Hermann Mensing
Sag mir, wo die Blumen sind
An einem Dezembertag 2024 betraten ein Mann und eine Frau de Boekhandel Perdu, ein auf internationale Lyrik spezialisierter Buchladen in Amsterdam. Sie stöberten, er lernte einen Dichter kennen, Peter Prins, sie tranken Kaffee und verstanden sich. Mein Mann ist Dichter, sagte die Frau, was den Mann immer verdrießlich macht, aber was blieb, als Prins eines seiner Gedichte vorzulesen. Prins machte ihm große Hoffnungen auf eine Lesung in dem prächtigen kleinen Theatersaal hinterm Laden und verkaufte ihm zwei seiner Gedichtbände. Der Mann träumte von den niederländischen Dichtern, die er kennenlernen würde, sein internationaler Durchbruch stand kurz bevor. Ruhm, wo bleibst du? Das waren schöne Träume, aber der Mann hörte nie mehr von Prins.
Im April 2025 fuhren der Mann und die Frau nach Amsterdam, um Anselm Kiefer zu sehen. Sag mir wo die Blumen sind hieß die im Stedelijk und Van Gogh Museum präsentierte Ausstellung. Kiefer hatte als Student ein Stipendium erhalten, das ihm erlaubte, van Goghs Lebensweg von früher Jugend in Groot Zundert nahe der belgischen Grenze bis in die Provence nachzuverfolgen. Das hat ihn nie mehr losgelassen.
Kiefer malt verwirrend verschlüsselte und überwältigend tiefe Bilder. Ob man von Malen sprechen kann, weiß der Mann nicht. Er weiß nur, dass er vieles nicht wissen will. Intellektuelle Betrachtungen über Kunst misstraut er. Kiefer (der Intellektuelle? Nein, glaubt er Mann nicht) arbeitet mit allem, was ihm unterkommt, Blei, Stroh, Sonnenblumenkerne, Pech, Farbe, Schwefel, wenn's muss mit Himmel und Hölle. Und noch etwas unterscheidet ihn von allem, was der Mann bisher gesehen hat. Das Germanische, die Niebelungensage, die Edda und die Mystik der Kabala ziehen sich wie ein goldener Faden durch dein Werk. Wer das, wie der Mann, der eigentlich gar nichts wissen will, nicht weiß, wenn er Kiefer zum ersten Mal begegnet, könnte ratlos werden falsche Schlüsse ziehen, wie viele, die seine Performance als junger Mann in der Wehrmachtsuniform seines Vaters mit Hitlergruß falsch verstanden. Kiefer sieht das erfreulich nüchtern. Für ihn ist alles, was der Fall war in diesem Land, das ja erst seit 1871 als Nation in Erscheinung trat, von größter Wichtigkeit. Anselm heißen. Anselm hat germanischen Ursprung. Anses (Gott) und Helm, einer also, der unter dem Helm Gottes Schutz findet?
Den ersten Anseln sah der Mann in der Bonner Kunsthalle, ein großes, bedrückend graues Bild, auf die Kiefer in einer Handschrift, die kindlich wirkt und schließen lässt, dass er nicht oft schreibt, Zettel mit Zitaten, Jahreszahlen, Kommentaren zur Deutschen Geschichte geklebt hat. Der Mann hatte die bleierne Bücherei gesehen, und wusste nicht, dass all das Blei, das Kiefer verarbeitet, vom Umbau des Kölner Doms stammt. Er hatte das bedrohlich reale, dennoch surreale Flugzeug bestaunt und sich gefragt, wie man auf so etwas kommt. Und dann dieses Bild. Kunst, sagt man, entsteht in den Augen des Betrachters. Der Mann konnte keine Kunst sehen. Eigentlich konnte er gar nichts sehen, er stand viel zu nah dran, erst beim Zurücktreten wurde das ganze Ausmaß dieser Arbeit ersichtlich, wären da nicht die Zettel, von deren Hintergrund der Mann nichts wusste. Anselm, dachte er. Wer heißt heute noch Anselm?
Im Van Gogh Museum hing die Hommage Kiefers an van Goghs Sternenhimmel Ich kann mir gut vorstellen wie dich das Bild beeindruckt hat. Ich finde die Spannung zwischen gammeligem Gestrüpp und Goldfarbe enorm, und dazu noch das Himmelblau! Toll! sagt ein Künstler, den der Mann schon ein Leben lang kennt. Beeindruckt ist ein zu schwaches Wort. Dem Mann ist etwas passiert, was ihm beim Betrachten eines Bildes noch nie passiert ist. Er hat geweint. Und dann hat er gelacht, und eine neben ihm hat voll Verständnis genickt und gesagt, das sei Kunst. Ist Kunst also, was einen weinen und lachen lässt?
Eines Abend im späten August meldete das Smartphone eine Mail. Der Mann öffnete sie. Seine Schwester hatte ihm einen Link zu Wim Wenders Film "Anselm - Das Rauschen der Zeit" geschickt. Der Mann, mitten in einem ihm aufgezwungenen Umzug aus einer Wohnung, in der vierzig Jahre gelebt hatte. Ringsum standen Kartons, Laufwege waren verbaut, noch eine Woche bis zum Tag X. Der Mann brauchte dringend Ablenkung und schaute sich den Film an. Als Kiefer mit dem Rad durch die Hallen von La Ribaute fährt, vorbei an haushohen Regalen voller Dinge, die er für seine Kunst gebrauchen könnte, dachte der Mann, oh Gott, wenn der mal umziehen muss. Das muss ich sehen, dachte er gleich darauf. Zwei Stunden später waren Hotel, Zugtickets, Eintrittskarten für La Ribaute und ein Mietauto gebucht. Sein Geburtstagsgeschenk für die Frau.
Am 16. September um 10:57, der Mann und die Frau sitzen im Intercity nach Köln, wird Alarm ausgelöst. Bahnpersonal bitte mit F-Gerät nach Wagen 5. quäkt es aus den Lautsprechern. Der Zug verlangsamt. F-Gerät? Leichte Unruhe im Abteil. Irgendein Trottel hat in der Toilette geraucht. Das wird ihn 200 Euro kosten, der Gegenwert von ca. 33 Päckchen Tabak. Das Hotel Au Saint Roche ruft an und fragt, ob man morgen Frühstück möchte. Qui, surement, sagt der Mann, der seit acht Wochen Französisch lernt, ohne dass die Reise nach Avignon Auslöser war, er hatte begonnen, weil es ihm Freude macht und irgendwie Sinn. Durch den Raucher hat er Zug sieben Minuten Verspätung. Zur Strafe hat man ihn hinter den Zug gebunden. Der Zugangscode für das Hotel ploppt aufs Smartphone. Die Verzögerung summiert sich auf 15 Minuten. Stau vorausfahrender Züge. Langsam versteht der Mann, wie simpel oft die Gründe für Verspätungen sind. Aber man hat einen komfortablen Umsteigepuffer, der allerdings, als sie Köln schließlich erreichen, auf 4 Minuten geschrumpft ist. Rennen treppab und treppauf, festzustellen, dass auch der Eurostar nach Paris Gare du Nord sich verspätet. Kann man hier rauchen? frage ich eine Schaffnerin. Nein, aber gehen Sie um die Ecke, ich seh das nicht, sagt sie.
In der Realschule hatte der Mann Französisch, flog aber aus dem Kurs, weil er Fräulein Determann, einer zwei Meter großen Frau, die gern Plisseeröcke trug und mit übereinander geschlagenen Beinen auf dem Pultrand saß, mit einem Handspiegel unter den Rock leuchtete. Der Handspiegel war von Elvis, der hinter dem Mann saß. Elvis kontrollierte damit seine Entetolle so häufig wie die Heutigen auf ihre Smartphones starren. Aus dieser Zeit fanden sich Restbestände Französisch in irgendeiner seiner Hirnregionen, und da er sie täglich mit Duo-Lingo füttert, war es recht einfach, vom Zugschaffner kurz vor Liege zu erfahren, dass man die Tickets für die Metro vom Gare du Nord zum Gare de Lyon in der Bar des Zuges kaufen kann. Der Gare du Nord, ein klassizistisches Gebäude der "grande nation" hat ein Oben, ein Unten, ein Zwischendrin, es gibt unüberschaubar viele Menschen, und Ticket Automaten, vor denen Schlangen meist der Sprache unkundiger Touristen stehen. Alle haben Anschlüsse, alle sind in Eile, die Stimmung ist nicht gut. Das blieb dem Mann und der Frau erspart. Die Frau, die eher zögerlich ist und der Sprache nicht mächtig, war dem Mann unruhig gefolgt, immer glaubte sie hierhin zu müssen oder dorthin. Der Mann hatte einen Security Mann nach dem Weg gefragt und alles verstanden. Der Mann hatte sich bedankt. Der Security Mann, ein Afro-Franzose, zeigte auf die blaue Häkelmütze des Mannes und fragte, ob er Muslim sei. Non, j'avais un chauve. Er lachte. Den Mann hatte ein Araber auch schon einmal gefragt, ob er Muslim sei, als er och als Fahrer einer Elektroutsche Touristen durch die Stadt fuhr und ihnen Geschichten erzählte.
Die DB Fahrgastinformation hatte mitgeteilt, dass der Transfer vom Gare du Nord zum Gare de Lyon 40 Minuten dauere. Klar, dachten sie, am anderen Ende der Stadt. Paris ist groß. Um so überraschter sahen sie nach Halt an der zweiten Station Gare de Lyon auf der Bahnhofswand. Mince. Nächste Station raus, Metro zurück. Da steht der TGV. Wir haben reservierte Plätze. Aber er duckt sich nicht wie ein sprungbereiter Tiger flach an den Boden, sondern hat doppelstöckige Wagen.