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Hermann Mensing

Briefe an Annette von Droste Hülshoff

Brief 60

Liebe Annette,

der Frühling lässt auf sich warten. Als Folge des Krieges in der Ukraine haben unsere Regierenden dazu aufgerufen, mit der zur Verfügung stehenden Energieträgern Gas und Öl sorgsam umzugehen. Also haben ich mir wollene Unterwäsche angezogen, trage mehrere Pullover übereinander, lege mir Decken um und heize nur, wenn es nicht anders geht. Anfangs dachte ich, das könne nicht gemütlich sein, aber das stimmt nicht. In einem Raum mit 14 Grad atmet es sich leichter, als in einer überheizten Stube, und mit Kissen und Decken ist es wunderbar. Zum Glück hat dieser Winter uns nicht hart gestreift, nur für ein paar Tage im Dezember war der Anfang des 20. Jahrhunderts gegrabene Aasee, da, wo die Aa in die Stadt fließt, zugefroren.

In vier Wochen beginnt die Saison im Rüschhaus. Die Burg ist seit vier Tagen wieder geöffnet. Am 24 Februar werde ich eine niederländische Delegation durch die Droste Digtial Ausstellung führen. Ich habe fast eine Woche gebraucht, um alle mir zur Verfügung stehenden Manuskripte zu dieser Ausstellung zu übersetzen. Auf Niederländisch habe ich noch nie geführt. Ich bin ein wenig aufgeregt, aber es ist eine freudige Aufregung.

Im Augenblick schreibe ich fast nur Gedichte. "Schnee fällt auf unsere verwahrlosten Seelen", der Roman, an dem ich seit vier Jahren arbeite, ruht. Ich schaue ihn nicht einmal an. Ich umkreise ihn, ja, das schon, aber gibt noch so vieles zu überdenken, eh ich mich wieder an die Arbeit mache. Falls ich mich an die Arbeit mache.

Für dich habe ich ein Gedicht.
Lies es laut, denn du wirst einiges nicht verstehen.
Mimikry. SUV. Flatscreen. Zappen.
Wenn du willst, erklär ich es dir, wir sehen uns ja bald.


wind bittet forsythien zum tanz
spatzen legen patiencen
in verborgenen nestern
es ist freitag
gleich wollen sie trinken
über ihnen mausgrauer himmel
ein durchgelegenes bett
in dem unerhörtes volk lebt
regennasse dächer
wischen sich die traufe aus der stirn
solarpanele sind zeugungsunfähig
dazu die mimikry der koniferen
sie tun so als wären sie
kugeln und pyramiden
sie sind herumgekommen
sie haben speiselokale besucht
leere züge gesehen und träume
von denen niemand etwas ahnt
pitschnasse winterlinge
ein abgetretener bürgersteig
in garagen brütende suv's
sie sind betrübt
weil sie außer ihren besitzern
keine freunde haben
alles hier hat einen plan
aber niemand spricht darüber
nur wenn es stockdunkel wird
wenn die nacht marodiert
und sie nur noch sich selbst fürchten
gestehen sie
dass nichts so gekommen ist
wie sie es erträumt hatten
sie zünden türgroße flatscreens
und zappen durch fremde träume


Herzlich


Hermann

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