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Hermann Mensing

Briefe an Annette von Droste Hülshoff

Annette Brief 54

Liebe Annette,

Enten begrüßten mich, als ich das Rüschhaus aufschloss. Hermann, die Droste war hier, schnattaterten sie. Die ganze Nacht ist sie herumgegangen voller Zweifel und düsterer Ahnungen, sie bekam schlecht Luft und fürchtete, an der Schwindsucht zu sterben wie Ferdinand. Als wir ihr sagten, dass du heute kommen würdest, hat sie sich ein wenig beruhigt und ist verschwunden.

Ich ging ins Haus. Die Luft schmeckte nach Vergangenem. Ich öffnete alle Blendläden. Licht muss hinein, dachte ich, was eben hinein geht, muss hinein, aber der Tag war trüb. Ich öffnete die Flügeltüren im Gartensaal. Luft. Licht und Luft, solange es noch geht. Ich fand keine Spuren von dir, bis auf die Verpackung eines Schokoriegels. Hatte dein Homöopath dir Süßigkeiten nicht verboten? Naja, vielleichts war's ja der Nöck, der dir, als du die Burg verlassen musstest, hierher gefolgt ist. Das Gedicht, das ich dir letztens unter die Matratze deines hübschen Kirschholzbettes gelegt hatte, war allerdings nicht mehr da. Kannst du mir erklären, wieso man uns Gästeführern gesagt hat, es sei dein Sterbebett, wo doch in Meersburg noch eines steht?

Heute ist mein letzter Tag, Annette. In etwas mehr als einer Woche bleibt nachts um drei die Welt für eine Stunde stehen. Züge warten auf Bahnhöfen, und wenn es eigentlich vier wäre, rückt man die Zeiger auf zwei zurück, und beraubt uns des langsamen Hineingleitens in die dunklere Jahreszeit. Sommer und Winterzeit, nennen wir das und glauben, was machbar ist, kann man auch machen.

In der letzten Woche waren eine Veranstaltung im Haus. Junge Künstler haben "performt". Ein Anglizismus, unsere Sprache ist schon seit Jahren voll davon. Dieser will sagen, man hat etwas aufgeführt, das Horror Vacui hieß. Ich hatte Zweifel, ob sie wussten, wovon sie reden, Fakt jedenfalls ist, dass sie das Aufräumen vergaßen. Es stehen noch immer zwei rosafarbene Sitzsäcke in der Diele, hässlich wie die Nacht, und das ausgerechnet an meinem Lieblingsort. Die Süßigkeiten sind auch von ihnen, Schokoriegel und Kartons voller Haferkekse. Du bist tot, ich bin alt, das wird der Grund sein, weshalb meine Zweifel wachsen, statt sich zu verflüchtigen. Egal.

Ich kniete vor dem Tresor, wählte die Kombination, öffnete die schwere Tür und nahm die Kassenlade heraus. Als ich sie über den Hof ins rechte Kavaliershäuschen trug, fegte mir ein Wind zwei Zehneuroscheine aus der Lade, aber ich konnte ihre Flucht vereiteln. Ja, Annette. Euro. Unser Geld heißt Euro, und man kann fast überall in Europa damit bezahlen.

Es regnete. Heute wird niemand kommen, dachte ich. Ein Eichhörnchen trug zwei Walnüsse in ein Versteck. Im Kassenhäuschen warteten Menschen aus Überlingen am Bodensee. Die wussten, wovon ich erzählen würde, sie waren vertraut mit dir und deiner Arbeit, mit ihnen ließ sich gut arbeiten. Danach ging es Schlag auf Schlag bis zur letzten Gruppe, fast 30 ältere Menschen aus Niederkassel. Ich bin selbst ein älterer Mensch, aber manchmal neige ich zur Ungeduld, denn ältere Menschen bleiben gern stehen und verlieren sich, während ich schon im nächsten Raum eine Rede halte, um pünktlich zur nächsten Führung fertig zu werden. Drei Führungen, drei Stunden wörtlicher Rede liegen wie Raureif auf meinen Stimmbändern. Feierabend. Das Haus sichern. Und glaub bloß nicht, ich hätte dich nicht hinterm Fenster gesehen, als ich auf mein Rad stieg. Ich bin ja nicht blöd. Ich glaube an Gespenster. Auch ich bin ja nur eine Gestalt in Time.

Bis bald

Hermann

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