April 2011                                        www.hermann-mensing.de          

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zum letzten eintrag


Fr 1.04.11 9:16

Als der Tagesschausprecher vor zwei oder drei Tagen im Zusammenhang mit der Diskussion um den Ausstieg aus der Atomenergie davon sprach, alle Altmeier abzuschalten und dauerhaft vom Netz zu nehmen, freute ich mich sehr über diesen Versprecher, denn normalerweise hat der Mensch kaum Grund zur Freude, wenn er Nachrichten schaut.

Heute früh nun wieder eine großartige Meldung: in Fukushima, hieß es, habe man endlich den Schalter gefunden, mit dem man abschalten könne. Ich hatte Sie zwar schon vor Wochen darauf hingewiesen, dass dieses täglich kolportierte "abschalten" falsche Hoffnungen wecke, aber natürlich freue ich mich mit den geplagten Technikern, die ja seit vierzehn Tagen in jedem Winkel danach gesucht hatten.

Bestimmt wissen Sie, dass ich ein Befürworter atomarer Techniken bin. Schon in meiner Jugend war ich fasziniert von den über- und unterirdischen Atomversuchen der Sowjetunion auf Nowaja Selmja. Ich erlebte den Fallout in mehr als einer Freibadsaison hautnah und stehe der Atomlobby heute näher als mancher Grüne dem wirklichen Leben.

So ein gespaltenes Atom ist eine großartige Leistung menschlichen Gestaltungswillens, und wenn ich die Fachpresse richtig verstehe, werden die Spaltprodukte schon bald sicher entsorgt werden können. Man denke an die sich bietenden Möglichkeiten, sie in einer dieser nutzlosen Wüstengebiete (Libyen) großflächig zu vergraben, das Areal zu umzäunen und die sowieso nicht vorhandenen Bewohner für die nächsten 20-30zigtausend Jahre davon fernzuhalten.

Als Mensch bedauere ich die Ignoranz meiner Mitbürger gegenüber innovativen Lösungen der Zukunftsgestaltung. Das Geheul einer Volksgruppe im Süden unserer Republik, die seit kurzem glaubt, nun werde sich alles ändern, ist mir suspekt. Der Wahn der Gesundheitsapostel zuwider. Ich halte sie für Konterrevolutionäre, die sich nicht scheuen werden, repressive Gesetze zum Volkswohl zu verfassen und sie auch so zu nennen. Die Guten Menschen, die von Integration schwärmen, wohnen meist nicht da, wo Integration stattfindet. Ich schlage daher vor, sie dorthin umzusiedeln. Und nicht zuletzt bin ich sicher, dass unsere Renten sicher sind.

Mit diesen guten Nachrichten freue ich mich, Sie im April 2011 begrüßen zu dürfen.

10:10


der mond
hängt überm nachbarhaus
der mann ist still und langweilt sich
paar mücken treiben teufel aus
jemand stößt an den tisch

die nacht
packt aus was ihn erschreckt
zum ende wird sie hilflos
jemand hat namen ausgeheckt
und fühlt sich ziemlich schamlos

der schlaf
hat viel zu viele viele türen
er hat schon andere verstört
als würde er ihn in die irre führen
und niemand hätte ihn gehört

der tag
danach kommt als geschenk
und fragt nach milchkaffee
jemand hat nachts den mond erhängt
der mann fährt an die see



15:26

ich hätte da ein jahrzehnt
sagte die verkäuferin
eine schöne frau mit akzent
und strengem geruch
ein jahrzehnt fragte ich
eines mit aussicht zum hof
zur straße und südbalkon
beste lage und 500 warm sagte sie
ach seufzte ich
dem das seufzen fragwürdig war
wie das lachen das weinen das himmelhoch jauchzen
wo wenn ich fragen darf
die schöne frau beugte sich zu mir
sie funkelte wie katzengold
ihre schönheit rührte mich
hier sagte sie
kommen sie keine angst
und so tappte ich in die falle
tünchte den strengen geruch
tapezierte und schleifte die böden
die schönheit zerbarst beim türenzuschlagen
und wie alles schöne zuvor und danach
verstand ich es nicht



Sa 2.04.11 12:06

Das war ein schönes Experiment. Es knüpfte an eine seit über fünfzig Jahren nicht mehr praktizierte Tradition, und ich war mir nicht sicher, ob ich sie erfolgreich wieder aufnehmen könnte. Aber es gelang. Ab Dingbänger Weg Höhe Schloss Hohenfeld fuhr ich freihändig bis zur Torminbrücke. Das ist eine Strecke von etwa vier Kilometern. Acht scharfe Links- und Rechtskurven waren zu nehmen, zwei Brücke mussten überquert werden, eine leichte Abfahrt ins Aa-Tal und entsprechend wieder hinauf lag auch auf dem Weg. Als Kind fuhr ich häufig freihändig zum Grenzübergang Overdinkel, um für meine Mutter Kleinigkeiten in Holland einzukaufen. Ich war immer stolz, wenn ich das schaffte und ein bisschen dieses Stolzes fiel gestern wieder auf mich.

Ich war gut gelaunt. Ein neu geborenes Kind sollte gefeiert werden, der Vater ließ es "pinkeln". Als ich mich gegen halb drei heute früh auf den Heimweg machte, diesmal nicht freihändig, stellte ich bald fest, dass es besser wäre, eine bestimmte Geschwindigkeit nicht zu unterschreiten. Die Balance auf dem Rad nach dem Konsum verschiedener, anregender Substanzen ist so leichter herzustellen. Zwei- dreimal fiel ich in eine zu gemächliche Fahrt, sofort kam es zu plötzlichen Spurabänderungen, so dass ich einmal fast in einen angrenzenden Wald gefahren wäre. Aber ich besann mich, nahm Fahrt auf und dann ging es wieder fast wie von selbst.

Die städtischen Nachtvögel sangen, überm Aa-See wehten grauweiße Witwenschleier, vom Zoo zog der wilde Geruch herüber, über den frisch umgepflügten Felder mischte sich flacher Tafeldunst mit den Ausdünstungen der Güllezufuhr der letzten Tage, der Himmel war freigefegt, alles war, wie es sein sollte. Nichts als Natur, keine Menschen mehr, so mag ich die Nacht, und die letzte Nacht war wundervoll. Saß zuhause noch eine halbe Stunde auf dem Balkon und ließ die Gespräche Revue passieren.

Jetzt strahlt der Tag und jedes Wort ist zuviel.


So 3.04.11 11:22

Der Westfale weiß, dass sein Frühling sich gern auf einen Tag konzentriert, um sich dann wieder für Wochen hinter männlichen Vornamen zu verstecken, für die man zudem Pate sein kann, deshalb zögert er nicht, wenn der zweite April mit 20 Grad protzt. Tags zuvor wurden Schweine in Sonderschichten getötet, damit der Grill nicht leer bleiben muss. Auch die muslimischen Metzger hatten alle Messer voll zu tun, Lämmer zu schächten. Ein Blutbad also, so ein Frühlingstag, auch wenn er friedlich ausschaut.

Rund um den hinteren Aa-See lagert die Türkei und der angrenzende Nahe Osten. Etwas abseits davon Chinesen, Japaner, Koreaner. Es wird gegessen, getrunken, geraucht. Der bildungsnahe junge Deutsche findet sich eher in innerstädtischen Parks. Auch da qualmt es gehörig, denn selbst der hier häufig anzutreffende Vegetarier will heute Fleisch. Er muss aber acht geben, dass der vom Grill aufsteigenden Rauch nicht das mitgeführte Kleinkind kontaminiert. Jeder hier weiß, was welche Krankheit verursacht, alle sind latent paranoid und nur halb so lustig wie der bildungsferne Mensch, dem die Endlichkeit seines Daseins mehr oder minder am Arsch vorbei geht, was ihm Vorteile bringt. Er darf über die Stränge schlagen. Sein Kind muss nicht bei jedem Schritt auf dem Laufrad den Helm aufsetzen. Er begreift das Leben als Restrisiko der Zeugung.

Ich wandere mit meinem Enkel hierhin und dorthin. Er zeigt erstes Interesse am Ball, noch mehr aber an Treppen. Irgendwann springt mich der Hunger an. Ich lade den Enkel auf meine Schulter, bringe ihn zurück zu seinen Eltern, verabschiede mich, radle zum Inder an der Hammer Straße, esse Chicken Tikka und staune, wer alles vorüber geht.

Am Besten gefällt mir ein Paar, das im DM Markt verschwindet. Beide eher schlaksig. Sie mit wild aufragendem Haar und Tätowierungen auf der Schulter. Er mit einem T-Shirt, auf dem Total Chaos steht, einer schwarzen Hose mit vielerlei Reißverschlüssen an Orten, wo Reißverschlüsse gänzlich nutzlos sind, einem mit schweren Nieten beschlagenem Gürtel und mit Stahlkappen bewehrten Schuhen. Die beiden sehen verdammt gut aus, finde ich. Wenig später kommen sie zurück. Jeder trägt drei oder vier Pakete Kaninchenheu links und rechts. Schräg gegenüber parkt ein kleiner LKW. Intelligent Logistics steht drauf, und da mutmaße ich natürlich, wenn darauf hingewiesen werden muss, dass Logistik etwas mit Intelligenz zu tun hat, kann es damit nicht allzuweit her sein.

Eine Stunde später hocke ich auf der Rampe vor Rare Guitars und warte auf den Abend. Doc Heyne wird spielen, ein Trio, das sich dem intrumentalen Metal verschrieben hat, virtuos, geschmacklich manchmal ein wenig abseitig, aber gern unernst, das gefällt mir.

Als ich nach Hause radle, ist die Stadt noch immer voller Menschen.


Mo 4.04.11
11:49

Nur Mut nur Mut rufen die Finken und schrauben sich wie Stripperinnen an der Stange in wirbelnden Spiralen über die Höfe und Gärten der Nachbarschaft, nur Mut nur Mut, aber was glauben die denn? Nur weil Frühling ist, kann sich so ein Kleindarsteller wie ich ja nicht gleich etwas aus den Arschbacken schneiden. Natürlich gibt es Ideen. Die Notzizbücher, das Internet, der Kopf, alles ist voller Ideen, aber eine Idee allein reicht nicht, einer Idee muss die Tat folgen und die Tat will einfach noch nicht getan werden.

Die Tat erfindet jeden Tag Ausreden. Mal ist das Wetter zu gut, mal zu schlecht, mal reicht es der Tat, sich im Internet festzusetzen, mal schlägt sie vor, auszureiten. So eine Tat ist tückisch wie jede Tat tückisch sein kann, und da ich ein Täter bin, seit ich denken kann, weiß ich, dass ich warten muss, wenn es steht, wie es im Augbenblick steht.

Es gibt nichts Schlimmeres als das Herbeigezwungene.

So sitzt der Täter, während ringsum alles in Grün explodiert, denkt, was war das für ein schöner Nachmittag gestern, als er mit dem Auto über schmalste Landwirtschaftswege nach Kattenvenne fuhr, um dort im Schatten einer 300 Jahre alten Eiche und einer Kastanie, auf dem, was früher die Tenne eines Kottens war, mit Bekannten Salsa zu tanzen.

Vorher gab's selbstgebackenen Kuchen auf feinstem Sonntagsgeschirr, Kaffee, Sahne, draußen der tropfende Regen, die beiden Pferde, die Hunde, das weite, sumpfige Land, die Venne eben, wo das Grundwasser so hoch steht, dass man mit dem Spaten kaum in die Erde kommt, schon quillt es, ein Land, das über Jahrhunderte zwar kultiviert, aber nie ganz trockengelegt werden konnte.

Dass ich sowohl auf dem Hin- als auch auf dem Rückweg nur nach grober Richtung und den ständig wechselnden Anweisungen des Navigationsgerätes fuhr, das ich immer da ignorierte, wo es meiner Nase zuwider lief, machte die Sache doppelt spannend. Nur auf dem Hinweg habe ich ihr einmal nicht vertraut, und landete prompt auf einem Bauernhof.

Dass hinter dieser Idylle gekämpft wird, erfuhr ich beim Abendessen. Das Paar, das hier lebt, ist ein Paar, das schon Ehen mit Kindern hinter sich hat, und der Hof, den die eine gepachtet hat, ist ein ständiger Zankapfel. Der Ex, der in einem dicken BMW herumfährt und dennoch arbeitslos ist, versucht, Druck auszuüben und Geld herauszupressen. Die Idylle also sumpfig wie das Land und auch die übrigen Tänzer sind Zurückgebliebene, nicht Hinterbliebene wie ich, sondern Verlassene.

Schluss damit.

Die Tat wird auch heute nicht getan, wenngleich sie seit drei Tagen einen sehr zwingenden Namen hat. Einen Namen, der auf ein Kinderbuch verweist, aber wie gesagt, es reicht zunächst, den Namen im Hinterkopf zu bewegen, damit er dort herumgeistern und Partikel an sich binden kann. Dass dieser Name aufgetaucht ist, hat mit einem Gespräch zu tun, das ich auf dem Fest für Hannes, dem neugeborenen Kind von Freunden, geführt habe. Da stand er plötzlich im Raum, als wir uns aus unseren Heimatstädten, von unseren Vätern und unseren Straßen Geschichten erzählten.

Aber er wird nicht verraten. Verraten wird, dass jemand in einer Band namens Tiere in Not spielt, dass einer mit griechischen Weinen handelt und eine immer im Ferrari nach Nürnberg fuhr, verraten wird, dass alle der Mutter bewundernd bestätigten, wie gut sie das hingekriegt hat, knappe vier Stunden nur, keinerlei Komplikationen, und das Kind war geboren. Manche hatten ihr das nicht zugetraut, manche hatten gedacht, na, vielleicht zickt sie, aber sie hat überhaupt nicht gezickt und das Glück strahlt um sie, dass alle es sehen.

So, lieber Leser, der du in der Regel stumm und unsichtbar bleibst, ich wünsche eine gute Woche.


Di 5.04.11 15:19

Es ist nicht so, dass Herr M. faul wäre. Nein, nein, er sitzt den ganzen Tag und tut dieses und jenes. Aber unter volkswirtschaftlichen Aspekten ist das sinnlos. Man könnte das subventionieren, aber Herr M. hat eine schwere Allergie gegen jede Art der Subvention. Die Subventionsprosa, die ihm unter die Augen kam, als er vor ein paar Jahren an einer Soap mitwirkte, war abschreckend genug. Dafür will er sein Talent nicht vergeuden.

Je monotoner die Arbeit, desto glücklicher scheint Mensch, er muss kaum denken, weil er beschäftigt ist, und die Frage, ob unser Leben letztlich nicht mehr ist als eine vorübergehende Beschäftigung bis zum Ende, kann Herr M. abschließend mit Ja sicher beantworten.

Jetzt steigt langsam die Frage am Horizont auf, was heute abend gekocht werden soll.

20:20

ich stand an der kreuzung
ampeln hatten ihre augen geschlossen
martinshörner irrlichterten über boulevards
schauspieler warfen sich in den fluss
und posaunisten übten für das finale
nichts war mehr käuflich
der alltag hatte urlaub verlangt
worauf man ihm kündigte
und ihn in eine maßnahme steckte
er musste graswurzeln hacken
und treibgut in kirchen verstecken
er durfte morgens und abends
ein wenig verschnaufen
nachts jedoch musste er wieder ran
blind und mit eifer
das übliche nachtwerk
bei frauen
die notrufe ausgesandt hatten
sehnlichst wartend
im türrahmen standen
und ihr genital kühlten
ich tat so etwas nicht
ich zerstreute sehnsucht mit
niemand und urlaub
verachtete ich


Mi 6.04.11 10:28

Ich bin reaktionär.
Ich belächle gute Menschen.
Ich bin Rassist.
Ich glaube nicht an Integration.
Ich bin Monarchist.
Es wird Zeit, dass man mich notschlachtet.

(Dies ist kein Gedicht.)


Do 7.04.11
9:10

Ich gründe eine grüne Diktatur.
Ich überlasse alles dem Markt.
Ich bin Kommunist.
Ich verehre Gaddafi.

(dies auch nicht ...)

13:36

Ich kann wie ein Rassist denken, kein Problem. Ich könnte sogar Hitler sein, wenn ich wollte. Oder Jesus. Wir sind eine vom Egoismus getriebene Spezies, und ganz gleich, was wir von uns behaupten, wir müssen das Gegenteil immer mitdenken, denn das ist genauso wahr wie alles andere. Hugh! ich habe gesprochen. Habe Wäsche gewaschen, Reifen gewechselt, habe gespült, Toasties gegessen und fahre nun ins Studio. Bisschen was frickeln.


Fr 8.04.11
14:20

Ein Wind weht, das Land streckt sich unter der Sonne und weiß nicht wohin mit der Kraft. Wir haben im Studio gesessen, geredet, Musik gehört, haben beim Aramäer im Dorf gegessen, haben geraucht, alles was da war gegen Rausch eingetauscht, später bin ich auf Carstens Sofa in die Nacht gerutscht, habe mir noch einen Film angeschaut, eine Vorzeitklamotte, Am Anfang war das Feuer, ich erinnerte mich, das Lachen wird erfunden, Säbelzahntiger sehen albern aus, die Mammuts sind bedauernswert animiert oder traurig verkleidete Elefanten, die aus der Hand fressen, wenn man sich ihnen in Ehrfurcht nähert, ich habe unterm Sternenhimmel vorm Fenster geschlafen, bin jetzt ein wenig erschöpft, werde duschen, habe eine Lesung in einem Buchladen unter Dach und Fach gebracht, habe über Erzählperspektiven nachgedacht und darüber, warum ich eigentlich noch einen Roman schreiben will, weil ich es gern tue, habe ich geantwortet, und das reicht, ich habe die letzten Tage Revue passieren lassen, ich lebe ein gutes Leben, ich besitze einen Schatz und wenn ich an Engel glaubte, was ich zwischenzeitlich immer mal wieder tue, bin ich mit Chris auf der sicheren Seite, ich rede mit ihr, sie redet mit mir, bis mir der Glaube zwischen den Fingern zerrinnt und ich wieder da stehe, wo nur Fragen und keine Antworten sind.

Aber das macht nichts. Das ist das Leben, und wenn mich eine der Frauen im Dorf, die uns kannten, im Supermarkt anspricht und fragt, wie es mir gehe, schildere ich wahrheitsgetreu, dass es geht und dass ich Glück gehabt habe, weil ich noch "jung" bin und weiß, wie ein Haushalt funktioniert, weil ich kochen, waschen und nähen kann, weil ich ein Haushaltsbuch führe, das Auskunft gibt, weil ich zwei Söhne habe und einen Enkel, weil ich Freunde habe, an die ich mich wenden kann, eine Schwester habe ich auch, es geht mir gut, sage ich, es geht mir verzweifelt gut, und je mehr Zeit verrinnt, desto weniger kann ich mir vorstellen, dass ich noch einmal jemanden in mein Leben lasse. Ich werde diesen Schatz nicht gegen eine halbe Wahrheit eintauschen. Sie müsste schon groß sein, es müsste wieder Alles und Nichts sein, darunter gebe ich mich nicht mehr hin.

Heute abend werde ich mir in Osnabrück den Arsch wund tanzen, morgen bin ich auf ein Fest eingeladen, auf meiner Festplatte wartet Text, in meinem Kopf wartet Text, überall ist Text und das einzige, was ich tun muss, ist, ihn aufzustellen und so zusammen zu fügen, dass er Sinn macht, mehr nicht, und nicht weniger. Gewaltige Aufgabe, summt es in mir, und dann summt es weiter und beglückwünscht mich, dass ich in der Lage bin, überhaupt Text auszuspucken, denn Text ist flüchtig und niemand (am wenigstens ich) weiß, wo er her kommt und was er von einem will.

Das Land ist unbeeindruckt von all den umtreibenden Fragen, er schert sich einen Dreck, es ist früh dran dieses Jahr, das mit dem Mai, der gekommen ist und den Bäumen, die ausschlagen, stimmt schon lange nicht mehr, die japanische Kirsche vorm Haus wird morgen, spätestens übermorgen in aller Pracht blühen, und das ist zehn, vierzehn Tage vor ihrer üblichen Zeit, ich weiß das, ich wohne seit fast dreißig Jahren hier.

Kaffee, denke ich, ich trinke jetzt einen Kaffee, ich denke an das Neugeborene, das ich noch nicht sehen konnte, ich denke an das Ungeborene, das ich bald sehen werde, ich denke an die Toten und die Hinterbliebenen, ich denke an mich und an meine Arbeit und bin stolz, dass ich da bin und nicht versunken in Selbstmitleid und Schmerz. Und ganz zum Schluss fällt mir noch ein, wie froh ich bin, wieder alle Zeit der Welt für mich genießen zu können, mit und ohne Rausch, mit und ohne Fleisch, ganz ohne Sicherheit, jeden Tag.


So 10.04.11 17:40

Wissen Sie, ich habe ein Werk, auf das ich stolz bin. Sie dürfen es würdigen oder nicht, es ist mir zunehmend egal. Und jetzt fahre ich trommeln.


Mo 11.04.11 10:01

Zwei korpulente Engländerinnen trinken sich in den Restsonntag. Bis 23 Uhr werden sie lauthals Oldies gesungen haben, eine hat Solo getanzt und auf meine Bitte, beim nächsten Set für uns das Go-Go-Girl zu machen, "you won't have to strip though", sagt sie, die Jüngste der beiden, "you wouldn't want to see that". "How do you know", antworte ich. Darauf errötet sie. Die mit dem hübschen Kleid wird einem gefährlich aussehenden Glatzkopf, den ich für einen gewaltbereiten Russen hielt, in die Beinschere nehmen und ihm Zungenküsse geben, zwischendurch aber feuern sie uns an und zeigen, wie großartig sie finden, dass da drei Männer Rock 'n' Roll spielen.

Der Landsmann ist eine alte Kneipe. Zuerst eine Postkutschenstation, später dann Haltestelle für Straßenbahn und Bus. Seit dem Krieg tranken sich dort englische Soldaten ins Koma. Das war praktisch. Der Bus zu ihren Kasernen hielt vor der Tür. Eh sie ins Koma sanken, verprügelten sie gern sich und andere. Heute ist es ruhiger geworden, die meisten Engländer sind abgezogen, aber der schlechte Ruf hängt dem Landsmann noch nach.

Das Areal, auf dem er steht, ist mittlerweile eine hochpreisige Immobilie. Vor zwanzig Jahren war hier der Arsch der Welt. Ihr Besitzer wurde jahrelang umworben, zu verkaufen, aber er weigerte sich. So steht der Landsmann jetzt da, ein altes weißes Haus, im oberen Türrahmen ein bleiverglastes, buntes Fenster, "hier is tied", steht darauf. Links davon ist das Cineplex, gegenüber sind die Stadtwerke, ringsum recken sich Banken und Bürokomplexe, alles aus Glas, Stahl und Beton. Der Landsmann ist ein Relikt. Der Pächter ist Türke.

Seit Januar ist dort sonntags ab sechs Session. R. hat sie initiiert. Er ist Gitarrist, lebende Musikbox und geborene Rampensau. Ich kenne ihn seit dreißig Jahren. J. spielt Bass. Er trägt einen Ho-Chi-Minh Bart und hat die grauen Haare zu einem bis zwischen die Schulterblätter reichenden Zopf gebunden. Er ist schüchtern und hat eine kleine Dose mit ready-mades dabei, die wir in den Pausen rauchen. Angereist ist er mit einem Mercedes-Leichenwagen. Auf der Ladefläche hat er zwei strahlend gelbe Fässer mit dem beliebten Warnhinweis auf Radioaktivität installiert. Dazwischen hockt ein Gitarre spielendes Skelett, im Vordergrund steht ein stilisiertes AKW mit verschieden bunten LCD's illuminiert.

Da ich R. am Samstag auf dem Wochenmarkt traf, wo er mir von der Session erzählte, spielte ich Schlagzeug. Ein altes, wackliges Set, zugegeben, aber die trink- und vergnügungsfreudigen Zuschauer machten das wett. Sie schwenkten Feuerzeuge und spendierten uns Bier. Ich hatte viel Freude und genoss den Chit-Chat. To banter, Sie erinnern sich?

Es wurde spät. Da meine Regenerationsphasen immer länger werden, wird dieser Montag nun ein wenig Ruhe ins Leben bringen, denn auch die Tage vorher waren anstrengend.

Freitag nämlich erreichte mich diese Mail. Am Samstag, hieß es, werde L. in ihren fünfundzwanzigsten Geburtstag feiern. Sie werde eine alte Schachtel und würde sich freuen, mich wieder zu sehen. L. ist eine junge Frau, die mir letztes Jahr als Theaterpädagogin bei einem Projekt zur Seite stand. Sie wolle eine Motto-Party feiern.

So kommet denn herbei, ihr Feen und Fabelwesen, ihr Gnome und Kobolde, ihr Räuber, Zwerge, Helden und Verwunschenen, ich lade Frau Holle, Schneewittchen, Schneeweißchen und Rosenrot, den Froschkönig und sein Gefolge, Prinz Eisenherz, Rapunzel, Rotkäppchen und den bösen Wolf, die Hexen und Zauberer, Hänsel und Gretel, den gestiefelten Kater... und alles was da sonst noch kreucht und fleucht, flaniert und hofiert, verzaubert oder verwunschen sein mag. Lasst eurer Fantasie freien Lauf und schmeißt euch in Schale. Wer nicht verwandelt erscheint, bekommt eine alte Schachtel über den Kopf, ist bis in alle Ewigkeit verwunschen und wird in einen mindestens 100 jährigen Schlaf fallen, schrieb sie.

Ich antwortete, ich käme gern, würde auf Verkleidung verzichten, hätte aber nichts dagegen, mich von ihr verzaubern zu lassen.

Ich dachte mit leichtem Schreck daran, dass ich mit Abstand der Älteste wäre. Die Gäste waren tatsächlich märchenhaft kostümiert. L. war ein Frosch, aber sie hat einen Prinzen. Er servierte Aperols, ich trank einige, fotografierte ihre Gäste und führte interesssante Gespräche. Eines etwa mit D., eine Griechin, die einen roten Adidas-Mantel trug, der ihr schwarzes Haar und ihre braunen Augen umwerfend kontrastierte, eines mit L., ein hochintelligentes Ding. Sie und ich philosophierten.

Gegen drei machte ich mich auf den Heimweg.

Da ich schon am Samstagmorgen mit dem Rad in Münster war, fuhr ich die Strecke nun zum vierten Mal innerhalb von zwölf Stunden. Mir tat der Arsch weh, aber das Wetter war wundervoll, ein Sichelmond wanderte westwärts, ich hatte keine Eile, der Arsch war zu ertragen, und so schaffte ich selbst das sich streckende Aa-Tal in ausgezeichneter Form, wenn auch ein wenig aus der Puste.

Freitagabend (Sie sehen, ich arbeite mich rückwärts durch das Vergnügen) war ich in Osnabrück, aber das wussten Sie schon. Was Sie nicht wissen können, ist, dass ich mich schweißnass tanzte. Ich hatte vorgesorgt, hatte ein Handtuch dabei und Wäsche zum Wechseln im Rucksack. Ich tanzte fast vier Stunden mit verschiedenen Tänzerinnen, und wie das so geht, gleich bei den ersten Schritten merkt man, ob man harmoniert oder nicht. Manche liegen gut in der Hand, andere spürt man kaum.

Meine Lieblingstänzerin war eine Südamerikanerin Ende dreißig,schwarz gekleidet und sehr elegant. Sie tanzte mit leicht gesenkten Lidern, und ich hatte das Gefühl, dass ich mich besser gut benähme. Ich tanzte dreimal mit ihr, verbeugte mich beim Auffordern und bedankte mich nach jedem Tanz, während ich andere Tänzerinnen einfach bei der Hand nahm und auf die Tanzfläche zog. Das ist kein Faux Pas, die Salsa Szene ist relativ entspannt, sieht man mal davon ab, dass einige vor lauter Drehungen kaum zum "Tanzen" kommen.

So. Jetzt geht es kopfüber in die Gegenwart.


Di 12.04.11 10:09

Ich näherte mich ihnen von hinten. Ein Paar. Ich fuhr Rad, sie liefen nebeneinander und mir fiel auf, dass sie den linken Arm hinterm Rücken hielt, die Handfläche nach außen, als hätte sie etwas zu verbergen. Als ich sie überholte, bestätigte sich mein Verdacht. Der linken Hand fehlten Zeigefinger und Daumen.

Sie saß im Foyer. Eine junge Frau, höchstens 25, im Rollstuhl. Später sah ich sie im Tanzsaal. Ich tanzte gerade mit der Südamerikanerin. Sie stand am Rande der Tanzfläche und beobachtete. Ich lächelte. Sie lächelte zurück und ich dachte, warum tut sie sich das an? Neben ihr stand ihr Freund. Ich dachte, wenn sie schon hier steht, warum nimmt er sie nicht und tanzt mit ihr? Ich dachte, ob ich es tun sollte, aber das war mir zu kompliziert.

Ich fuhr durch den Park. Ich wusste, wo ich sie fände und dann sah ich sie schon. Wir begrüßten uns. Ich setzte mich zu ihnen auf die Decke. Dann kam er, schaute mich an und sagte Opa. Das tut gut. Jedes Mal.

17:00

Die Sonne schwärmt, am nächsten Tag fegt Sturm,
die Vögel singen, Grün schlägt Funken
der Regen lockt, aus dunkler Erde kriecht ein Wurm,
die ersten Blüten sind schon blass herab gesunken.

Man sitzt im Schatten, schleckt ein Eis,
und übern Horizont treibt plötzlich Schnee,
es ist April und jeder weiß
schon bald tut er uns nicht mehr weh.

April, April, uns ist nach kleinen Scherzen,
wir werden still, und schauen Wolken nach
April, April, wir tragen Sehnsucht in den Herzen
und werden langsam für den Wonnemonat wach.


Mi 13.04.11 8:27

Ich versuche, Lesungen zu akquirieren. Seit Beginn des Jahres etwa versende ich Monatsgedichte. Und was kommt zurück? Wenig. Was tun? Preise senken? Nee. Das mache ich nicht. Ich bin kein Supermarkt.

9:41

Dass sich plötzlich alle wundern, dass Fukushima hochgestuft wird, wundert mich. Ich hätte die Brisanz der Havarie auch verschwiegen. Man hatte doch genug zu tun. Tausende und abertausende Obdachlose, Tote, eine verwüstetete Region. Sollte man denen, die ihren Arsch gerettet hatten, gleich den nächsten Schock versetzen. Ich wette, dass jede Regierung (auch die der Bundesrepublik) so und nicht anders gehandelt hätte. Um eine Massenpanik zu verhindern, zunächst mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln versuchen, die Katastrophe zu verharmlosen. Später dann scheibchenweise Wahrheit verbreiten. Die ganze Wahrheit gibt es nie.


Do 14.04.11
9:56

nein, ich will nicht überleben,
nein, ich will ein ende: punkt,
ja, ich will dem leben alles geben,
und erst mit dem tode wird es rund.

sollten andere an mich denken,
bitte, ich bin dann ja nicht mehr da,
sollten sie mir stille stunden schenken,
danke, das wär' wunderbar.

aber überleben: nein,
nicht im hier, vor allem nicht im dort,
lieber trink ich guten wein,
und geh, wenn es zeit wird, fort.


12:12


ich blende alle bilder aus
ich treib die zeitung außer haus
ich hebe und ich senke mich
ich höre und ich höre nicht
ich spreche und ich sag kein wort
ich warte doch es geht nicht fort
ich hoffe und ich sehe ein
ich schweige und ich bin allein.


13:01

Vorm Küchenfenster, jedes Jahr etwas früher...




20:28

die fußmatte bebt
wer sie hochhebt sieht
einen farbfilm mit schnee
einen einsamen hochsitz
einen mann eine frau
interessiert aneinander
dann fällt die tür zu
jemand tritt seine schuhe ab
der film läuft nicht weiter
jemand hängt einen mantel auf
und stellt fest
dass der mann und die frau
da jetzt hängen
leicht bewegt durch die luft
beide stumm
sie versuchen einen tanz zu ergattern
es ist alles beim alten
und niemand erklärt
was es heißt
die tür
geht nie mehr auf
die sonne verschließt sich
der schnee trägt ins land
was die worte nicht können


20:35

In einem Interview mit Woody Allen, das ich vor Jahren las, antwortete er auf die Frage, warum er einen Film nach dem anderen drehe, weil er sich sonst zu Tode langweilen würde. Mich langweilt im Augenblick sogar die Idee, noch einen Roman zu schreiben. Es dauert mir zu lange. Und dann interessiert es wieder niemanden, egal wie gut oder schlecht er ist.


Fr 15.04.11 18:18

Er hasse I-Tunes, hatte er letzte Woche gesagt, er wisse nie, wo das Programm Dateien ablege, ständig komme es zu einem Durcheinander, er bevorzuge Win-Amp. Ich organisiere meine Musik mit I-Tunes und dachte vorhin, eh ich vor Langeweile umkomme, könnte ich meine WAV Files, die einmal so und dann wieder so heißen, durchforsten, ihnen einheitliche Ordnernamen zuteilen, Interpreten hinzufügen, etc. pp. Vor allem die importierten remasterten Beatles waren nicht eindeutig etikettiert, also rief ich einen Ordner nach dem anderen auf, fügte Ordnernamen hinzu, und dann waren plötzlich alle weg. Das Gleiche mit den selbst hergestellten Loops. Alle irgendwo verschwunden und nicht mehr auffindbar. Zum Glück hatte ich WAV-Files meiner Loops an anderem Ort gespeichert, aber die Beatles sind futsch. Wenn mir einer sagen könnte, wo sie sich aufhalten, wäre ich dankbar, bestimmt verstecken sie sich irgendwo, weg können sie doch nicht sein, oder? Mit so einer blödsinnigen Frage rauscht das Wochenende heran.


Sa 16.04.11 17:22

Es wird, jedenfalls sieht es so aus und fühlt sich so an, ein Tanzwochenende. Augenwischerei ist das, aber es tut mir gut. Selbsttäuschung gehört zum Überleben. Da ich Überlebender bin, stört es mich nicht. Als ich heute früh gegen drei vom Salsa Festival kam, wog ich drei Kilo weniger, als noch am Morgen, hatte mich durch alle Kleider geschwitzt und mich ausgelaugt. Ich dachte, ich fiele in augenblicklichen Tiefschlaf, aber das ausgeschüttete Adrenalin ließ mich eher flach und nicht lang genug ruhen. Gegen acht war ich wach, gegen neun stand ich auf, gegen elf setzte ich mich aufs Rad und fuhr in die Stadt. Der Frühling zeigt sich von bester Seite, ich traf meine Schwester, wir tranken Kaffee und ich erzählte ihr von dem Löschblatt, das ich in der Hinterlassenschaft meiner Frau fand.

Sie wird dreizehn, vierzehn gewesen sein.

Ein rosafarbenes Löschblatt, voller Additionen, Subtraktionen und Kritzeleien, im oberen linken Eck aber eine Zeichnung: ein mit Arabesken und Schnörkeln verziertes Bett, darin eine Frau, eine Prinzessin vielleicht, meine Frau. Daneben steht: Ich bin tot. Eine Vision.

Genau so hat sie dreiundvierzig Jahre später in unserem Wohnzimmer gelegen, schöner fast als zu Lebzeiten, atemberaubend und ewig, mit Blumen umkränzt. Das hat mich zu Tränen gerührt, und als ich es M. zeigte, ging es ihm auch so. Da standen wir, beide mit unserer Liebe und unserer Trauer, weinten und M. sagte, wir haben das richtig gemacht, Hermann, so wollte sie das. Ja, antwortete ich, das haben wir richtig gemacht.

Ich bin sehr stolz, dass uns das gelungen ist, sehr sehr stolz.

Jetzt aber heißt es: Essen kochen. Ich bin allein diese Woche. Max ist in Bayern. Ich bin allein, das wird nicht ganz einfach, und es könnte bedeuten, dass ich die Woche nutze, um wieder zu arbeiten. Es könnte aber auch sein, dass ich mich weiter vergeude, denn wofür sollte das Leben sonst gut sein. Bestimmt nicht, um Dinge zu kaufen und noch mehr Dinge zu kaufen. Es will gelebt sein, und ich werde mir Mühe geben.


Mo 18.04.11
12:11

Die Welt zu beschreiben, ihr Namen zu geben und Geschichten anzuhängen, hat etwas Zwanghaftes. Ich fühle mich unwohl, wenn ich es nicht tue. Ich fürchte, die Gegenwart aus den Augen zu verlieren, denn Gegenwart ereignet sich ununterbrochen und die Vielfalt der Ereignisse ist so überwältigend, dass nicht einmal Arno Schmidt sie beschreiben konnte, obwohl er es versucht hat. Ich beschränke mich oder ich bin beschränkt, aber es ist wie es ist und so ist es gekommen, dass ich seit über zehn Jahren berichte. Keine lukrative Tätigkeit. Ich scheine ein Talent für Tätigkeiten zu haben, die nichts einbringen.

Andere sammeln irgendetwas. Andere haben Gärten und schwärmen von der letzten Ernte. Andere bauen Osterhasen und plazieren sie auf Kirchtürmen. Andere züchten Bonsais oder geben sich alle Mühe, sich durch die Weltliteratur zu lesen. Es gibt unendlich viele Varianten, dem Horror Vacui zu trotzen, ihm die lange Nase zu zeigen und darauf hinzuweisen, dass man lebt.

Aber ich versuche davon zu leben, das macht es kompliziert.

Tätigkeiten, die etwas einbringen, fordern hohen Tribut und hinterlassen oft ausgebrannte, nach Sinn fragende Menschen, die, wenn sie begriffen haben, dass die Welt des Mehrwerts und der Akkumulation von Besitz kaum Befriedigung bringt, jeden Strohalm greifen, der Sinn vorgaukelt.

Das Problem habe ich nicht.

Es ist nicht einfach, sich damit abzufinden, dass die Welt sinnlos ist, aber es ist möglich, es kommt einer Kapitulation gleich, aber hat man erst einmal kapituliert, das ist die seltsame Logik hinter dem, was ich unter Leben verstehe, zeigt sich die Welt von ihrer Schönheit.

Gerade jetzt ist sie umwerfend, und ich arbeite hart daran, sie wahrzunehmen. Dabei hilft das Geschenk, das ich besitze und hüte. Das Leben mit einer Frau, die jetzt tot ist. Kein Tag, keine Stunde, ohne Gedanken an sie, manchmal so drängend und nah, dass ich mir nichts weiter wünsche, als auch dort zu sein, wo sie ist. Die Crux ist, dass ich an die Existenz danach nicht glaube. Ich beneide die Gläubigen, doch während ich sie beneide, belächle ich sie. Die Widersprüche des Lebens sind von eben solch unfassbarer Schönheit. Ich versuche, es dabei zu belassen und zu genießen.

Nehmen wir ein Beispiel.

Ich treffe meinen Sohn und seine Familie. Wir verbringen Zeit miteinander im Zoo. Wir gehen herum. Wir stehen hier und dort und überall sind Menschen mit Kindern, die genau dasselbe tun. Wir rasten, wir sprechen miteinander, und ich bin stolz auf den Mut meines Sohnes, der Welt zu trotzen. Ich bin stolz darauf, wie er sein Leben meistert.

Ich bin stolz, dass ich einmal den Mut hatte, den gleichen Schritt zu tun, denn meine Einwände gegen Kinder waren groß und es bedurfte einiger Überredungskunst, eh ich mich darauf einlassen konnte. Um so mehr bewundere ich, dass er es auch tut und dass er es gut macht.

Ich bin in der biologischen Abfolge der Generationen der voraussichtlich nächste, der geht, aber davor fürchte ich mich nicht, ich fürchte höchstens die Krankheit, den Schmerz und das Leiden, denn wie das aussehen kann, weiß ich.

Die Sonne scheint und ich staune, wohin der Morgen mich trägt. Ein Fink schlägt, Wäsche hängt auf der Leine, ich habe Kaffee getrunken, in der Küche liegen ungelesene Zeitungen. Die Welt ruft, die kleinen Dinge wollen erledigt sein, Wäsche ist in der Maschine, die Blumen sind gegossen, der Rausch von der letzten Tage ist verflogen, es ist Montag, und ich beginne von vorn.

Es ist Samstag. Ich sitze auf dem Rad. Die Sonne scheint, aber es ist noch frisch. Ich fahre freihändig wie ein Junge, der stolz ist, dass er freihändig fahren kann, ich ärgere mich, weil mich entgegenkommende Spaziergänger zwingen, die Hände an den Lenker zu nehmen, sie vereiteln meinen Versuch, einen Rekord aufzustellen, alles von hier bis dort freihändig zu nehmen, ich werde den Rekordversuch verschieben, irgendwann nach Feierabend an einem Wochentag.

Schließlich bin ich in der Stadt. Ich gehe herum, ich schaue, ich treffe eine junge Frau, die dort arbeitete, wo ich letztes Jahr gearbeitet habe und erfahre, dass sie das Handtuch geworfen hat, weil sie das Modell dieser Schule nicht länger mittragen konnte. Schweren Herzens, aber doch unendlich froh, denn das Modell, da sind wir uns einig, ist unausgereift und die Leitung begreift nicht, dass es an die Wirklichkeit angepasst werden muss und nicht umgekehrt. Ich kaufe Blumen, ich kaufe Lamm, Spargel und neue Kartoffeln, und als ich zurück bin in meiner Wohnung, lege ich mich aufs Ohr. Ich will ja das Wochenende zertanzen. Ich will Rausch und Bewußtlosigkeit und wer weiß was ich sonst will.

Als ich schließlich an der Kasse stehe, erfahre ich, dass die Salsa Gala 18 Euro kostet. Ich habe zwanzig Euro im Portemonnaie, ich werde mir also nicht einmal eine Apfelschorle leisten können, aber es gibt ja Wasserhähne und Wasser ist das am besten kontrollierte Lebensmittel dieser Republik, also zahle ich und trete ein.

Betrete den ersten Tanzsaal, zögere keinen Augenblick, und fordere jemanden auf. Ich tanze einen Tanz, bedanke mich, gehe herum, schaue, fordere wieder jemanden auf. So geht das die erste Stunde. Ich tanze mit fünf, sechs verschiedenen Frauen. Es gibt vier Tanzsäle an diesem Abend, ich streiche herum und will nichts als tanzen.

Ich bevorzuge kräftige Frauen. Die sind geerdet. Die jungen ätherischen Dinger, oft mit langem Haar, Highheels und eleganten Kleidern spüre ich kaum. Wenn ich sie drehe und wende, fürchte ich, sie fliegen davon.

Mir ist egal, ob sie Figuren mit Eleganz aufzupeppen und wie groß das Repertoire ihre Figuren ist, für mich zählt, dass sie und ich den Beat spüren. Spätestens nach einer Minute weiß ich, ob es passt oder nicht.

Talent ist seltsames Wort. Talent ist gemein. Es gibt Talentierte und Untalentierte. Weder die einen noch die anderen wissen, warum das so ist. Ich habe viele Talente, das ist ein Problem. Ich könnte ein sehr guter Schlagzeuger sein. Ich könnte ein Klavierspieler sein. Sogar die Ukulele könnte ich meistern und als Tänzer könnte ich vieles lernen. Aber da ist mein Talent vor. Es macht ständig Einwürfe. Es fordert, dass ich niemandem folge. Es will, dass ich es lebe, wie ich es bekommen habe, dass es rein bleibt von Einwürfen anderer, aber ich fürchte, letztlich bin ich nur faul.

Ich belächle Fleißige, die kein oder nur wenig Talent haben, aber mit ihrem Fleiß einiges erreichen. Hochleister, die dennoch nie ein Original hervorbringen werden. Ich weiß das. Ich spüre es von den Haarspitzen bis hinunter in die Fußsohlen.

Kein Wunder, dass nach so einem Wochenende nur eine Handvoll Tänzerinnen meinen Ansprüchen genügten. Zum Glück bin ich mit meinem Hochmut nicht allein. Als als ich mich sonntagfrüh gegen drei auf den Heimweg machte, traf ich Bekannte vor der Tür, Raucher. Sie standen beieinander, rauchten und klatschten. Klatsch ist immer von Hochmut befeuert.

Ich klatschte mit, denn auch ich hatte beobachtet. Hatte gesehen, wie sich dieses junge Ding in einem Kleid, das im Grunde aus nichts bestand (ich hatte vor zwei Wochen mit ihr getanzt), sich beim Bachata derart auf die Oberschenkel ihres Tanzpartners drängte, dass ich ihr hätte zurufen mögen, sie solle das bitte zuhause tun. Ich hatte gesehen, dass die weiße Frau gern dem schwarzen Mann um den Bart geht, dass sie oft erschreckend unanttraktiv ist und die Frage, wieso die oft attraktiveren schwarzen Männer sich das antun, unbeantwortet bleibt. Mir war aufgefallen, dass das Achselhaar so gut wie ausgerottet ist, mir war auch klar, dass Schein und Sein zwei Paar Schuhe sind, aber da ich als Tänzer unterwegs war und mir keine Notizen gemacht hatte, sind das nur Allerweltseindrücke. Aber da die Regel, dass man nicht nicht kommunizieren kann, immer und überall gilt, hat natürlich jeder jeden beobachtet, jeder hat seine Schlüsse gezogen, jeder wurde von irgendjemandem mit Hohn und Spott überschüttet, Vanity Fair (Achtung: Schlußwort) war und ist immer und überall, also nichts Neues.

17:14

erstens ist kein glück von dauer,
zweitens liegt es immer auf der lauer,
uns zu finden, nur zu starkes suchen mag es nicht
es zu binden ist, als hängte man ihm ein gewicht
um den alabasterhals, das wär falsch.

es gedeiht, wenn wir's in ruhe lassen,
ihm die chance geben, uns zu fassen,
es nicht drängen, ruhig zu tun, was muss,
dann kommt es in fluss ...


Mi 20.04.11
10:05

Ein Leben lang hatten meine Frau und ich den Plan, uns eines Morgens mit anderen in den Rieselfeldern zu treffen, um von der dortigen Vogelwarte mit einem Ornithologen hinauszugehen und Vogelstimmen zu orten. Wir sind nie dazu gekommen, und so kann ich nicht sagen, was da heute früh vor meinem weit geöffneten Fenster so inbrünstig sang.

Ich glaube, es war klein. Ich habe einmal einem Rotkehlchen beim Gesang zugehört und gesehen, seither weiß ich, dass die Größe eines Vogels und dessen Stimmkraft nicht unbedingt miteinander zu tun haben. Der Gesang also, falls man am frühen Morgen nicht doch lieber von Lärm sprechen will, dieser Gesang war nicht nur laut, sondern enorm variantenreich. Da er mich aus dem Schlaf gerissen hatte, überlegte ich, aufzustehen und ihn aufzunehmen, so dass ich ihn vielleicht für einen meiner Loops verwenden könnte, aber da war meine Müdigkeit vor.

Ich rollte mich ein. Am Abend vorher hatte es wieder nicht zur kontemplativen Versenkung gereicht, es scheint, dass dieses Frühjahr gefeiert sein will, ich tanze auf den Ruinen. Dann kam Besuch und dann sind wir in die Stadt gefahren und dann sind wir heimgefahren, haben wir auf den Sofas gesessen, geredet, über Sound gesprochen und an Loops gebastelt, nebenher haben wir getan, was man tut, wenn man nächtens sitzt und nicht schlafen will.

Ein rauschhafter Frühling, tatsächlich. Erstaunlich ist, dass ich das wegstecke, dass ich nicht, wie dieser junge Tänzer, den ich am Sonntagfrüh auf dem Weg zum Auto traf, barfuß laufe, weil mir die Füße weh tun, nein, ich bin in bester Verfassung, und dass ich gestern zwei Lesungen beim Leselust Festival in Aachen an Land gezogen haben, spornt mich an. Alles ist gut, sagen meine spirituellen Berater, jetzt müsste mir nur noch der Nikotinausstieg gelingen, der mir damals so einfach gelang. Nicht, dass ich von früh bis spät rauchte, das nicht, aber ich rauche und stinke. Da hat sich ein gewisser Fatalismus breit gemacht, der mir zuflüstert, es sei eh egal, aber ich arbeite daran.

Also dürfen Sie mir die Daumen drücken.

11:08

Die Lesebar der Uni Köln empfiehlt Räuber, Schattengeister und ein Karpfen im Mühlteich.
Kann ich mir dafür was kaufen? Sichert es meinen Lebensunterhalt? Nein. Alles nur für die Eitelkeit.

11:54

Übrigens: am Samstag wurde der erste Maikäfer gesichtet.

13:53

herr platon saß da
mit trottelhut
und red nose day nase
aber nichts war witzig
alles war fake
alles bildete er sich nur ein
kaum hatte sich ein gedanke
auf den weg gemacht
krachte er gegen die wand

herr platon hatte die wahl
single malts
bowmore 11 jahre alt
glenfiddich 18 jahre
linkwood eleven
oder bruichladdich 46 %
keine altersangabe

was schlagen sie vor
fragte herr platon
oder ist ihr schweigen der weiseste rat
den das neue jahr für mich hat
da stieg wieder bezaubernde röte
in ihr gesicht
herr platon nahm den hut vom kopf
zertrat ihn im schnee
schiss auf die red nose day nase
und drückte systemstart
alles war bright
er nahm ein glas und entschied
bruichladdich
sollten die frauen schweigen
er posaunte sich hinaus in die welt
und er ergriff eine chance nach der andern
tanz rief jemand
dreh bis der kopf schwirrt
das leben fickt nicht nur dich


Do 21.04.11
12:31

20 Grad: die Menschen leben,
wo man hinschaut: Busenbeben.
25: manches Männchen kriegt den Samenkoller.
30 Grad: es kommt noch toller,
Tangas, Nippel-Blenden, Arschkonsolen,
geht doch Grill-Zutaten holen,
macht euch weg in frisch geharkte Grünanlagen,
dort könnt ihr im Dunkeln alles wagen.
Trinkt und küsst und kopuliert
ungeniert.
Nur erinnert mich nicht überall daran,
dass ich nicht mehr ständig will und kann.

21:26

ich verdiene, glücklich zu sein. du verdienst, glücklich zu sein. er verdient, glücklich zu sein. sie verdient, glücklich zu sein. es verdient, glücklich zu sein. wir verdienen, glücklich zu sein. ihr verdient, glücklich zu sein. sie verdienen, glücklich zu sein.

also, warum zögern??


Fr 22.04.11
10:10


gestern abend, 23:25 Uhr





21:59

Keine besonderen Vorkommnisse.


Sa 23.04.11
9:59

In den nächsten achtundvierzig Stunden bleiben die Supermärkte geschlossen, der Kühlschrank ist leer, ich muss hinaus. Gleich nach acht bin ich los, dachte, dann bin ich einer der ersten, aber andere hatten ähnlich gedacht. Die dicke dicke junge Frau am Leergutautomaten etwa, die sehr schön ist, aber vor lauter Scham über ihr Dicksein kaum aufschauen mag, als wir über den Automaten sprechen, der gerade wieder einmal die Annahme einer Flasche verweigert. Ich verkneife mir ein Kompliment. Sie würde das nicht glauben, also auch nicht vertragen. Dicke sind Ausgestoßene. Der Filialleiter, ein Meister Propper des Discounthandels ist mit seinem elektronischen Warenspürgerät unterwegs und sorgt vor für die Tage danach. Biomilch gibt es erst wieder nach Ostern, dröhnt er mit seinem Bass. Ich habe einen Einkaufszettel. Ich habe einen Plan. Die dicke dicke Frau steht ratlos vor den Tiefkühlschränken.

Ich war früh im Bett gestern, ich war unter Schock, denn als ich gegen zehn auf dem Sofa saß, dachte ich plötzlich: Morgen bist du tot. Unumstößlich und klar. Ich denke ja immer, jeder tut das, ich schließe viele Dinge als wahrscheinlich und ebenso unwahrscheinlich ein und aus, bin also immer auf alles vorbereitet, aber dass es mich auf dem Sofa derart hundsgemein anspringt, das hatte ich in dieser Form noch nie.

Ich überlegte, ob das die Vorstufe einer Panikattacke sein könne, ich erinnere mich gut an die beiden Panikattacken, die ich in den frühen Neunzigern hatte. Eine hatte mich aus der Küche meiner Eltern hinaus in den Garten getrieben, weil die Erwartung, jeden Augeblick sterben zu müssen, nur durch augenblickliches Wegrennen in den Griff zu bekommen war, die andere hatte mich nach dem Trampolinspringen in Hastings überfallen und konnte nur durch abrupten Richtungswechsel eingedämmt werden, danach war nie mehr etwas, aber das war es nicht. Das war keine Panikattacke, das war nur ein Gedanke.

Was jetzt, dachte ich, schreibe ich noch ein Testament, oder lasse ich's drauf ankommen, denn ein Gedanke ist ja nur ein flüchtiger, chemisch-physikalischer Sprung von einer zur nächsten Synapse und muss nichts bedeuten. Unter diesem Blickwinkel könnte alles, was mich täglich umtreibt, nicht mehr als ein Traum sein, ich, (wir) meine (unsere) Welt, ein Hirngespinst. Da ich kein edler Wilder bin, der sein Ende vorausahnt, ging ich ins Bett. Schlaf ist immer das beste Mittel gegen aufsteigenden Wahnsinn. Und siehe, die Sonne scheint und ich lebe noch. Ich habe immer mit dem Gefühl gelebt, dass ich alt werden könnte, also belasse ich es dabei. Sollte ich nicht überleben, schlage ich vor, alles was mir gehört, fifty-fifty. Meine Tagebücher: verbrennen. Mich: verbrennen. Mich: verstreuen. Wo, ist bekannt. Keine Priester. Großes Fest mit Saufen, Kiffen und lauter Musik.

19:35

Wir sind seit zwei Jahren befreundet. Wir treffen uns am See oder auf dem Markt, ich besuche ihn und trinke in der Mikrowelle aufgewärmten Kaffee. Dabei war er Koch. Ein guter Koch. Wir sitzen. Er erzählt Räubergeschichten und ich erzähle, was ich erlebt habe. Er lacht gern und laut. Ich glaube, die meisten seiner Räubergeschichten sind wahr. Er hat einen Mann mit einer Pfanne beworfen und gesagt, hau ab du Arsch, für dich koche ich nicht. Er wird auch die Mengen getrunken haben, die er beschwört und die Frauen überall gab es vielleicht auch. Ich mag ihn sehr.

Gestern waren wir an der letzten Aa-See Brücke verabredet. Als ich kam, sagte er, ich wäre zehn Minuten zu spät. Ich sagte, nie im Leben, ich kann gar nicht zu spät kommen, zückte das Handy und schaute auf die Uhr. Auf die Sekunde, sagte ich. Er lachte. Er hat eine dicke Uhr, eine russische Pilotenuhr vielleicht, er hat zuhause einen Karton aller möglichen Uhren, aber ich stelle sie immer zehn Minuten vor, sagte er lachend.

Wir wollten am See entlang fahren, kamen aber nur bis zur zweiten Bank. Kaum zehn Minuten, schon waren drei oder vier Bekannte vorbeigefahren und hatten ihn herzlich begrüßt. Wir rauchten und machte Witze über Frauen. Wie Vierzehnjährig kam ich mir vor.

Er erzählte, wie er als Kind in Tingen mit Freunden im Rhein schwamm. Und wie gefährlich manche Stellen waren. Dass zwei seiner Freunde ertrunken wären. Dass es zwar ein Freibad gab, aber das habe sie nicht interessiert. Ich erzählte vom Tanzen, und dass die kräftigeren Frauen oft die besseren Tänzerinnen sind. Und über die weißen dicken Frauen und deren Vorliebe für schwarze Männer. Er sagt, wegen der langen Rüssel wäre das.

20:41

Irgend etwas geht vor im Dorf. Ständig passieren herausgeputzte Eingeborene meinen Balkon. Ich bin nicht eingeladen. Ich bin Migrant und will nicht assimiliert werden. Badewannenjupp ist auch nicht eingeladen. Er würde gern eingeladen, wird aber geschnitten. Er hat mal geklaut. Meine nächste Nachbarin ist zu alt, um hinzugehen. Die von gegenüber gingen mit Kind und Kegel. Der älteste Sohn ist von seiner Freundin getrennt. Ich sehe sie nie mehr zusammen. Früher ging sie ein und aus. Sie waren ein Paar, seit sie vierzehn waren, vielleicht jünger. Jugendlieben tun besser daran, beizeiten auseinander zu fallen. Wenn man alt ist und plötzlich denkt, dass man nur eine oder einen gekannt hat, ist es zu spät.

21:49

Es war gar kein Fest. Es war auch niemand eingeladen, oder besser: alle hätten kommen dürfen, es war nämlich der Ostergottesdienst.


So 24.04.11 16:53

Ich treffe mich mit Freunden zum Osterfrühstück, wir sitzen im Garten und staunen. So etwas hatten wir noch nie. Unser Osterfrühstück hat eine lange Tradition, nun gut, sagen wir, Ostern ist spät dieses Jahr, aber für Sommer ist es eigentlich zu früh, dennoch, es ist Sommer. Alle, die immer da sind, sind da, nur sie nicht, aber sie ist in meinem Herzen und so wird sie schon wissen, dass unser Enkel ein Witzbold ist, der Gesichter schneidet und gern auf Erkundungsgänge geht. Irgendwann gibt es Sekt. Es gibt immer Sekt, und wer zu Mittag Sekt trinkt, darf sich nicht wundern, wenn ihn schwere Müdigkeit anspringt.

Als ich wieder zuhause war, legte ich mich aufs Ohr. Nach einer Weile verdunkelte sich der Himmel zum Westen. Ich hörte Schreie, Kraniche dachte ich, vielleicht Wildgänse, ich halte die nie auseinander, aber als ich genauer hinschaute, war die Flügelspannweite der Vögel, die dort zu Tausenden anflogen, einfach zu groß für Kraniche oder Wildgänse. Ich war beunruhigt, ich hatte so etwas noch nie gesehen, so viele große Vögel, es wurden immer mehr und Wind kam auf, so dass ich vorsorgte und die Jalousien herabließ. Gerade noch rechtzeitig, denn gleich darauf krachte es gegen die Fenster. Es schepperte. Es dauerte nicht lang, dann war Ruhe. Als ich die Balkontür öffnete, lagen da viele Maikäfer und ein rotbraunes Kaninchen. Ich erwachte.



Mo 25.04.11 19:18

In Tilbeck gibt es eine Anstalt, die Anfang des 19. Jahrhunderts gebaut wurde. Heute heißen Anstalten anders, mir fällt gerade der Name nicht ein, aber es ist und bleibt eine Anstalt und viele der Menschen, die dort leben, leiden unter beträchtlichen Behinderungen körperlicher und geistiger Naturr. Natürlich sind solche Einrichtungen heute nicht mehr hermetisch von der Welt abgeschlossen, sie haben sich schon lange geöffnet und viele der Menschen, die früher dort Patienten waren, leben in ausgegliederten Wohngemeinschaften. Die, für die so eine Form des betreuten Wohnens nicht in Frage kommt, leben noch immer in Tilbeck. Und bevölkern das Gelände.

Ich war heute mit Eltern und Kindern als Opa dort. Ein Osterausflug mit Picknick und einem gemeinsamen Barfußgang um das Gelände. Der ist sehr populär und Menschen kommen von überall, um "zu fühlen", wie es ist, wenn man etwa über Glas geht. Vorher aber saß ich mit einem anderen Opa auf der Terrasse des angegliederten Cafés. Wir rauchten, ich aß ein Stück Kuchen, der andere Opa trank ein Bier. An einem Nebentisch saß eine Frau schwer schätzbaren Alters, fünfzig, würde ich denken, beiger Rock, groß gemusterte Bluse, schwere hängende Brüste, saß da und wankte mit dem Oberkörper vor und zurück. Endlos. Irgendwann stand sie auf, setzte sich wortlos zu uns an den Tisch und inspizierte unseren Aschenbecher. Er war leer. Sie stellte ihn zurück. Kurz darauf drückte ich meine Zigarette im Aschenbecher aus. Die Frau beugte sich vor, nahm den Aschenbecher, klaubte die Kippe heraus und steckte sie in den Mund. Wir sagten, das dürfe sie nicht, das sei giftig, sie solle das ausspucken, aber sie reagierte nicht. Ich lief zu einer der Frauen, die im Café bedienen und erzählte ihr, was geschehen war. Darauf sagte die Frau, ach ja, das ist Else, die macht das immer, die isst auch Buchsbaum. Dann ging sie mit uns hinaus und sagte, Else, du weißt doch, dass du das nicht sollst. Else hatte die Kippe mittlerweile gegessen, stand auf, ging ohne ein Wort zu einem Tisch neben dem Eingang des Cafés, auf dem Aschenbecher für die Gäste bereit stehen, inspizierte sie, offenbar ohne Erfolg, und ging fort.


Di 26.04.11 8:49

Sie sagt, sie sei fett, klein, nervig, hilfsbereit, todtraurig, faltig, schreiend komisch, aber nicht gefährlich. Das mag angehen, aber ich begann zu vermuten, dass das, was wir seit Herbst letzten Jahres treiben, gefährlich werden könnte, sich auswachsen zur einer Art digitaler Sucht.

Ich versuche mal, einzusortieren.

Erstens: ich kenne sie gar nicht. Ich hatte mir auf Ibiza von ihr nur eine Brille geliehen, zum Dank eine Flasche Herbas geschenkt und war nach zehn Tagen nach Hause geflogen. Wenig später begann das mit den Mails. Und ich begann mich darüber zu freuen.

Eitelkeit, nehme ich an.

Zweitens: ich dachte, wieso in aller Welt erzählt mir jemand von seiner Familie und den Verwicklungen des Alltages? Aber die Mails waren unterhaltsam und nach kurzer Zeit war es schon so, dass ich darauf zu warten begann und enttäuscht war, wenn keine kam.

Drittens: Ich hatte und habe nur ein sehr vages Bild von ihr. Ich hatte sie zwar jeden Morgen beim Frühstück gesehen, aber nie mit ihr gesprochen. Ich hatte sie mir auch nicht genauer angeschaut. Sie hatte da nur jeden Morgen gesessen, und da sie immer ein Basecap trug und nie am Pool auftauchte, kann ich bis heute nicht sagen, sie sieht so oder so aus. Woran ich mich erinnere oder zu erinnern glaube, ist ihr leicht näselnder Ton, der mich an eine Figur aus Anke Engelkes Repertoire erinnert. Ich weiß nicht mehr, wie die Figur hieß, sie trug Dreadlocks, das weiß ich. Aber wie gesagt, das war nur die Intonation, und ich nehme an, die Ruhrgebietsfärbung ihrer Stimme.

Ich weiß, dass sie einen Mann hat und eine Tochter, ich weiß, wo sie arbeitet bzw. gearbeitet hat, ich weiß, was gestern passierte und auch, was vorletzte Woche geschah, seit Oktober letzten Jahren berichtet sie täglich und als ich vor kurzem mit einem Freund darüber sprach, fragte er, weiß das ihr Mann? Und er fragte auch: was will die eigentlich? Ich hatte mich das auch längst gefragt.

Sie schreibt täglich, und ich warte täglich darauf, dass sie schreibt. Sie beschwichtig meine Sorge und sagt, von ihr würde ich weder fett noch bekäme ich Lungenkrebs, was also wäre verkehrt daran? Nichts, eigentlich, eigentlich nichts, es ist nur diese Nähe, die mich irritiert, dieses Vertrautsein miteinander. Sie sagt, sie könne das auch nicht näher erklären, es habe nichts mit dem Mann-Frau Ding zu tun, offenbar habe ich eine Rolle in ihrem Leben zu spielen, sei sozusagen in "göttlichem Auftrag" unterwegs. Was ich davon halten soll, weiß ich noch viel weniger, aber es ist wie es ist, also freu ich mich weiter auf Mails. Oder fahr ich hin und trinke mit ihr Kaffee?

10:22

Zigarettenkippen und Buchsbaum sind toxisch, Kinder könnten vom Verzehr einer Zigarette sterben, Buchsbaum führt bei Überdosierung zu Krämpfen und Tod. Wieso Elsa Zigarettenkippen isst, weiß ich nicht, Menschen haben seltsame Angewohnheiten, das Rauchen zählt ebenso dazu wie der Konsum von Alkohol und Kaffee. Menschen tun Dinge, die ganz und gar nicht gut für sie sind, aber sie tun sie, sie begeben sich in Gefahr und überleben, vielleicht ist das der Kick, nach dem sie Ausschau halten, aber eine Zigarettenkippe essende Frau war mir vorher noch nie begegnet. Sie ist schwachsinnig. Aber wie ist sie drauf gekommen, das würde mich interessieren? Und wieso wird ihr nicht schlecht davon? Schützt Schwachsinn?


Mi 27.04.11 8:29

Ein Freund hatte mir zwei Gänseeier geschenkt. Sie liegen gut in der Hand, sehen schön aus, und ich kenne die Wiese, auf der ihre Mütter leben. Kräuter, Schnecken, Gräser, es herrscht kein Mangel. Das erste hatte ich vorgestern gegessen. Das Eiweiß schien glasig und die Schale war dicker und härter, ansonsten stellte ich keine Unterschiede zum Hühnerei fest.

Heute kochte ich das zweite Ei. Ich hatte es geköpft und wollte gerade zu essen anfangen, als mich unerklärlicher Ekel ansprang. Normalerweise mache ich mir wenig Gedanken über die Herkunft dessen, was ich esse, ich bin ein Barbar. Ich gehe davon aus, dass der Mensch essen muss und darf, was er will, jetzt aber starrte ich das Ei an, von irgendwo stieg Mitleid auf, und ich warf es fort. Vielleicht hätte ich es braten sollen, dachte ich.
14:25

Keine Lust, nichts gelingt, Weißwürste essen als Übersprungshandlung und heute abend tanzen.

16:39

achtet adalbert auf autos
atmen aale abends auch
altern affen aus angola
auch am affenbauch


Do 28.04.11 11:04

K., Frau meines Alters und exzellente Tänzerin, hat gestern maßgeblich zur Wiederherstellung meiner Seelengesundheit beigetragen. Bei K. muss ich keine Sprüche ablassen, mit K. kann ich entspannt tanzen. Sie liegt in der Spur wie ein 40 Tonner Laster. Sie wiegt auch kaum weniger, und wenn sie nicht mehr kann, sagt sie "Mäuschen, muss jetzt mal pausieren, magst du mich überhaupt noch anfassen, so durchgeschwitzt wie ich bin?" Ja. Kein Problem.

Mir läuft das Wasser in Strömen vom Körper, und die Frage, wieso gerade der Karibe das Salsa-Tanzen erfunden hat bei den Temperaturen, die auf den Inseln über und unter dem Winde herrschen, bleibt unbeantwortet.

Baströckchen und Badehose, nehme ich an.

Also Pause. Setze mich, nutze das mitgebrachte Handtuch, trinke eine Schorle und schaue den anderen beim Tanzen zu. So eine Blonde ist da, die eine schwarze, durchsichtige Bluse trägt, schwarze Korsage drunter und eine enge Hose, eine dieser stilbewussten Tänzerinnen, die bei Drehungen die Hand gen Himmel reckt oder flach vor den Bauch legt und auf die eins kommt wie Herr Vettel aus der Pole Position.

Die nehm ich als nächste, denke ich und dann denke ich nicht, ich gehe hin und wir tanzen drei, vier Tänze und ich bin ganz und gar leer und glücklich. Das ist doch was, alter Herr Mensing, denke ich. Nach dem dritten Tanz seufze ich wohl und sie sagt, bist du müde und ich sage nein, ich zerfließe nur und verliere gleich meine Hose, sie lacht, ich wische mir Schweiß weg und führe sie in eine Doppeldrehung. Yes.

Die Schwarzen sagen Hola Hombre, wenn sie mich sehen, in Tanzpausen stehen wir, fächeln uns Luft zu und überdenken nächste Schritte. Und dann kommt O., ein Marrokaner und ich frage ihn, ob er schon mal auf dem Salsa Festival in Marrakech war? O ja, sagt er, schon zweimal, die kommen da aus aller Welt hin, das ist geil. Das Salsa-Festival kostet 300 Euro für fünf Tage im September, Palmeraie Golf Palace 5 Sterne Hotel, müsste nur noch einen Flug buchen mit Ryanair, mal sehn, ich war noch nie in Marrakech, vielleicht mache ich das.

Es regnet, es ist mild, ich verbringe den Morgen mit Vinyl.
Startete mit Bill Brudford, jetzt höre ich Cameo, mal sehn, wie es weitergeht.
Manisch depressiv, gestern unten, heute oben, bin wohl ein Quartalsschreiber, und das Quartal hat noch nicht wieder begonnen.

14:33

Heute früh kam der Anruf, dass es mit dem Segeltörn in Friesland klappt, und da stellte sich sofort die Frage nach einem Coffee-Shop in Sneek, dem Ausgangspunkt der Reise. Von den fünf Herren an Bord ist nämlich einer, der diesen Service nutzt. Wie ich hat er diese Angewohnheit aus den Sechzigern in die Gegenwart gerettet, darauf waren wir schon nach kurzem Gespräch gekommen, man erkennt die Seinigen, könnte man sagen, und er hat mir versichert, dass die übrigen Herren an Bord damit leben können. Sie tun es zwar nicht selbst, sie stellen wohl auch die handelsüblichen Fragen, etwa, ob man schon Farbe sähe und ähnliches, ansonsten aber werden sie Bier trinken und versuchen, auf Kurs zu bleiben.

Nach allem, was ich verstanden habe, werden zwei Schiffe gechartert: eine Jolle und ein Motorschiff. Das Motorschiff ist zum Schlafen da, die Jolle zum Segeln. Es wird durch Kanäle von See zu See gehen, ich bin sehr gespannt und freue mich. Das wird mein erster Einsatz an Bord seit meiner legendären Reise von Calangute in Goa bis Mangalore übers arabische Meer 1979. Damals war ich derjenige, der nicht kiffte, weil mir die offene See, wenngleich wir immer unter Land fuhren, nicht geheuer war.

17:51

Es schneit Blütenblätter, im Südosten räuspert sich ein Gewitter. Ich höre, dass alles gut ist, ich höre das wie eine mich begleitende Stimme. Wenn Sie wollen, ist das eine Spielart der Autosuggestion, nicht etwa der Schizophrenie, denn ich habe keine akkustischen Halluzinationen. Sie dürfen es auch Gott nennen, der ist schließlich in jedem, nur die meisten hören nicht, was er sagt. Ich kann mir vorstellen, dass er als elektromagnetische Wellen sichtbar zu machende Spuren hinterlässt. Gesichert ist das jedoch nicht, ich weiß aber, wie düster es sein kann, wenn er - wie gestern - nicht da ist. Dann wird das Leben bitter.

So voller Zuversicht setzte ich mich auf eines der gefährlichsten Verkehrsmittel der Gegenwart, das Fahrrad, und fuhr ohne Helm in die Stadt. Ich wollte dort eine werdende Mutter treffen, aber sie war nicht daheim, was mich betrübt, denn wir waren verabredet. Unterwegs stieg eine Idee auf, die mit einem Freund zu tun hat, den ich morgen beschenken will.

Die Idee war nicht realisierbar, als ich aber in Emmas Café saß, fiel mir etwas besseres ein. Wenig später betrat ich einen Laden gegenüber der Blauen Taverne, ein rechterhand mit Plottern und Computern, linkerhand bis unter die Decke mit Druckfolien gefüllten Regalen zugestellter kleiner Raum, angrenzend zum Garten ein weiterer, sehr schmaler Raum, in dem drei Männer im Alter zwischen 40 und 60 rauchend über ihrer Arbeit saßen. Ein Sweatshop, dachte ich, so ähnlich sehen Sweatshops aus.

Ich äußerte meinen Wunsch, ja, der ist realisierbar, sagte ein Malboro rauchender grauhaariger Mann mit festem Gerstenbauch, ich prüfte die Ware und musste dann nur noch warten, bis mein Auftrag erledigt war. Als ich zahlte und sagte, das sei ja geschenkt, sagte der Grauhaarige, das werde er sich merken, ich antwortete, dann zahle ich eben beim nächsten Mal ... Euro. Freundlich verabschiedeten wir uns voneinander.

Nun werde ich ein wenig essen müssen. Die Frage ist, was?

PS.

Augenblicklich auf dem Plattenteller: The Aura will prevail. George Duke.
Kein Publishing Datum auf der Hülle, ärgerlich, so etwas sollte obligatorisch sein, aber ich erinnere die Mittsiebziger, die meisten von ihnen werden da noch gar nicht geboren sein.

19:37

Während der Muselmann seine Frau bekanntlich zwingt, in der Öffentlichkeit ein paar Meter hinter ihm zu gehen, kennt der Westfale diesen frauenfeindlichen Brauch nicht. Hier gilt seit Äonen die Westfälische Reihe, eine Idylle, die den Mann/die Männer vorn, die Frauen in gebührendem Abstand dahinter sieht. Ein weiterer Grund, den Islam und seine düsteren Machenschaften zu fürchten.


Fr 29.04.11 18:18

Licht lungert silbern auf frischem Grün, hab nichts anzuziehn, muss noch stöbern, fliege gleich mit Rückenwind westwärts über die Grenze nach Holland, um über die Stränge zu schlagen.





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