www.hermann-mensing.de

Hermann Mensing

Briefe an Annette von Droste Hülshoff

9

Liebe Annette,

du als adeliges Fräulein musstest nicht arbeiten. Du konntest in deinem Schneckenhaus sitzen, dichten, deine Depressionen pflegen, und Briefe an deine nicht adeligen Mentoren schreiben, an Schlüter und Sprickman, an den guten Jungen Schücking, und ich wette, dass die sich trotz des Niedergangs der Aristokratie gebauchpinselt fühlten, mit dir über die Welt und die Literatur zu parlieren. Sie mussten dafür einige Mühen auf sich nehmen. Von Münster bis ins Rüschhaus, das war ein Stück, drei Stunden, schätze ich, bei den Wegen damals, und wenn man dann noch drei für den Rückweg einplant, und, falls es Winter ist, an die Dunkelheit denkt, dann hattest du Verehrer. Plantonisch, versteht sich, wie auch anders, Mutter war ja immer in der Nähe.

Ich wurde gestern gefragt, ob ich mich in dich verliebt hätte, weil ich dir Briefe schriebe.
Nein, sagte ich, ich bin gern in diesem Haus, ich liebe den Job, ich staune jedes Mal, was mir alles zu dir einfällt, und wie aus meinen Geschichten auch die historischen Hintergründe plastischer werden. Im nächsten Leben, denke ich dann, werde ich nicht nur Bassist, wie geplant, sondern auch Historiker.

Ich gehe herum, ich lausche den Gespenstern und komme dir näher. Sei also nicht böse, Annette, die um dich sich ausbreitende biedermeierliche Züchtigkeit macht mich nicht an. Auf dem Heimweg vorhin habe ich versucht, dich in die Gegenwart zu bringen, dir eine andere Frisur zu verpassen und andere Kleidung anzuziehen, etwas, das dich streckt, denn bis bist ja kaum mehr als einsfünfzig, aber auch dann, fürchte ich, wärst du nichts für mich.

Mit deinen Gedichte werde ich mich beschäftigen, einiges deiner Prosa habe ich gelesen, sie ist bildreich und kräftig, die Judenbuche vermittelt ein nachvollziehbares Bild der damaligen Gesellschaft: die Gutsherren mit ihren Förstern auf der Seite der Macht (du gehörtest zu ihnen), und die Dörfler mit ihrer Armut und Aussichtslosigkeit auf Besserung gegenüber.

Hatten adlige Fräulein ein soziales Gewissen?

 

 

nächster Brief