August 2002 www.hermann-mensing.de
mensing literaturFr 2.08 02 15:27 (2.08.1972 San Franzisco)
Wieder da.
Sa 3.08.02 9:51 (3.08.1972 San Franzisco)
Die eine wie die andere hat mehr als vier Viertel und ist doch nicht mehr als ein Ganzes. Die eine wie die andere hat Verbindung zum Meer. Durch die eine wie die andere fließen Flüsse. Von der einen sagt man, sie habe mehr Brücken als Venedig. Von der anderen wird behauptet, sie sei das Tor zur Welt. In der einen wie der anderen haben wir ein paar Tage gewohnt. In jeder hatten wir eine Wohnung. Zu jeder Wohnung gehörte ein Balkon. Der eine Balkon war liebevoll begrünt. Sogar Sommerflieder wuchs dort im fünften Stock und zog Schmetterlinge an. Der andere Balkon war nicht mehr als eine von niemandem geliebte Abstellfläche für leere Flaschen und überquellende Aschenbecher. Die eine Wohnung lag in einem von Homosexuellen dominierten Viertel. Die andere in einem von reichen Leuten. Hier wie dort gibt es S-Bahnen, U-Bahnen und Busse. In der einen fuhren wir mit einem Kanu. In der anderen liefen wir stundenlang am Wasser entlang. In der einen erschienen uns die Menschen höflich. In der anderen weniger. In der einen fragte man uns, ob wir den Unterschied zwischen einem Griespudding und einem Epileptiker kennen? - Nein, antworteten wir. Der Griespudding liege in Zucker und Zimt, der Epileptiker hingegen im Zimmer und zucke. In der anderen erzählte uns niemand etwas annähernd Lustiges. Wer nun weiß, von welchen Städten ich spreche, hat mitgedacht.
15:59
Leise ist das Zurückkommen, und immer mit Schmerz verbunden. Mal ist es der Schmerz darüber, dass sich nichts verändert hat, dann darüber, dass alles kurz vor einem lange erwarteten Ende angekommen ist. Danach wird man sich Gedanken darüber machen, was in der Zeitung stehen soll. Währenddessen gehen wir der einen Tätigkeit nach, die das Warten verschleiert: wir schlendern durch Geschäfte und kaufen.
16:14
Noch ein beliebter Zeitvertreib: Töten aus Gründen der Humanität.
So 4.08.02 9:29 (4.08.1972 San Franzisco)
Vorgestern: die in dramatischem Rot verglühende Abendsonne. Vorvorgestern: der Himmel über der Stadt, aufquellend, als wolle er auf und davon, fort in die Stratosphäre. All die Jahre: die Greisin. Wie sie da liegt und ihr Leben zu Ende lebt. Ohne Schmerz. Und die Trauer, die mich schon so lange begleitet und darauf drängt, ich solle mich vorbereiten. Ich weiß alles, aber ich fühle nichts. Ich bin lange gewarnt und werde doch überrascht. Heute. Morgen. Nächste Woche. Vor meiner Tür: Autos. Menschen auf dem Weg zur Kirche. Sonntag auf dem Land. Alles M.'s schlafen noch und sind sorglos. Ich nicht.
18:46
Sie auch nicht? Warum?
Mo 5.08.02 9:54 (5.08.1092 San Franzisco)
Grundlos glücklich.
11:02
Ebenso gilt: unglücklich.
Di 6.08.02 9:39 (6.08.1972 San Franzisco)
Aufheiternd / wenn er bedenkt / dass sein Horoskop ihm versichert / dass ihm am achtzehnten dieses Monats zwischen 14:05 und 15:00 Bargeld lacht.
21:29
Erschreckt / wenn er bedenkt / der genannte Tag könnte überschattet sein von einem anderen / tragischeren Ereignis / dessen Eintritt er jeden Tag erwartet. Trotzdem / gestern / als er in ihr Ohr sprach / wusste sie sehr genau / wer er war / und auf die Frage / wo er denn gewesen sei die letzte Woche / sagte sie von ganz fern: Berlin. / Überhaupt diese Ferne / wo ist sie / wen trifft sie dort? -
Fr 9.08.02 18:12 (9.08.1972 Stinson Beach)
Wenn Bäuchlein es bedenkt, er könnte sich genau so gut töten. Was hat er denn? Keine Frau hat er. Keine Kinder hat er. Sex hat er höchstens fünf Mal gehabt im Leben, das nun fast fünfzig Jahre alt ist und jedes Mal war nicht so, wie er es sich vorgestellt hatte. Allerdings wusste Bäuchlein auch nicht, wie es denn sein sollte, insofern. Und jetzt lebt er hier, ist frühpensioniert und geht immer die eine Straße auf und ab und denkt, wenn ich doch bloß dies hätte und das könnte und wenn ich damals doch nicht jenes getan hätte und so. So vergehen Bäuchleins Tage und hätte Bäuchlein Mut, er hätte es längst getan. Er hätte vielleicht noch, wie die andern alle, eine Reise gemacht vorher, hätte sich etwas angeschaut, irgendetwas, was, wüsste er jetzt nicht zu sagen, aber er hätte gewusst, ob es ihm gefällt, wenn er es tatsächlich gesehen hätte. Leider ist alles, was er je hätte tun können, ins Wasser gefallen, und so wird Bäuchlein wohl nur diese Straße bleiben und weil er sich nicht tötet, wird er warten müssen, und wenn er wartet, denkt er weiter diese Sachen. Manchmal findet er das dann sogar gut. Manchmal schreibt er das sogar auf, aber am nächsten Tag wirft er es sofort wieder weg, weil er Angst hat, dass das jemand findet, falls er mal stirbt. Und sterben, das weiß Bäuchlein, wird er. Das wird schließlich jeder.
18:20
Düsseldorf / Surrealisten: Lieblinge Max Ernst / Hans Bellmer/ Städte: Delden, Deventer, Kampen, Lelystadt, Alkmaar, Bergen an Zee. Schwimmen im Meer.
Sa 10.08.02 13:03 (10.08.1972 Stinson Beach)
In Düsseldorf regnete es. Wie damals, als wir Kandinsky sahen und uns darüber wunderten, wie humorvoll Paul Klee sein kann. Aber in B. war es heiß. Brüllend heiß. So dass wir auf der Schattenseite der Straßen liefen. Uns treiben ließen, darauf vertrauend, was dort sein könnte, gleich hinter der Ecke. In H. regnete es einmal, am Abend. Am nächsten Tag erfuhren wir, dass in anderen Stadtteilen das Wasser einen Meter hoch in den Straßen gestanden habe. Im flachen Land, auf der Deichstraße am Fluss, in der Hansestadt am eingedeichten Meer, auf dem Deich, in der Käsestadt A. und am Meer war es warm. Warm und schwül. Träumte den Traum vom Toten Mann. Offenbar träumte ich ihn so überzeugend, dass ein früher Spaziergänger stehen blieb, um sich zu vergewissern, was da im Wasser trieb. Als ich den Kopf plötzlich hob, sah ich, dass der Mann erleichtert weiter lief. Gegen Mittag zog überm Meer ein Gewitter auf. Darauf fuhren wir heim. Flossen durch dichten Verkehr, unbehelligt. So kam es, dass ich in meinem Leben noch immer in keinem Stau stand. Ungeachtet der 2000 Kilometer auf Autobahnen innerhalb der letzten zwei Wochen. Hier nun, am Ende der Ferien, regnet es. Gestern Abend so heftig, dass es den Keller flutete. Heute stetig und still. Als Begleitmusik höre ich Frank Zappa: Hot Rats und Grand Wazoo, Roxy Music: Flesh & Blood, Terje Ripdal: Blue. Das Ende der Ferien: keine Absage von den Gewaltigen der öffentlich rechtlichen Medien. Das lässt hoffen. Im übrigen naht ein Termin.
So 11.08.02 11:16 (11.08.1972 Stinson Beach)
No es facil....
Mo 12.08.02 10:04 (12.08.1972 Stinson Beach)
Besuchten auf unserer kleinen Reise auch Lelystad Wir dachten, es müsse interessant sein, eine Stadt zu sehen, die kaum älter als dreißig Jahre ist. Damals in Brasilien trieb mich nichts in Niemeyers neue Hauptstadt, die so atemberaubend sein soll. Ich war so müde von einjähriger Reise, dass ich mir nicht einmal mehr das Wahrzeichen Rios anschaute. Am Donnerstagmorgen letzter Woche jedoch wollte ich alles sehen, alles am Wege, falls möglich. Das gepolderte Land, die gepflanzten Wälder mit schnellem Holz, die Kanäle, den Dunst. Lelystad also: weiträumig mit Avenuen für Automobile und Nachbarschaften auf plattem Land ringsum. Entwässerungsgräben, Kanäle, dem Zentrum sich nähernd, das sich mit Rathaus, Rathausplatz, Einkaufszentrum und Bahnhof ausweist. Mit Parkplatz vor kleinem See, einer Poliklinik, einer Fußgängerbrücke über von Entengrütze und Seerosen grün-gelben Wasserfläche. Um den Besucher dann gleich darauf aufmerksam zu machen, was der Mensch in der Stadt tut. Wenn er damit fertig ist, wenn er Dinge gekauft hat, von denen er nicht einmal wusste, dass er sie je brauchen könnte, darf er ausruhen und einen Kaffee trinken. Darf sich umschauen, hochschauen und sich fragen, wer wohl dieser Mann sein könnte, auf haushoher Säule stehend gen Westen blickend. Herr Lely? Ich spreche eine Passantin an. Sie weiß nicht. Ob es denn Herr Lely sein könne, frage ich weiter. Oh ja, das könne sein. Er ist es tatsächlich. Ein niederländischer Ingenieur, der maßgeblich an der Trockenlegung der Zuiderzee beteiligt war. Ich erinnere mich an eine Schulreise zu einem Polderprojekt in der Region. 1962 vielleicht: ich erinnere mich an große Spülrohre, durch die Wasser gepumpt wurde. Ich erinnere mich an riesige Baumaschinen. Ich erinnere mich an mein Staunen. Die Holländer machen aus Meer Land. Da sind sie Meister. Landschaftsbauer. Gestalter. Nichts ist Natur. Alles ist Menschenwerk. Wir verlassen die Stadt über den Deich. Große Starenschwärme flecken den Himmel in diese und jene Richtung. Während Lelystadt im Dunst verschwindet, fragen wir uns, wer die Richtung angibt, wenn so viele Vögel als Wolke über den Himmel jagen. Freuen uns, dass wir uns die Mühe gemacht haben, Lelystad zu sehen. Und denken ans Meer, das vor uns liegt. Und danken den Göttern, dass sie uns schützen.
12:28
Was mich nun dazu trieb, ein ochsenblutrotes Hemd zu kaufen, tags vorher, in der Stadt Deventer, weiß ich nicht mehr. Möglich, dass es die Appretur war, die diesem Rot die Gefahr nahm, möglich, dass der Griff mich verleitete, und das Rascheln, dass ein wenig an feines Seidenpapier erinnert. Als ich es anzog, erschrak ich. Noch nie zuvor hatte ich so ein Hemd getragen. Ich versuchte es einen Abend lang, in der Stadt Egmond, zum Essen bei einem Ägypter, aber aus jedem Fenster, in dem ich mich spiegelte, sprang mich dieses Rot an und am Abend schwor ich, das Hemd nie mehr anzuziehen. Zwei Tage später traf ich auf einer Geburtstagsfeier einen mir nur vage bekannten Mann, der ein ebenso rotes Hemd trug. Der Mann fiel mir durch sein rechthaberisches Verhalten auf. Sofort befand ich meinen Beschluss, das Hemd für alle Tage im Schrank zu lassen, bestätigt. Heute nun trage ich es dennoch. Trage es und bin gespannt, was geschieht.
13:11
Ich sitze und überarbeite Notizen, als es drei, viermal schellt, schnell und fordernd, als stünde Polizei vor dem Haus. Ja, ja, ja, rufe ich, laufe zum Türsummer, drücke, öffne die Wohnungstür und trete hinaus in den Hausflur. Am Treppenabsatz steht ein Mann mit Baseballkappe, Rucksack, einem tätowierten Kreuz auf dem rechten Unterarm und sagt, er käme von den Behinderten. Verschissen, sage ich, schon verschissen, Sie haben geschellt, als wäre Alarm. Normal, sagt er, er habe doch ganz normal geschellt. Nein, sage ich. Also, keine Chance. Ich drehe mich um und gehe in die Wohnung zurück. Er schüttelt den Kopf. Bin ich kalt. Sind wir kalt. Bin ich Rassist. Sind wir Rassisten. Bin ich ein Monster. Sind wir Monster. Ich glaube: ja. Oder (Spekulation): das macht das blutrote Hemd.
Di 13.08.02 9:50 (13.08.1972 Stinson Beach)
Der Mann könnte aus Iran kommen, aus Irak, er könnte Kurde sein, wo immer er herkommt, antworten will er jedenfalls nicht, als ich frage, mijnheer, könnten Sie mir sagen, wo der Parktplatz des Hotels Meyer ist? Er schaut sich zwar um, geht dann aber weiter. Zu diesem Zeitpunkt weiß ich noch nicht, was für ein Haus das ist, in dem er verschwindet. Ich bin in Bergen an Zee, ich bin ein Tourist, also wird er auch einer sein. Die mit rotem Backstein gepflasterte schmale Straße durch die Dünen führt direkt zum Parkplatz. Ich parke unser Auto und mache mich auf den Rückweg. Ich will schwimmen. Ich freue mich auf das Schwimmen im Meer. Gleich. Das Haus, in dem der Mann verschwunden ist, ist ein Appartementhaus. Seltsam, dass die Balkone keine Brüstungen haben. Als wir am frühen Abend auf dem Weg nach Egmond auf Rädern wieder daran vorbei kommen, sitzt in einem der Zimmer ein schwarzhaariger Mann, dem von einer schwarzhaarigen Frau die Haare geschnitten werden. Im Garten spielen schwarzhaarige Kinder. Langsam wird uns klar, was das ist. Wen man da in einem heruntergekommenen Appartmenthaus untergebracht hat. Das sind keine Touristen. Das sind Flüchtlinge. Hier angekommen dürfen sie zuschauen. Dürfen sich schämen, können froh sein und trauern, müssen warten und warten und sind lange Zeit gar nichts mehr.
12:09
Als wir beim Ägypter in Egmond sitzen und das Essen genießen, frage ich mich, welche Geschichte wohl hinter diesem kleinen Restaurant steckt. Wie hat es den Besitzer hierher verschlagen? Was hat ihn getrieben, seine Heimat zu verlassen? Welche Mühen hat er auf sich genommen? Welche Hürden hat er nehmen müssen, unermessliche Hürden, geboren mit arabischen Schriftzeichen, plötzlich in Holland. Der Wunsch: selbständig werden. Ich bewundere Menschen, die ihr Schicksal in die Hand nehmen. Gegen sie bin ich ein ängstliches Würstchen. Vor ihnen ziehe ich meinen Hut.
13:14
Beim Besuch der Ausstellung "Die surrealistische Revolution" in Düsseldorf dachte ich, dass es Spaß machen müsste, sinnfreies Sprechen auszuprobieren. Nicht, dass das nicht längst versucht worden wäre, aber es reizte mich. Und so könnte es klingen:
Pallaksch un notrum / wölls rötbroch eim Snutt / wölls grossschnam petanki / wölls allmam pallutt / / drams sieben not vista / knakt oma zen britt / drams attack verschnammel / zen pallaksch arritt // noim öllop / ham ruckzing / wall schnanki öl bru / kann laldam nak madlal / u beckzlan walldu // hal jokam drei katta / jo kattam drei zo / eknazi wokambam / ronandam o lo //
13:35
Bin Ich eine Ich-AG? - Und angenommen, ich wäre eine, was wäre ich? Hätte ich Aktien auf den Markt gebracht. Könnte jeder mich kaufen? Wütete der globale Angebots- und Nachfrage Markt mit mir? Müsste ich also auf alles gefasst sein? Könnte jeder skrupellose, raffgierige Spekulant auf mich setzen, mich hoch puschen und fallen lassen? Ja. Ich glaube, ich bin eine ICH-AG. Kaufen Sie mich. Kaufen Sie, so lange ich noch bezahlbar bin. Lang wird das nicht mehr so sein. Die Spekulanten haben schon ihre Messer gewetzt.
16:43
Die ungleich schwierigere Variante des sinnfreien Sprechens ohne Vokale:
Pllksch n ntrm / wlls rtbrch m Sntt / wlls grssschnm ptnk / wlls llmm plltt / / drms sbn nt vst / knkt m zn brtt / drms ttck vrschnmml / zn pllksch rrtt // nm llp / hm rckzng / wll schnnk l br / knn lldm nk mdll / bckzln wlld // hl jkm dr ktt / j kttm dr z / knz wkmbm / rnndm l //
Ich bitte, das bis morgen auswendig zu lernen und mir vorzusprechen.
Mi 14.08.02 11:03 (14.08.1972 San Franzisco)
Liebe Verwerter meiner Kunst, liebes Radio,
natürlich erkenne ich ohne Neid an, dass ihr alles besser wisst. Schließlich habt ihr Germanistik, Theaterwissenschaften oder Dramaturgie studiert und so einen Posten erobert, der Euch bevollmächtigt, den Daumen über dieses und jenes zu heben oder zu senken. Ich aber, Würstchen von Euren Gnaden, kann nichts als Hirngespinste spinnen und Euch zu Füßen legen. Daher untertänigst und noch einmal Dank, dass ihr mir wertvolle Arbeitszeit gewidmet habt. Dank auch dir o Trainer für Deine große Güte, meine nichtswürdige Arbeit mit kritischer Distanz in den Mülleimer der Geschichte zu werfen. Schließlich leidet man gern.
PS.: by the way, morgen werde ich nach Tokio fliegen und ihr bleibt hier, bätsch....
16:33
Morgens um vier entlarvt sich die städtische Welt. Aller Konsumenten entvölkert liegt sie da wie zum Abriss bereit. Ampel blinken sinnlos. Verkehrszeichen stellen dumme Fragen oder gebieten vor schlafendem Haus. Straßen führen hierhin und dorthin, aber niemand will reisen. Nur einer geht da, H. Er hat mit W. gezecht. Sie haben Chodziez, den Jazz-Workshop und die Polen gefeiert. W. war auf H.'s Rat dorthin gefahren. Wie die Polen haben W. und H. Wodka getrunken. Fast eine Flasche. Wie die Polen erlitten sie vorübergehende Sinnestrübungen, um Mitternacht etwa. Als sie zur weiteren Verblödung darauf noch dreistöckige Joints rauchten, musste sich H. in die stabile Rückenlage begeben. Ein bequemes Sofa erleichterte das. Eigentlich hätte er nun friedlich einschlafen können, aber gegen vier wurde das Heimweh zu groß. H. erprobte das aufrechte Stehen der Primaten. Und siehe da, es gelang. So in seiner Existenz bestätigt machte sich H. auf den Weg durch eine schwüle Nacht. Ein sternenübersäter Himmel. Drei Sternschnuppen im Südosten. Ein langer Gang. Danach tiefer Schlaf.
20:50
Längst ist H. wieder im Bereich der Norm. Sitzt und verdaut still, schaut in die Welt, die hier trocken und schwül ist, dort aber überflutet und feucht, hört Stimmen von oben und panisches Kleinkindgeschrei von gegenüber, freut sich, dass aus Friesland Karatetruppen auf Köln stürmen, um die dort ansässige Redaktion eines Rundfunksenders mit Handkantenschlägen zu beschämen, denkt dankbar an all das Kleinholz, dass diese geübten Kämpfer dort hinterlassen werden und an das Flehen und Bitten der Redakteure, aber dafür ist es längst zu spät, die Kämpfer sind auf dem Wege und nicht mehr zu stoppen. So in seine Hirngespinste verstrickt darf sich die Welt weiter drehen. H. wird nicht verzweifeln. H. wird nicht die Nerven verlieren. H. wird tun, was er immer tut: schreiben.
Do 15.08.02 8:51 (15.08.1972 Tokio)
Splitterndes Holz, gebrochene Nasen, röchelnde Redakteure: Gut so! Aber war das nicht doch ein bisschen zu brutal, ha, ha, haaaa!!!
9:51
Hach wie irre war das damals alles gewesen irgendwie....
11:47
Unsere Portion sinnfreies Sprechen gib uns heute...
dronschro wall junkanam / enkhurra morg / pasch temba dortonök / vakhakkan borg / / vakhakkan pratt temb pasch / kallam vezzitt / vakhakkarr zlöm han klatt / zlattarrack kitt //
Fr 16.08.02 9:58 (16.08.1972 Tokio)
ie ich di verfic eineprieser has, di in ren edaktion ocken, ni au ur ein Text zuend bracht hab und wen, ängst jamnd rum stand und ich icht entschlie onnten. Wie ich sie vrachte, die Beswisr, die ottverflten ichser, die atemlo rennend ogram-acher, die an alls dnkn müss, wie ich sie bedauere, ch, er ch vierundzwan und Zeit habe, dieses zu tun oder jenes.
11:48
Gefragt, wie er dazu gekommen sei, Hals über Kopf nach Tokio zu fliegen, antwortete er, dass sich das Anheuern auf einen Frachter von San Franzisco nach Australien in letzter Sekunde durch Einspruch der amerikanischen Gewerkschaften zerschlagen habe, darum. Auf dem Heimweg habe er im Schaufenster eines Reisebüros dann diesen Flug zu einem erschwinglichen Preis gesehen und sich auf der Stelle entschlossen, zu buchen. Stunden später habe er schon im Flugzeug gesessen und sei losgeflogen, ohne auch nur einen weiteren Gedanken darüber zu verschwenden, wie es weitergehen solle. Als das Flugzeug beim Landeanflug auf Anchorage über den linken Flügel wegsackte und erst nach drei, vier, fünf Sekunden wieder kontrolliert flog, hätten sich erste Bedenken gemeldet, aber die seien vergangen. - Und die Tage vorher? Die Reisen in die Hauptstadt, nach Hamburg, nach Düsseldorf, die kleine Reise ans Meer? - Nun, das war auch nicht geplant. Wir versuchen nämlich, auf das Leben zu reagieren und nicht, es zu gestalten. Das ist manchmal aufregend, manchmal entnervend, auch Langeweile kommt vor. Eines aber kommt in keinem Fall vor. Was? - Das weiß ich nicht. - Aber wie können Sie dann so etwas sagen? - Das weiß ich auch nicht.
16:56
Könnte man also behaupten, Sie wissen, dass Sie nichts wissen. M. (gähnend) Ja. Das könnte man. (Pause) Übrigens: Neuerdings bilden sich auch an meinem linken Bein Krampfadern. (Pause ) Immerhin keine Leichenflecken!!! (Gelächter)
Sa 17.08.02 13.27 (17.08.1972 Tokio)
Keinesfalls hat man das gewollt. Nie und nimmer hatte man daran gedacht, aber man ist in die evolutionäre Falle getappt und muss diese Rolle nun bis zum Ende spielen, eine Rolle, die man nie hatte spielen wollen. Hatte man selbst doch die Rolle Sohn gerade erst hinter sich. Nun ist man selbst Vater/Mutter und die eigenen Söhne/Töchter wetzen ihre Schwerter. War Vater ein begnadeter Fußballer, tut ein Sohn gut daran, Fußball zur ungeliebtesten Sportart zu erklären, es sei denn, er will vor den Augen des Vaters unbedingt scheitern. Nicht, dass der Vater es darauf anlegte, seinen Sohn scheitern zu sehen, nein, im Gegenteil, Väter wollen immer das Beste für ihre Kinder resp. Söhne, aber das uralte Modell der gleichgeschlechtlichen Eltern/Kind/Tragödien findet immer einen Anlass, sich auszutoben. Egal, ob Eltern liberal, autoritär oder sonst etwas sind, ständig und überall senden sie ihre nonverbalen Signale, und jeder, der in diesem Familien-Teich schwimmt, versteht, noch eh er einen Raum betreten hat. Es gibt also kein Entrinnen aus diesen Familienfallen, größtes Scheitern und triumphale Siege liegen dicht beieinander. Die Deppen sind - das wusste man schon, als man selbst noch Sohn war - die Eltern. Und nun ist man selbst Eltern und wundert sich, wie es so weit hat kommen können. Man liebt seine Kinder. Man tut alles für sie. Alle Gemeinplätze dieser Welt treffen auf Eltern zu, auch dieser: wie man es macht, ist es verkehrt. Deshalb sind Abende des Vergessens so angenehm.
So 18.08.02 10:50 (18.08.1972 Tokushima)
Seit gut drei Wochen greifen sie an. Immer nachts. All die Jahre vorher haben sie mich links liegen lassen. Ist mein Blut schmackhafter als früher? - Ihre Spuren am Morgen: auf dem Rücken, auf den Oberschenkeln, an den Beinen. Sie saugen mich aus.
20:01
Melde Titelschutz für: "Deutscher Kinderbuchautor (Gruselbegabung) bei lebendigem Leibe von Insekten gefressen"
Biete: gleichnamige Geschichte gegen Höchstgebot. Angebote unter Kontakt:
Mo 19.08.02 8:39 (19.08.1972 Matsuyama)
flashback: ich habe geschludert. aus meinen aufzeichnungen geht nicht eindeutig hervor, wann ich tokio verließ. wahrscheinlich am 18. august 1972. ich fuhr per anhalter richtung yokohama. der fahrer meines wagens vermittelte mich an einer raststätte an den fahrer eines anderen wagens. wo ich dann aber die nacht verbrachte, weiß ich nicht mehr. möglicherweise in yokohama. sicher hingegen weiß ich, dass der fahrer des wagens, der mich mitgenommen hatte, abends mit mir in eine bar ging, die snack pepe hieß. in dieser bar arbeiteten drei, vier junge japanerinnen. ich war auf der stelle mittelpunkt aller gespräche. eine meiner tagebuchseiten ist voller herzen und japanischer schriftzeichen. ich habe nie herausgefunden, was sie bedeuten. seltsam ist, dass man mir an diesem abend ein weißes oberhemd schenkte. den folgenden tag kann ich rekonstruieren. ein lkw-fahrer nahm mich mit auf die insel shikoku. wir werden von yokohama übergesetzt haben. der fahrer bot mir nachtquartier. spät abends gingen wir in ein japanisches badehaus. das wasser in den entspannungsbecken war so heiß, dass ich mich kaum hineingleiten lassen konnte. am nächsten morgen wurde ich gegen fünf uhr geweckt. es war sonntag und ich konnte mir nicht vorstellen, was man um diese zeit tun könnte. wir fuhren in eine bowlinghalle. sie hatte vierzig bahnen und jede war belegt. gegen neun uhr morgen trampte ich weiter. ich glaube, nach matsuyma.
10:33
Schweiß treibt das Leben.
13:14
Unsere Portion sinnfreies Sprechen gib uns heute...
Ein Arbeitsloser kommt ins Job-Center, trifft am Front-Desk auf den Case Manager, der auf Grundlage eines Tiefenprofilings mit Unterstützung des Back Office ein Vermittlungsangebot an die PSA macht.
21:10
dämliches aus dem hause mensing:
geht der hodenbär auf reisen / steckt er sich kondome ein / will der eisbär damen speisen / müssen's süße sein / / geht der dachs nachts auf die rolle / stinkt er vorsichtshalber sehr / und der fischotter der olle / hat ein haus am meer / / mancher herr liebt derbe flüche / furzt froh kreuz und in die quer / jedoch liebt er die gerüche / anderer nicht sehr / /
Di 20.08.02 8:15 (20.08.1978 Matsuyama)
Jeder Tag ist der Sinn des Lebens.
9:14
Droht nach der kosmologischen Kränkung durch die kopernikanische Wende und der biologischen Kränkung durch die Darwinsche Evolutionstheorie jetzt eine weitere Erschütterung unseres Selbstbewusstseins? (...) Die wundersame Erfahrung, dass wir uns als eigenständiges Subjekt empfinden, das wie durch ein inneres Auge auf sich selbst und die Welt blickt, nennt der Mainzer Neurophilosoph Thomas Metzinger einen "Zaubertrick" der Natur. (...) M. sagt: "Die Illusion der Unabhängigkeit beruht darauf, dass mir die Gehirnprozesse verborgen bleiben, die in Wahrheit mein Erleben aufbauen und mein Handeln verursachen. Wir verwechseln uns nur mit diesem Ich. Wir glauben fälschlich, wir seien der Inhalt dieses Selbstmodells. Werden wir nicht errechnet, gäbe es uns nicht. Ich denke nicht, sondern werde vom Gehirn gedacht." (FR 20.08.02 "Zwei Augen der Erkenntnis v. B. Reinartz)
13:41
Das Insekt ist identifiziert. Heute früh fiel es mir wie Schuppen von den Augen: die Bettwanze!!! Auch Tapetenflunder genannt, in diesen Breiten seit dem 17. Jahrhundert wohnhaft. Sie pflegt widerwärtige Fortpflanzungsrituale, über die ich nicht sprechen will, dem Interessierten aber in jedem Nachschlagewerk beschrieben werden. Ba. Rief sofort das Gesundheitsamt. Eine sicher schon alte Frau sagte, sie verbinde mich mit dem Gesundheitsaufseher und schickte mich in eine Warteschleife. Kein Schleifenschnickschnack hier, pures: bitte warten bitte warten. Der Gesundheitsaufseher verwies mich an professionelle Schädlingsbekämpfer. Eh ich aber die Insektizidkeule schwinge bzw. schwingen lasse, beschloss ich, zunächst jeden Winkel ums Bett zu saugen und wieder zu saugen und wieder, wie letzte Woche schon. Habe während dieser mehrere Stunden dauernden Zeremonie nicht eine Flunder gesehen, meine mich aber zu erinnern, gestern eine mit der Toilettenspülung beseitigt zu haben. Sie sind nicht mikroskopisch klein, sondern 5-8 mm groß. Man kann sie also bekämpfen. Und ich werde sie bekämpfen. Jede. Also hütet euch, ihr Bettwanzen. Ich erinnere mich an euch. In Südamerika wohntet ihr in jedem Bett. In Indien im Geflecht von Korbstühlen. Seid gewarnt. Ich kenne keine Gnade. Und eure widerwärtigen Fickereien lasst gefälligst.
14:43
Seit über zwanzig Jahren furze ich in dieses Bett. Nie hat es jemanden gereizt, sich dort oder in seiner Nähe anzusiedeln, und jetzt so etwas! Ich bin erschüttert.
15:11
Nun gut, Sie haben es so gewollt ....
Bettwanze, gemeine: Sie vermehrt sich durch »traumatische Kopulation« (Adrian Forsyth). Konkret: Das Männchen benutzt seinen großen spitzen Penis wie eine Lanze und rammt ihn irgendwo in den Leib des Weibchens. Die Samenzellen wandern in ihr Blut und werden dort aufbewahrt, bis das Weibchen, durch menschliches Blut gestärkt, das nächste Mal Eier produziert. Einen Teil des Ejakulats nutzt sie als Nahrung und verdaut es.
Die brutalen Bettwanzen-Männchen machen vor ihren Geschlechtsgenossen nicht halt und injizieren auch diesen ihr Sperma. Dort wandert es in die Samenleiter des Opfers. Wenn dieses wiederum das nächste Weibchen vergewaltigt, gibt es den Samen seines Peinigers und Konkurrenten weiter. Den britischen Insektologen Howard Evans packte angesichts solcher Sitten die Abscheu: »Bei der Vorstellung von einer Schar Bettwanzen, die sich auf diese Weise vergnügen, während sie auf die nächste Blutmahlzeit warten - nämlich unabhängig vom Geschlecht und beliebig herumkopulierend und sich mit ihrem Sperma gegenseitig Nährstoffspritzen verpassend -, kommt einem Sodom vor wie der reinste Vatikan« -17:19
Meine Ärztin diagnostiziert Mückenstiche. - Dass ich nicht lache. Ich werde ausgesaugt und sie spricht von Mücken.
19:34
Schlage "Unwetterwarnung" als Wort des Jahres vor.
Mi 21.08.02 7:56 (21.08.1972 Matsuyama)Das Wasser auf dem Deich zwischen Stadtparkteich und Umflut stand eine Hand breit unter der Krone. Jeder der konnte, sah sich das an und diskutierte es mit anderen. Heute Abend noch, meinte alle. Vielleicht schon am späten Nachmittag. Es kam am nächsten Morgen. Zuerst lief der Stadtpark voll, aber das war nicht schlimm, er lag wie eine Wanne zwischen Parkstraße und Eper Straße und verhinderte Schlimmeres. Aber dann eroberte sich das Wasser die Stadt. Neustraße, Bahnhofstraße, Eperstraße, Gildehauser Straße, Bentheimer Straße, die Fabriken, alles stand hüfthoch unter Wasser. Da Sommer war, schaffte ich es bis zur Kirche. Mir war unheimlich. Ich erkannte das alles nicht wieder. Diese kleine Dinkel, dieses Flüsschen, das plötzlich einen See bildete, der vom Esch bis weiter hinter die Bentheimer Straße reichte. Schon einmal hätten sie das erlebt, sagte meine Mutter. Damals, im Krieg. Da wäre es noch schlimmer gewesen. (Dinkelhochwasser, Gronau/Westfalen 1957)
13:27
Wasch mich Küche. Regne. Wolke. Schwitz mich. Treib Haus. Donner doch. Steh. Bis zum Bauch im. Wasser. Du. Steh doch. Bis zum Himmel. Greif fest zu. Regen. König. Donner. Gott. Vergiss nichts. Flute.
15:40
Sinnfreies Sprechen das da oben?
Do 22.08.02 9:52 (22.08.1972 Matsuyama)
Lieb / e Freunde de // s / si / nnfr/ eien Sp/ rechen/ s // bei / stille / m Re / gen schrei / tet das / scho / noft beschw /o / rene Verblö / den fort //
13:27
Im Glücksrad war ein deutsches Sprichwort gesucht. Auf der Buchstabentafel stand "DER ZWE.. .EI.IGT DI. .ITT.L" Ein Kandidat, aus Berlin stammend, sagte: "Ick löse uff! Det Sprichwort heeßt: Der Zwerg reinigt die Kittel." (FR 22.08.02)
Fr 23.08.02 9:17 (23.08.1972 Beppu)
Im Westen nichts Neues.
10:51
Doch. Lebkuchen und Weihnachtsgebäck im Supermarkt.
13:07
Doch gegen die Juden zog es herauf, schwere, atemschnürende, lehmfarbene Wolken. Geduckt in ihre Winkel krochen die Verängstigten, stierten auf das gestaltlos Nahende. Ai! Ai! Immer wenn einer von ihnen gepackt wurde um so tückisch dumme Beschuldigung, wurden gemetzelt Tausende, verbrannt, gehängt Tausende, hin und her gehetzt über die Erde Zehntausende. Vergraust hockten sie in ihren Winkeln, es legte sich um sie eine Stille, entsetzlich mordschwanger, unausweichlich, mit keinem Namen zu nennen, nicht zu tasten, als wiche die Luft aus ihren Straßen, dass sie vergebens um Atem japsten. Das Furchtbarste war die erste Woche. Dies Warten, dies schreckhafte, gelähmte Hocken und Nichtwissen: wer, wo, wie. Die Angesehensten liefen zu den Behörden. Sonst, wenn man sie brauchte, wurden sie umschmeichelt; jetzt wurden sie nicht vorgelassen. Dies Achselzucken in den Vorzimmern, diese Augen- und Herzensweide an ihrer Angst, dieser lauersame Hohn, dies Preisgeben, dieses Handzurückziehen von den Schutzlosen. Ai! diese Behörden, die sich das teure Geld zahlen lassen für ihre Schutzbriefe und keine Zeit haben für die Fährnis und hohe Not ihrer Juden. Ai! diese zwei kahlen und lässigen Stadtsoldaten am Tor des Ghettos, wie sollen die schützen vor einer Horde von tausend Räubern und Mördern! Ai! man sieht deutlich, wie die Ämter und Ratsherren die Augen und die Ohren zumachen und die Hände auf den Rücken legen, dass das Gesindel ungehindert kann herfallen über die Wehrlosen! Ai die grausige Not! Soll helfen der allgewaltige Gott, gelobt sein Name! Ai du armes Israel! Ai die schutzlosen, zerrissenen Zelte Jaakobs!
Schwarzgeflügelt, geierschnäbelig, herzlähmend flog die Nachricht durch alle jüdischen Gemeinden, von Polen bis ins Elsaß, von Mantua bis Amsterdam. Sitzt einer gefangen im
Schwäbischen, in Eßlingen, der bösen Stadt, Brutstätte der Bosheit und Niedertracht. Sagen die Gojim, er habe geschlachtet eines von ihren Kindern. Rüstet sich Edom, will herfallen über uns, heute, morgen, wer weiß. Höre Israel! (1)15:04
Schraubte mir söben einen Dreiklang als Flatulenzverschleierer ins Arschloch. Klinge nun: tatü tataaa.
Sa 24.08.02 11:36 (24.08.1972 Seifu)***
Schwarze Johannisbeeren wuchsen in Lingemanns Garten. Lingemanns Garten lag unserem Haus gegenüber. Die roten aber, die ich heute früh aß, mit Zucker bestreut und mit Milch übergossen, wuchsen in Matschkes Schrebergarten. Der lag weit hinter der Dortmunder Bahn, fast in Büschamberge, dorthin kam ich nicht alle Tage. Wenn Matschkes ein Gartenfest feierten vielleicht, oder wenn mein Vater und ich auf dem Rad unterwegs waren. So, wie ich sie heute früh aß, aß ich sie auch als Kind, und danach lange nicht mehr.
*** Seifu ist eine Stadt auf der Insel Kyushu. Matsuyama und Tokoshima sind Städte auf Shikoku.
16:26
Während Regen steppt und Gewitter droht, korrigiere ich mich: auch in Lingemanns Garten muss es rote Johannisbeeren gegeben haben. Wenngleich ich mich nur an schwarze erinnere. Aber was heißt das schon! Es gab auch Kokosnüsse und Papayas. Würgeschlangen fielen vom Baum und wenn die Nachbarn beisammen saßen, kam es vor, dass einer von Bären geschlagen davon geschleift wurde. Glücklichweise hat man den Garten später eingeebnet. Jetzt gibt es dort keine Papayas mehr. Nur Beeren, die gibt es noch. Und Cannabis im Straßenbegleitgrün des Wendehammers, da, wo früher das Gartenhaus stand. Als ich es Tage später ernten wollte, hatte die Stadtverwaltung es gerodet.
So 25.08.02 8:31 (25.08.1972 Kagoshima)
Straßen so und so viele, dazu: gehörige Gesichter, tagein tagaus. Sehe ich sie und sie sehen mich, ich mache mir meine, sie machen sich ihre Gedanken. Vertraute, enge Vertraute kaum der Rede wert. Falls Heimat, ist sie umbauter Raum in definierter Umgebung. Hier ist alles bekannt. Alles kann auswendig hergesagt werden und jede Überraschung hat sich Jahre vorher angekündigt, nur hat es niemand gemerkt. Dann noch der Himmel, mein Liebling. Er überrascht mich, wenn ich überrascht werden will. Und dann noch die Lieben. Und dann noch die falschen Fragen. So viele sind bisher gestellt. Erstaunlicherweise sind sehr oft richtige Antworten dabei herausgekommen. Und zu guter Letzt: ich. Das, wie wir nun wissen, eingebildete Ich, das geträumte, das an Tagen wie diesen erstaunt und sich freut und sich grämt. Sonntag. Noch eh Menschen aus ihren Häusern kommen, sind Katzen da. Sitzen in Rinnsteinen und schauen mich an. Guten Morgen. Und gleich erster Kaffee. Und gleich erste Worte. Und gleich weiter lesen. Weiter leben. Der bekannten Welt nichts Neues abringen und dennoch: erstaunt sein. Und wenn genug Kraft ist, kann das genossen werden. Sonst eher nicht. Guten Morgen eingebildeter Tag. Mit einem Schlag ist alles auf ewig dunkel. Und dann?
21:58
Lieber Gott, mach, das Edmund Stoiber der Schlag trifft. Das reicht schon.
Mo 26.08.02 7:43 (26.08.1972 Kirishima)
M. tritt gern als Wasch- oder Spülmaschine auf, während seine Söhne beschäftigt sind. M. steckt gern zurück. Ja. M. ist glücklich, dass man ihn nie ins Vertrauen zieht.
8:46
Ich hingegen bin Mittelpunkt allen Vertrauens. Mir wird geholfen. Mein Leben ist gut. Ich stehe in bestem Einverständnis mit den universalen Prinzipien des Ping, Pang und Pong. Meine Säfte sind noch nicht vergiftet von Machtwahn und Geiz, im Gegenteil, meine Erektionen ziehen sich über Tage hin. M. hingegen weiß oft nicht, wo ihm der Kopf steht. Armer M.
10:50
Zu allem Überfluss treibt M. auch "der Durst nach Leben, nach Persönlichkeit, der Wille zum Tun, zur Lust, zur Macht. Raffen, an sich reißen, Wissen, Lust, Besitz, mehr Lust mehr Besitz, leben, kämpfen." (2) Ich hingegen weiß: "schlafen ist besser als wachen, tot sein besser als lebendig sein. Nicht widerstreben, einströmen ins Nichts, nicht tun, verzichten." (3) Ping Pang Pong.
Di 27.08.02 11:08 (27.08.1978 Hondo)
Leben wie in der Waschküche. Man gewöhnt sich an Kiemenatmung. Aber der Kopf wird nicht frei und die Seele wünscht sich den klaren Herbst oder den eindeutigen, späten Sommer. Abends zwingt sie ihren Gastgeber aufs Rad, um die Fremdheit der Stadtviertel zu kosten. Er folgt gehorsam und genießt das bisschen Staunen, das gleich um die Ecke beginnt. Sieht Menschen vor Cafés und traut sich nicht hinein. Sie würden sehen, dass er in diesem Zustand nicht zu ihnen gehört. Sie können das riechen. Sie schnappen dann. Wir sind Rassisten in jeder Beziehung. Das ist unsere Natur. Gegenteilige Beteuerungen sind Lüge und dienen nur dem Schutz des Gewissens.
15:36
Da aber der Herr sah, dass der Menschen Bosheit groß war auf Erden, und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar, da reute es ihn, dass er die Menschen gemacht hatte auf Erden, und es bekümmerte ihn in seinem Herzen, und sprach: Ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, vertilgen von der Erde, vom Menschen an bis auf das Vieh und bis auf das Gewürm und bis auf die Vögel unter dem Himmel; denn es reuet mich, dass ich sie gemacht habe. (Mose 6.5-7)
Mi 28.08.02 9:44
5120 Leser. Zwei Jahre im Netz. Den Fortgang der Reise finden Sie hier.
Do 29.08.02 10:29
Aus dem Reich der allein selig machenden Wahrheiten erhielt ich auf Bitte mein abgelehntes "Sackgasse 13" Hörspielmanuskript zurück. Offenbar hatte man die ersten zehn Seiten gelesen, ja, man war dem Text sogar mit Bleistift auf die Pelle gerückt und zu überraschenden Erkenntnissen gelangt. An einer Stelle des Texte heißt es etwa "aber ein Wiesel hätte den Draht doch nicht durchbeißen müssen...." Durchbeißen hatte man gestrichen und durch "durchfressen" ersetzt. Nun muss man wissen, dass ein Wesen, dass sich durch etwas hindurch frisst, um wo auch immer hinein zu gelangen, gewillt sein muss, das Gefressene auch zu verdauen. In dem geschilderten Fall aber handelt es sich um Blumendraht, der ist a: nicht durchzufressen und b: noch schwerer zu verdauen. Hätte man mir "durchnagen" vorgeschlagen, ich hätte mit mir verhandeln lassen, aber niemand hat das Gespräch gesucht, und über Dummheiten wie "durchfressen" will ich nicht verhandeln. So bleibt die Erkenntnis, dass einem nichts bleibt, als auf die hohe Fluktuation der Mitarbeiter in Redaktionen zu hoffen. Angenommen hingegen ist der Einwand, über die inneren Monologe des Jungen nachzudenken. Daran wäre zu arbeiten. Das wäre in kurzer Zeit getan. Aber niemand will das. Wozu also.
17:41
Zita ist Zwergschnauzer. Wenn er will, rollt er sich um die eigene Achse, springt Frauchen auf den Arm oder gibt Fremden Pfötchen. Seit kurzem besitzt er etwas, das die Form einer in der Mitte durchgeschnittenen Heißwurst hat. Es ist fleischfarben und an der Schnittstelle rosa. Man muss es wegwerfen, damit Zita hinterher jagen kann, um es zu stellen und tot zu beißen. Die Heißwurst quiekt wie ein Quietscheentchen. Dieses Geräusch bringt Zita völlig außer Rand und Band. Wieder und wieder beißt er zu, schleudert die Beute hin und her, tötet sie. Nimmt man das Spielzeug, um es fort zu werfen, ist die erste Assoziation peinlich. Man denkt sofort das Falsche. Man stellt sich Fabriken vor, in denen so etwas hergestellt wird. Man drückt darauf und es quietscht. Angeekelt wirft man es fort.
18:14
Vergessen Sie nicht, die Galerie zu besuchen.
Fr 30.08.02 11:02
Variationen auf Wahlpropaganda nach den Prinzipien der Einsilbigkeit und des sinnfreien Sprechens. Heute: Klarheit, Mut, Möllemann...
Klutöll klutann armu klarlem
Klarlem öllut möman heitlem
Kla ut kla klut ann öl arhei
Heim mö mömu lema mö hei
Mö mann mö mu rhe tmu öl it
Klar he kla mu kla mö kla it
17:08
22:30
Gerade fiel mir auf, dass es Klartext, Mut, Möllemann heißt. Hier also die korrekte Variation nach oben genannten Prinzipien:
X t x ut ar ex oll em
Ar ölle ut an lema lar
Kla x kla ann lem ölle art
U t kl tex mu mö kl mu
Mö ma mö ma
L art e u mö ma n n
Te u m ö lar mu te mö
Variationen auf Wahlpropaganda nach den oben definierten Prinzipien. Heute: Zeit für Taten. Kandidat und Partei will ich nicht erwähnen
Eit ü eit ü
It ür ta ten
Ze at en tat a zei
Ei ü eit ür it ür tate
E ü tate e n ei
N ei eit ür zei fü tat it
Tat it ür ta zei ten
Zeit ten ü at eit ü eit a
Zeit a ten ür tü ta
19:12
Als wäre kein Atem da. Als hätte das Herz Auszeit und käme vielleicht nie zurück. Als wäre der Tag hinter Nebel. Trotzdem kann aufgestanden werden. Trotzdem gehorchen Beine und Atem ist doch da und die Auszeit war vielleicht eingebildet. Erwartet wird augenblicklich der Tod. Erwartet und wieder fortgeschickt. Mit froher Botschaft die Tür ihm gewiesen. Nein. Heute noch nicht.
_________________________________________________________
1. Lion Feuchtwanger "Jud Süss" Roman, Aufbau Verlag Berlin 1991 // 2. u. 3. ebda. //
(aktuell) - (download) - (galerie) - (in arbeit) - (notizen) - (start)
bb