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Mi 1.04.2020 / Krise Tag 21 / sonnig

In den letzten zwei Wochen hat Herr M. drei Tage von morgens bis mittags Tapeten von den Wänden gekratzt, zwei Tage Gipsputz aufgetragen und einen Tag angestrichen, mittags ist er in den Schrebergarten gefahren, um in einem kleinen windgeschützen Holzhaus seiner schriftstellerischen Arbeit nachzugehen. Gestern, er hatte die Jahre 2013 bis 2015 auf Gedichte durchforstet, zog es ihn zu W., der einen Garten in der Nachbarschaft hat. W. und er spielen in einer Band. Beiden sind Rentner. Sie setzten sich in die Sonne, Dompfaffen hüpften von Ast zu Ast und Rotkehlchen sangen und die tranken Gin Tonic. Ein Glass gab das andere, so dass Herr M. den Heimweg in bester Laune, aber nur mit äußerster Konzentration hinter sich brachte. So, dachte er, könne die Katastrophe ruhig noch ein wenig andauern, der Garten ist ein äußerst luxusiöser Ort, um abzuwarten, dass bundesweit das geschieht, was sich in Münster schon abzeichnet, die Kurve der Neuinfektionen fällt.

22:30

Der kleine Tresor am Hörster Platz mit den Schlüsseln der Stadtteilautos öffnet sich nicht, obwohl ich meine Chipkarte davor halte. Das Licht fällt halbschräg gegen das deshalb schwer zu lesende Display. Nichts. Erst, als ich den Stern im Eingabefeld drücke, fordert das Display meine Geheimnummer. Die gebe ich ein, und der Tresor öffnet sich. Ich entnehme den Schlüssel für einen Renault Clio, der gleich nebenan steht, ich öffne, das Desinfektionsspray steht neben dem Schalthebel auf der Konsole, ich sprühe, ich starte und fahre los.
Kein Kondensstreifen weit und breit, die Osterglocken sind fast schon verblüht, und die Magnolien haben die vorletzten Frostnacht nicht überstanden. Frisches, betörendes Grün. Hier und da Bauern auf riesigen Trecken, die Landparfüm sprühen. Nach zwei Wochen Ausnahmezustand bin ich geneigt, diesen Geruch romantisch zu finden. Alles geht seinen Gang, zumindest hier, auf dem Land. In Everswinkel auch? Als ich bei den Milchwerken abbiege, fahren gerade zwei LKW durch die Werkstore, die Lieferketten funktionieren offenbar. Bis ich die Kirche erreiche, sehe ich zwei Menschen.

Mittwoch, 1. April 2020, elf Uhr fünfundvierzig. Dies ist kein Aprilscherz. Dies ist die Realität. Wir drehen ein kleines Video, wir benötigen zwei Takes, und sind zufrieden. In der Marienkapelle treffen wir zwei Frauen. Eine spielt Gitarre. Die beiden singen von Maria, die durch einen Dornenwald geht. Sie beten. Ich grüße, sage, dass ich der "virtuelle Dorfschreiber" bin, und bitte sie, mich in ihre Gebete einzuschließen. Das tun sie gern.


Fr. 3.04.2020 / Krise Tag 23 / 19:42 / leicht bewölkt

vom schönen leben

nun sag das wort
das dich erleichtert
sag etwas,
dass dein herz erheitert,
sag, dass es gut ist
und du nie vergisst,
dass sinn des lebens
leben ist.

du weißt längst,
dass zuweilen dornen reißen,
du hast so viel erlebt,
und manches wollte dich zerreißen,
doch du hast überlebt.

du weißt,
wie schön die welt,
die blaue kugel, dreht,
du hofftst,
dass sie verzeiht,
du gibst ihr liebe, die verweht
die trübsal,
und du bist bereit.

du sagst,
ich werde nochmal bäume pflanzen,
du sagst, ich werd' mich schwindlig tanzen,
mein leben mach ich immer wieder neu,
beweise mich, bin sternenstreu.

ich bin ein fernes licht im all,
ein lachen, manchmal seufze ich,
ich atme aus, ich liebe mich,
und alles, was der fall ist, ist der fall.



So. 5.04.2020 / Krise Tag 25 / 23.45

Vorschlag für eine Rückkehr zur Normalität

Das Paradies ist unbeschwert, aber wer ist das schon in diesen Tagen. Die Natur kontrastiert unsere Gegenwart ironisch. Mit mir, sagt sie, ist zwar auch nicht alles in Ordnung, aber der uralte Plan funktioniert noch, der Mond ist fast voll, tagsüber ist es sommerlich, die Vögel singen Hochzeitslieder, hinaus, ruft alles, hinaus mit den Freunden, mit denen man zusammen sitzen möchte, sich austauschen, sich vergewissern, dass sie noch da sind, dass sie den Mut nicht verlieren, und Träume träumen für das Danach.

Wie aber kann dieses Danach aussehen? Wie schaffen wir es, die Welle des Virus mit aller Vorsicht so zu reiten, wie es ein Surfer täte, der jede Bewegung der Welle beobachtet, jede Strömung kennt, der die Richtung wechselt, wenn es Not tut, und ständig auf der Hut ist, dass der Wellenkamm nicht über ihm zusammenbricht.

Ich stelle mir vor, dass, wenn die Verdopplungsrate der Infektionen bei 12 bis 14 Tagen liegt, eine Revitalisierung des Lebens beginnen muss. Wie, das sollte von Virologen, Epidemiologen Geisteswissenschaftlern, Psychologen, Soziologen, Ökonomen und Kulturschaffenden entschieden werden. Dazu muss ein runder Tisch her, es muss Klartext geredet werden, und vor allem darf nicht der geringste Zweifel der Vertuschung aufkommen.

Um das Leben wieder in Gang zu bringen, und den Menschen die Last der Isolation zu erleichtern, könnten Städte auf Basis der vorhandenen statistischen Daten in wechselndem Turnus Stadtteilen die Erlaubnis erteilen, ihren Geschäften wieder zu öffnen. Der Zugang würde zum Beispiel nach den Anfangsbuchstaben des Familiennamens geregelt. Danach hätten am Montag alle, deren Namen mit A bis D beginnen, freien Ausgang. Sie dürften in den entsprechenden Stadtteilen in Cafés sitzen, einkaufen, soziales Leben pflegen. Das Alphabet wäre in gut einer Woche einmal durch, und die Sache begänne von vorn. Zu kontrollieren wäre das leicht.

Die letzten Wochen haben gezeigt, dass die Bürger sich im Großen und Ganzen verantwortungsvoll verhalten. 93 Prozent aller stimmen den augenblicklich geltenden Regeln als unumgänglich und vernünftig zu, man könnte also jemanden, der in ein Café will, fragen, wie er heißt, vielleicht müsste er sogar seinen Ausweis zeigen, und Verstöße würde mit Verweisen, oder, wenn es nicht anders geht, mit Bußgeld geahndet.
Wäre das nichts?
Wäre das nicht eine vorsichtige Rückkehr ins Paradies?
So stelle ich mir das vor?
Und Sie?


Montag, 6.04.2020 / Krise Tag 26 / sonniger Tag

Ich habe heute den Stuhl gestrichen, den Chris und ich vor knapp dreißig Jahren aus dem Odeon geklaut haben, Martina den Türrahmen, die Durchreiche und den Jalousienkasten, wir haben in der Küche Kuchen gegessen und Kaffee getrunken und beim Spülen habe ich die Ergonomie der neuen Küche begriffen. Was gespült wird, kommt nach dem Abtrocknen in den Wandschrank über mir. Das Besteck lege ich in die oberste Schublade einen Schritt rechts. Über die restlichen fünf Schubladen wird noch verhandelt. Auch über die Regale ist noch nicht das letzte Wort gesprochen. Das Schärfste aber ist, dass sich die Schubladen auf den letzten fünf Zentimetern mittels einer Feder einziehen.

Eine Kohlezeichnung von Thomas Poggenhans, mein "schwarzes Loch", das mir seit dreißig Jahren gut tut, hängt überm Esstisch (auch von Thomas), ein Feininger Druck links neben dem Fenster, ein vorgebeugter Mann, groß wie ein rotes Haus im Hintergrund, eilt über einen Platz. Das war das Titelbild meines Romanes "Meier der Große" in den Achtzigern, alles war besprochen, dann ging der Verlag Pleite. So etwas hatte ich dreimal. Feines Leben.


Mi 8.04.20 / Krise Tag 28 / sonnig /

Lockdown ist anders. Finde ich jedenfalls. In der Stadt bewegt sich vieles. Bei mir ebenso. Der Umzug hat begonnen. Mein Balkon wird mit Einzug meiner Lebensgefährtin, eine kluge und mutige Frau, zu einem Blumengarten. Überall stehen schon Töpfchen mit Setzlingen, die demnächst in ihren Schrebergarten umziehen. Und, wichtig, die japanische Kirsche blüht.




19:31

Manche Tage sind hell, andere dunkel. Heute war ein dunkler Tag, obwohl Frühling ist. Aber dieser Frühling ist anders. Er bedroht mich. Er schreit mich an. Versteck dich, rät er. Fliehe. Aber Flucht ist nicht möglich. Die Bedrohung ist überall, und hier ist es noch sicherer, als anderswo.


Fr 9.04.20 /Krise Tag 29 / sonnig 10:54

Corona, königliches Liebchen,
du bist ein hübsches Ding,
ich schreibe dir ein Liedchen,
das ich zum Abend sing.

So'n Frollein mit so vielen Kronen,
so eine Zicke, die durch Lungen schleimt,
ich lasse dich nicht bei mir wohnen,
bah, bist du abgefeimt.

mir geht dein adel auf den sack,
perverses volk, das auf sein volk schiss,
meist arbeitsscheues pack,
iss kuchen, wenn du arm bist.

mein liebchen, schöne königin,
an deinem kleid gibt's nichts zu meckern,
du bist die schöpfung ohne sinn,
du klotzt, du willst nicht kleckern.

verständlich, aber wir sind auch noch da,
und wie du weißt, dumm sind wir nicht
klug leider auch nicht, aber wahr,
ist, wir sind dein gericht.

wir werden sagen, vorsätzlicher mord,
wir werden jede klage klagen,
wir jagen dich von süd nach nord,
von ost nach west, und du wirst sagen,

es tut mir leid, ich wollte doch nur leben,
ich tat doch nur, was mir mein plan befahl,
wir werden sagen, siehst du, deshalb eben,
hau'n wir dich an den pfahl.


Mi 15.04.20 / Krise Tag 36 / 10:45 sonnig, noch frisch

Corona ist draußen. Hier drinnen, 93 Quadratmeter, Wohnzimmer, Elternschlafzimmer, zwei Kinderzimmer, Küche, Toilette, Bad, gebaut in den späten Sechzigern für Offiziere der britischen Arme, von mir und meiner Familie seit 1983 bewohnt, wird renoviert. Alte Tapeten müssen von den Wänden, oder überstrichen, Türen abgeschliffen und gestrichen werden, eines kommt zum anderen. Es ist schon nicht mehr so schlimm wie vor zwei Wochen, als ich die Küche renoviert habe, es staubt nicht mehr wie verrückt, aber Chaos herrscht dennoch, überall stehen Umzugskartons und Farbtöpfe. Eines aber unterscheidet dieses Drinnen vom Draußen. So lange renoviert wird, muss ich nicht ständig an Corona denken.


16:23

Bei allem, was ich schreibe, denke ich mich, den Leser. Ich bin nicht nachsichtig. Ich bin einer, der Text oft schon verwirft, eh er geschrieben ist. Diesen Text aber werde ich nicht verwerfen, denn ich denke an uns, an die Familie der Menschen. Die Existenz dieser Familie ist in größter Gefahr. Wer die Gefährder sind, ist mir egal. Jeder, der sich gegen die Familie der Menschen wendet, ist dumm und herzlos. Wir haben es weit gebracht, ohne klug zu werden. Wenn wir unser Leben nicht grundlegend ändern, ist es mit uns vorbei. Die Welt, alles was nicht Mensch ist, würde sich freuen. Für uns aber wäre das schade, denn wir sind schön und könnten im Paradies sein.


Do 16.04.20 / Krise Tag 37 / 23:15 es war sonnig

Seit 16 Tagen bin ich Dorfschreiber. Da Corona über die Welt kam, kann ich nicht in Everswinkel wohnen. Stattdessen blogge ich jeden Tag Text in die Welt, so, wie ich es seit zwanzig Jahren tue. Reaktionen gibt es nicht. Ich weiß nicht einmal, ob ich deshalb enttäuscht bin. Ich kriege ja Geld für diesen Monat, ich werde gut bezahlt, niemand redet mir rein. Trotzdem ist es ein seltsames Geschäft. Als würde ich ins Nichts rufen. Ich weiß nicht, wie es wäre, wenn alle vor Begeisterung Purzelbäume schlügen, ich fürchte, das wäre mir noch weniger recht. Heute war der Tag schwer. Corona lastet auf mir wie Blei. Ich rette mich mit Anstreichen. Ich versuche, meine Arbeit so gut wie möglich zu machen. Das hilft. Abends aber fällt die Last auf mich wie Blei. Da hilft Literatur, Musik und Schlaf. Zum Glück schlafe ich gut.


Fr 17.04.20 / Krise Tag 38 / 7:59 sonnig

wer hätte mich gerettet
wenn nicht du und ich
wer hätte dir kaffee ans bett gebracht,
und mir zu abend pfannkuchen gemacht,
wer hätte diese welt verwirrt,
wer brächte mir geduld bei,
ist es nicht so, dass leben niemals irrt,
wer klärt die lage mit dem senkblei,
wer bringt die welt zurück ins lot,
ich liebe sie, und wär ich morgen tot,
ich träfe alle wieder und wär frei.


So 19.04.20 / Krise Tag 40/ 16:54 sonnig, schon seit Tagen zu trocken

ab montag
werden sie sich wieder in die läden stürzen,
sich endlich wieder jeden wunsch erfüllen,
sie werden ihre leere mit gekauftem würzen,
und ihre sehnsucht mit kreditkauf stillen,

ich seh und höre sie, sie atmen schwer,
sie hatten jetzt vier wochen keinen einkauf mehr,
ich sehe, wie sie in die masken sabbeln,
mit ihrer leibesfülle vor begeist'rung schwabbeln.

mir wäre lockdown dann doch lieber,
er böt' noch eine weile schutz vor diesem einkaufsfieber,
und wäre ich ein hellseher, sagt ich voraus,
die rückkehr zum gewohnten wird ein graus.

noch grausliger als das,was jetzt vier wochen war,
und sein wird, noch das ganze jahr.


Mo 20.04.20 12:10 / Krise Tag 41 / sonnig, windig und frisch

Heute werden wir das Schlafzimmer beziehen. Seit vier Wochen renovieren wir, die Küche war der dickste Brocken mit all der Tapetenkratzerei, dem Verputzen, dem Anstrich, der Entsorgung der schon 1984 gebrauchten Möbel und dem Einbau der neuen Küche, die so schön und funktionabel ist, dass ich es noch immer kaum glaube. Handwerkskunst von Werner Haremsa, der vor etwa zwanzig Jahren für Chris und mich Bücherregale und ein Vertiko gebaut hat. Samstag habe ich Kartons transportiert, heute muss ein wenig Atem holen, mein Rücken ist zwar stabil, aber besser ist besser. Morgen wird das alte Schlafzimmer zu M.'s neuen Zimmer, und wenn das gegen Ende der Woche fertig ist, kommen ihre Möbel.


Mi 22.04.20 20:36 / Krise Tag 43 / sonnig, wärmer, schwächerer Wind.

Ich habe heute die ersten Schwalben gesehen und war glücklich, denn letzte Woche las ich, dass viele Vögel, u.a. Schwalben, auf dem Heimweg in ihre nördlichen Brutgebiete über Griechenland in eine Schlechtwetterfront geraten und zu tausenden tot vom Himmel gefallen waren. Drei Schwalben also, es werden immer weniger. Das letzte Mal habe ich Schwalben in großen Schwärmen auf Korfu gesehen, abends zirkelten sie über der Stadt, aber das ist zwölf Jahre her, oder noch länger.

Seit Montag ist wieder ein wenig Leben zurückgekehrt, man sieht es an den Autos, man hört es von der Autobahn, aber ich weiß nicht, ob ich glücklich darüber sein soll. Nach wie vor ist die Lage kritisch, glaube ich. Und dann kommt hinzu, dass es nun im dritten Jahr in Folge viel zu trocken ist, wenngleich die Winterregen teils sehr ergiebig waren, und die Bauern noch nicht klagen. Ich habe heute Wände gestrichen, altes Geschirr, Küchenutensilien, ein Bett, einen alten Stuhl, ein Bügelbrett und Matratze zum Sperrmüll gestellt. M. hat den Schrank neu organisiert. Alles geht langsam und stetig voran, so dass es eine Freude ist. Nachmittags sind wir nach Häger gefahren und haben Bärlauch gesammelt. Todmüde jetzt.


Fr 24.04.20 19:35 / Krise Tag 45 / sonnig, warm

mal wieder dichten,
meister, hast angestrichen
hast renoviert,
dinge entschieden
und hingekriegt,
von denen du nicht wusstest,
dass du sie hinkriegen willst.
hast ein liebe
hast körperkraft verbraucht,
und dich abends müde ins bett gerollt,
da liegt jemand,
den du nicht mehr wissen willst,
doch dichten ist ein anderes ding,
du kannst sagen,
dass das leben aufregend schön ist
und dass du ein dichter bist.
ein bichter dist. ein dichter bist.


Di 28.04.20 17:10 / Krise Tag 48 / bewölkt, mild noch kaum Regen

Ich zähle die Tage nicht mehr, aber über den Daumen gepeilt gehen wir in die fünfte oder sechste Renovierungswoche. Alles, was wir bisher unternommen haben, war erfolgreich, die Farbwahl, die Atmosphäre, eines ist immer zum anderen gekommen, und das Beste von allem, wir hatten keine tiefgehenden Streits. Heute habe ich mein Zimmer in Angriff genommen. Auch hier wird vieles ausgemustert. Wenn die Woche vorüber ist, wird das Zimmer fertig sein, vielleicht aber schon früher. Seit ich nicht mehr allein lebe, ist die Düsternis der mit Ausgehverboten belegten Abende nicht mehr schlimm.