, grassiert noch, aber mittlerweile gibt es Impfstoffe, die den körpereigenen Zellen helfen, sich gegen das Virus in Stellung zu bringen. Ich wurde dreimal geimpft. Mit einer Spritze injizierte mir ein Arzt Impfstoff die Muskulatur meines rechten Oberarms. Vor vier Wochen hat mich das Virus dennoch erwischt. Glücklicherweise war die Erkrankung sehr mild und ist längst ausgestanden. Sie ist aber nicht immer mild. Seit Ausbruch sind 6,1 Millionen Menschen daran gestorben. Sprach man zu deiner Zeit schon von Viren? Ich weiß nicht, Fakt jedenfalls ist, dass erst 1883 ein Mikrobiologe zu Bakterien und Viren zu forschen begann. Viren sind kleinste Krankheitserreger, die z.B. über die Luft in den Körper gelangen, wo sie versuchen, sich festzusetzen. Von Malaria wirst du gehört haben. Mal aria, die schlechte Luft. Die Seuche, die seit 2020 die Welt in Atem hält, heißt SarsCovid 19. Sie befällt die Lunge, kann aber auch andere Organe angreifen und Langzeitwirkungen haben. Mir ist sie unheimlich, und die Forschung weiß noch längst nicht alles darüber. Viele Menschen haben 2020 nicht glauben wollen, was da ausbrach. Sie dachten, etwas, das man weder hören, riechen noch sehen könne, gäbe es nicht. Viele verstiegen sich in atemberaubende Lügen, die ein im Taumel der Macht verrückt gewordener amerikanischer Präsident durch seine Reden befeuerte, so dass die Welt jetzt noch zerrissener ist als vorher. Zwei Jahre haben wir in der Öffentlichkeit eine Maske tragen müssen, um uns und andere zu schützen. Jetzt gehen die Erkrankungen langsam zurück, aber es herrscht Krieg in Europa. Russland hat die Ukraine angegriffen, ein Land, das zu deiner Zeit nicht existierte, sondern Teil des Zarenreiches war. Krieg, stell dir vor. Ein weltweite Seuche und Krieg. Keine schönen Aussichten. Aber gestern, am 2. April, habe ich zum ersten Mal wieder Gäste durch das Rüschhaus geführt. Das war in den letzten zwei Jahren wegen der Seuchenbestimmungen auch nicht möglich. Ich durfte zwar mit den Gästen ums Haus gehen, aber nicht hinein. Also erzählte ihnen von außen, was sie drinnen sähen, dürften sie das Rüschhaus betreten. Verrückte Zeiten, aber das Erzählen im Konjunktiv hat einen seltsamen Reiz. Gestern war ich mit insgesamt 12 Menschen im Haus, und fand alles in gutem Zustand. Das Scheunentor ist repariert, das Kavaliershäuschen stilsicher neu möbliert, und das Dorf, die Annette-von Droste Hülshoff Stiftung und das Center for Literature feien deinen 225 Geburtstag. Die Welt ist in keinem guten Zustand, Annette. Ich weiß, das war sie noch nie, aber die politisch Mächtigen der Gegenwart sind jederzeit in der Lage, mit einem Knopfdruck alles Leben auf diesem Planeten zu vernichten. Erschrick nicht, Annette, du bist nicht von gestern, du wusstest von der großen Unruhe.

endet das
das endet
das auch
das endet auch
das und das
alles endet
fängt woanders an
endet und fängt wieder an
aber das endet
und das ende wird schön


Bis bald,

Hermann


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