Hermann Mensing
Sag mir, wo die Blumen sind
Der Italiener hinter einer Glasscheibe des Coffeeshops wirkt wie ein Kartenverkäufer eines altmodischen Kinos. Er spricht nur Englisch. Er schaut Karl fragend an, als der um iets voor oude mannen bittet. Something for old men, sagt Karl. Der Italiener lacht. Si, sagt er, möglicherweise sagt er sogar zweimal Si, er ist jung, es hat ihn nach Amsterdam verschlagen, er lächelt und verkauft Karl trotzdem toxische niederländische Ware. Als Karl es bemerkt, ist vom Joint schon ein Viertel weg. Er legt ihn beiseite und bestellt einen Oude Genever. Es ist windig, Anfang Dezember, aber nicht kalt. Karl und Elzbieta haben nichts Besonderes vor. Sie wollten nur in die große Stadt. Amsterdam. Da sind sie regelmäßig seit 1967. Karls Achse ist stabil, aber er redet ein bisschen viel. Am Korveniersburgwal stoßen sie auf eine Buchhandlung. De Boekhandel Perdu. Im Schaufenster steht eine Anthologie friesischer Lyrik. Gerbrand Bakker ist einer der Autoren. Karl hat Boven is het still von Bakker gelesen, ein stocktrockener Friese, den er sehr mag. Lass mal reingehen, sagt er. Der Laden ist gut sortiert. Lyrik in vielen Sprachen. Karl kommt ins Gespräch mit dem Buchhändler, der sich als Dichter vorstellt, Peter Prins. Elzbieta sagt, Karl ist auch Dichter, was Karl hasst, er ist lieber incognito, aber Prins hat schon verstanden und bittet Karl, ein Gedicht vorzulesen. Karl hat über dreihundert. Er wählt ein kurzes. Prins ist begeistert, macht ihm Hoffnung auf eine Lesung in dem kleinen Theatersaal hinterm Laden und verkauft ihm zwei seiner Gedichtbände. Karl träumt von niederländischen Dichtern, die er kennenlernen wird. Das sind schöne Träume für einen Dezembertag, aber Karl hört nie mehr von Prins. Auf dem Leidseplein steht eine großés Plakatwand:
Sag mir wo die Blumen sind. Anselm Kiefer. März 2025
Im April fahren Karl und Elzbieta ins Stedelijk- und Van Gogh Museum. Sie haben Tickets mit Slot. 13:30. Den ersten Kiefer hat Karl in der Bonner Kunsthalle gesehen, ein großes, bedrückend graues Bild, auf das Kiefer Zetttel gekelbt hat, Zettel in einer Handschrift, die kindlich wirkt und schließen lässt, dass er nicht oft schreibt, Zettel mit Zitaten, Jahreszahlen, und Kommentaren zur Deutschen Geschichte. Karl hatte die die bleiernen Bücher gesehen, er hatte das bedrohlich reale, surreale Flugzeug bestaunt, nun stand er vor diesem Bild. Er konnte keine Kunst sehen. Eigentlich konnte er gar nichts sehen, er stand viel zu nah dran, erst beim Zurücktreten wurde das ganze Ausmaß dieser Arbeit ersichtlich. Über den Inhalt der Zettel wusste er nichts.
Kiefer gestaltet verwirrend verschlüsselte und überwältigend tiefe, dreidimensionale Flächen. Ob man von Malen sprechen kann, weiß Karl nicht. Kiefer arbeitet mit allem, was ihm unter die Finger kommt, Blei, Stroh, Sonnenblumenkerne, Gold, Pech, Farbe, Schwefel, wenn's sein muss Himmel und Hölle. Das Germanische, die Niebelungensage, die Edda und die Kabala ziehen sich wie ein roter Faden durch dein Werk. Wer Kiefer zum ersten Mal begegnet, könnte ratlos werden und falsche Schlüsse ziehen, wie viele, die seine Performance als junger Mann in der Wehrmachtsuniform seines Vaters mit Hitlergruß falsch verstanden. Für Kiefer ist alles, was der Fall war in diesem Land, das erst 1871 als Nation in Erscheinung trat, von größter Wichtigkeit. Sein Name ist germanischen Ursprung. Anses (Gott) und Helm, einer also, der unter dem Helm Gottes Schutz finde
Im Van Gogh Museum hängt Kiefers Hommage an van Goghs Sternenhimmel. Von nahem Stroh, tiefes Blau, Gold, riesig. Karl tritt ein paar Meter zurück und dann pasiert etwas, was ihm beim Betrachten eines Bildes noch nie passiert ist. Er weint. Dann lacht er, und einer neben schaut ihn voll Verständnis an, nickt und sagt, so sei Kunst. Karl weint wieder.
Ist Kunst also, was einen weinen und lachen lässt?
Eines abends im späten August schickt Karls Schwester ihm einen Link zu Wim Wenders Film "Anselm - Das Rauschen der Zeit" geschickt. Karl sitzt auf dem Sofa. Ringsum stehen Kartons, Laufwege sind verbaut, er fühlt sich elend. Noch eine Woche bis zum Tag X., ein ihm aufgezwungener Umzug wegen Verkauf und Sanierung der Wohnung, in der er seit vierzig Jahre lebt. Er braucht dringend Ablenkung und klickt ihn an. Als Kiefer mit dem Rad durch die Hallen von La Ribaute fährt, vorbei an haushohen Regalen voller Dinge, die er für seine Kunst gebrauchen könnte, denkt Karl, oh Gott, wenn der mal umziehen muss. Zwei Stunden später hat er Hotel, Zugtickets nach Avignon, Eintrittskarten für La Ribaute und ein Mietauto gebucht. Sein Geburtstagsgeschenk für Elzbieta.
Am 16. September um 10:57, Karl und Elzbieta sitzen im Intercity nach Köln, geht ein Alarm los. Bahnpersonal bitte mit F-Gerät nach Wagen 5 quäkt aus den Lautsprechern. Der Zug verlangsamt. F-Gerät? Leichte Unruhe im Abteil. Jemand hat in der Toilette geraucht. Erleichterung und Schadenfreude. Das wird einiges kosten. Das Hotel Au Saint Roche ruft an und fragt, ob man morgen Frühstück wolle. Qui, surement, sagt Karl. Durch den Raucher hat er Zug sieben Minuten Verspätung. Zur Strafe hat man ihn hinter den Zug gebunden. Der Zugangscode für das Hotel ploppt aufs Smartphone. Die Verzögerung summiert sich auf 15 Minuten. Stau vorausfahrender Züge. Langsam versteht Karl, wie simpel Gründe für Verspätungen sein können. Aber man hat einen komfortablen Umsteigepuffer, der allerdings, als sie Köln schließlich erreichen, auf 4 Minuten geschrumpft ist. Rennen treppab und treppauf, um festzustellen, dass auch der Eurostar nach Paris Gare du Nord sich verspätet. Kann man hier rauchen? fragt Karl eine Schaffnerin. Nein, aber gehen Sie um die Ecke, da seh ich das nicht.
Der Schreiner hat versprochen, dass die Küche fertig ist, wenn sie zurück kommen.
Karl war aus dem Französischkurs seiner Schule geflogen, weil er der Lehrerin, einer zwei Meter großen Frau, die gern Plisseeröcke trug und mit übereinander geschlagenen Beinen auf dem Pultrand saß, mit einem Handspiegel unter den Rock geleuchtet hatte. Der Handspiegel war von Elvis, der hinter ihm saß. Elvis kontrollierte seine Ententolle so häufig wie die Heutigen Smartphones. Seitdem hat Karl der Sprache wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Vor ein paar Monaten hatte er sich plötzlich entschlossen, Französisch zu lernen. Er fragt den Zugschaffner, ob sein Ticket nach Avignon auch für die Metro gilt. Nein, sagt er, aber Sie können das Ticket für die Metro vom Gare du Nord zum Gare de Lyon in der Bar des Zuges kaufen. kann. Der Gare du Nord, ein protziges klassizistisches Gebäude hat ein Oben, ein Unten, ein Zwischendrin. Überall Menschen aus allen in alle Richtungen. Vor den Ticket Automaten Schlangen der Sprache meist unkundiger Touristen. Sie haben Anschlüsse, ihre Nerven liegen blank. Das bleibt Karl und Elzbieta also erspart. Karl kennt die grobe Richtung. Elzbieta, eher zögerlich und der Sprache nicht mächtig, folgt ihm, glaubt aber ständig, hierhin zu müssen oder dorthin und will diskutieren. Karl fragt einen Security Mann, um sie zu beruhigen. Der Security Mann bestätigt, dass sie auf dem richtigen Weg sind. Karl bedankt sich. Der Security Mann, ein junger Afro-Franzose, zeigt auf Karls blaue Häkelmütze und fragt, ob er Muslim sei. Non, j'avais un chauve, sagt Karl. Der Security Mann lacht. Als Karl noch mit einer Elektrokutsche, ein Nachbau einer klassischen Linzer Kutsche des späten 19.Jahrhunderts, Touristen durch seine Heimatstadt fuhr und ihnen Stadtgeschichte erzählte, fragte ein Araber dasselbe.
Die Metro passiert Les Halles. Karl denkt an Richter, den er im Centre Pompidou gesehen hat. Als die Metro die nächste Station verlässt, sagt Elzbieta, da steht Gare de Lyon auf der Bahnhofswand. Kurze Panik. Notbremsung? Nein. Nächste Station raus, nächste Metro zurück, treppab, langer Gang, fragen, ah, qui, merci, da steht der TGV. Er ist beeindruckend lang und bis auf den letzten Platz besetzt. Sie haben reserviert. Er hat doppelstöckige Wagen. Sie sitzen oben. Karl ist enttäuscht, er hatte einen Zug erwartet, der sich wie ein sprungbereiter Tiger an den Bogen duckt. Aber dann nimmt er Fahrt auf. Paris fasert erstaunlich schnell aus ins weite Land, das auch Westfalen sein könnte, aber Isle de France heißt, Burgund bald darauf, weit, still, hügelig, Weideland, wenig Wald, kaum Höfe, kaum Dörfer. In der Provence, es wird Abend und das Abendrot lässt sich nicht lumpen, dunkle Schatten hoher Berge links und rechts am Horizont. In Avignon steigen sie in ein Taxi. Au Saint Roche, sagt Karl. Hotel et Jardin. Karl hat das Hotel wegen seines Gartens ausgesucht. Das Taxi hält. Die Rue Paul Merindol ist kurz und schummrig. Das Au St. Roche hat zwei Sterne. Die Spannung steigt.In Kaunas hatte Karl vor Jahren ein gewölbeartiges Appartment in einem Kloster gebucht, St. Getrudis, das er sehr ungewöhnlich fand, sich aber als feuchtes Kellerloch entpuppte und gar nicht zum Kloster gehörte, sondern nur nach dem Viertel benannt war. Neben der Tür des St. Roche ist ein Display. Karl tippt den Zugangscode ein. Die Tür geht nicht auf. Er versucht es nochmal. Wieder nicht. Elzbieta versucht es. Sie treten ein. Die Furcht, das Au St. Roche könne eine Absteige sein, verfliegt auf der Stelle. Es hat Stil. Möbel, Teppiche, Vorhänge, Treppenaufgänge, das Bett, der Schrank. Alles stimmt. Und ihr Zimmer im zweiten Stock zeigt zum Garten.
Kaum war der Vermieter ihres Appartement St. Gertrudis verschwunden, schworen sie, noch am gleichen Tag ein Hotel für den nächsten Tag zu suchen. Dieses Kellerloch war war feucht, muffig, die Bettwäsche war aus Kunstfaser, ein verdammtes Rattenloch. Unterwegs in der Stadt lernten sie Paul und seine Frau kennen. Paul hatte sie angesprochen, weil er gehört hatte, dass sie Deutsch sprachen und er die Sprache mochte. Als Paul erfuhr, dass die Frau Elisabeth heißt, sagte er, ahh, Elzbieta. Elschbieta! Elisabeth war vom Klang begeistert, und da Karl bisher kein Kosename für sie eingefallen war, nennt er sie seitdem Elzbieta.
Vom St. Roche, ein mittelalterliches Stadttor, wo in einer Nische zwei Schlafsäcke und zwei paar Schuhe lagen, ist es nicht weit zum Boulevard Raspail, eine Platanenallee, an dessen Ende das Leben beginnt, auf das sie gespannt sind. Südfranzösisches Leben. Es ist warm. Die Menschen sitzen draußen. Sie essen. Sie trinken. Karl und Elzbieta sind müde. Bis ins Zentrum schaffen sie es nicht mehr. Sie trinken und essen im O Collins, einem Irish Pub gleich an der Ecke. Savoir Vivre.
In der Nacht gibt es hässliche Worte. Karl hatte laut gegähnt, manchmal ist es eher ein Jaulen, ein Wolfsgeheul auf tiefer Seele. Kannstdas ma lassen, das nervt, hatte die Frau gesagt und er war drauf angesprungen und hatte Hässliches gesagt. Als sie gegen acht am Zimmerfenster mit Verschönerungsarbeiten beschäftigt ist, denkt er darüber nach, ihr einen Schubs zu geben. Der zu erwartende Ärger hält ihn zurück. Beim Frühstück entschuldigt er sich, stellt aber in Aussicht, was passieren wird, falls sie es nicht auch tut. Sie ringt mit sich. Sie ist Eiche, und pflegt einen verstörenden Stolz mit Hang zu Arroganz. Sein Heulen stört sie. Es macht das nur wegen mir, denkt sie, da kann er noch soviel reden. Schließlich sagt sie das entscheidende Wort. Gut, sagt Karl, nimmt seinen Kaffee, geht zur Gartenliege, filmt ein 10 Sekunden Reel, postet es und hat nach einer Stunde über fünfhundert Aufrufe. Gepostete Gedichte kommen höchstens auf zehn. Die Welt ist komisch. Das meiste versteht man nicht. Ringsum stehen Bäume und Sträucher. Karl braucht eine Viertelstunde, um herauszukriegen, wie sie heißen. Die Erkennungsapp will Blätter sehen und Rinde, eh sie Antworten preisgibt. Weisse Maulbeere, sagt sie. Vogelkirsche, Olive. Japanische Wollmispel, algerischer Efeu, cabbagge tree. Scheinzypresse, Kiwi, chinesische Kräutelmyrte. Esche. Ahorn. Lawson Scheinzypresse. Toll! sagt Elzbieta. Kriebelmücken schwirren herum. Elzbieta wird gestochen. Dich stechen sie nie, sagt sie. Wird Gründe haben, antwortet er. Sie geht hoch, lindernde Cremes suchen. Es ist mild. Provencialisches Wetter.
Sie sind wegen Anselm Kiefer gekommen, das ist ein gefragter Mann. Karl kann von Glück reden, noch zwei Tickets ergattert zu haben, freitags, 13:30, englische Führung. Anfangs hatte es geheißen, für diese Saison gäbe es gar keine mehr. Karl hatte schon alles gebucht und sah seine Felle davon schwimmen. Heute ist Mittwoch. Sie staunen, wie elegant sie in kaum mehr als zehn Stunden entspannt bis in die Provence gekommen sind. Er war noch nie in Südfrankreich. Heute werden sie sich Dinge anschauen, von denen sie nichts oder kaum etwas wissen. Architektur, sandsteinfarben, Friese, schmiedeeiserne Balkongländer, Place Lous le Cordonnel. Sie werden in Cafés sitzen, Geld ausgeben, über andere Leute tratschen, hierhin gehen und dorthin, meist entzückt. Sie folgen der Stadtmauer, überqueren die Rhone, trinken in einem Cafe bei einem Zeltplatz unter Platanen ein Bier und essen einen hervorragenden Cäsar Salat, eine amerikanische Erfindung übrigens, man mag es kaum glauben. Die Rhone flussauf gibt es eine kleine Fähre, mit der sie übersetzen. Drüben stellt Karl fest, dass er seine blaue Mütze am Anleger vergessen hat. Er will zurück, in einer Viertelstunde wäre das getan, aber Elzbieta versichert, dass sie ihm eine neue häkelt. Das wird acht Wochen dauern. Sur le pont lassen sie aus. 17 Euro soll das kosten, lächerlich, wenn man bedenkt, das es in Sichtweite zwei intakte Brücken gibt. Aber den Papstpalast schauen sie sich an. Pracht mit Unterdrückung, Blut und Tränen der Gläubigen erbaut. Avignon feiert das dreißigjährige Jubiläum seiner Ernennung zum Weltkulturerbe mit 260 Werken des französischen Künstlers Jean Michel Othoniel. Sie stehen im Palast, Bausteine aus leuchtend blauem Muranoglas, flächig am Boden, aufgetürmt, als bunte Kugeln in Spiralen von Decken an Wänden, überall in der Stadt. Er feiert den Himmel, heißt es. Sie kriegen müde Beine. Sie kaufen Trüffel. Er kauft eine Sonnenbrille. Sie essen im Vietnames, einem kleinen Restaurant am Boulevard Raspail zu Abend. Elzbieta erzählt der Besitzerin von ihrem Ärger mit den Kriebelmücken. Die kennt das Problem, bringt eine vietnamesische Salbe und Eispads, womit Elzbieta die Stiche an Armen und Beinen kühlt.
Vorm Eingang des Museums Collection Lambert stehen junge Menschen Schlange für ein Konzert elektronischer Musik im Rahmen des Festival Resonance. Das würde Karl interessieren. Er kennt Kraftwerk aus ihrer frühen Zeit, fand sie interessant, aber nicht begeisternd. Das Roboterding danach fand er langweilig und humorlos. Die Wertschätzung, die man der Band international entgegenbringt, kann er verstehen, aber nicht teilen. Die Frau hat keine Lust, also geht er allein. 23 Grad. Innenhof Collection Lambert. Plastikbierbecher wie überall. Alter der Anwesenden zwischen 20 und 40. Das Konzert beginnt. Bummbummbumm, noch kaum 140bpm, süßliche Melodien, Sequenzerschleifen, das übliche rhythmische Britzeln und Scratchen, dem Karl etwas abgewinnen kann. Superpoze heißt der DJ hinterm Pult. Ein androgyner junger Mann, kaum 18, der an Knöpfen und Reglern hantiert, schwingt und sich dreht, Bewegungen eines Träumenden. Ob man das Musik und ihn Musiker nennen kann? Der Beat zieht an. Er wird lauter und hallt hart von den Wänden des Innenhofes zurück. Die Zuhörer sind zurückhaltend. Hier und da wankt einer zaghaft. Karl hockt mal hier, steht mal dort. Er könnte mit einer Gleichgesinnten tanzen auf diesen Beat, aber er sieht keine und an die, die aussieht, als würde sie's tun, traut er sich nicht ran. Ein Mittdreißiger, Dreitagebart, dunkle Jeans, schwarzes T-Shirt, auf dessen Rückseite viel Text über Obsession steht, hält eine Kamera im Anschlag. Um den Hals eine Art ID Karte. Er wird von einer Schwarzhaarigen angelacht. Sie redet gestenreich auf ihn ein, fasst hierhin, fasst dorthin, aber ihm scheint die Kamera wichtiger. Wenig später steht er mit einem zweiten Mann vor einer Mauer. Die Schwarzhaarige will sie fotografieren und bittet Karl ins Bild. Und dann beginnt der Mann zu tanzen. Karl tanzt mit, beide lachen, es folgen Sätze über woher und wohin? Aus Westfalen, sagt Karl. Der Mann strahlt. Je m'apelle Jean Christoph, Westphalien de Bramsche, sagt er. Bramsche? Westfalen? Karl lächelt. Jean Chrstopphs Vater lebt dort, der Bruder in Karls Heimatstadt. Jean Christoph ist bei seiner französischen Mutter aufgewachsen. Deutsch spricht er nicht. Die Welt ist klein. Karl erzählt von Anselm Kiefer. Viens avex moi, sagt Jean Christoph, nimmt ihn an die Hand und geht quer durchs Gebäude, öffnet zwei Türen, zeigt der Security seinen Ausweis und Karl die Collection Lambert. Private Führung, sagt Karl. Qui, je travaille ici. Die Sammlung rührt Karl nicht, was ihn rührt, ist Jean Chistoph, mit dem er anschließend ein Bier trinkt und der ihn auf ein Techno-Konzert im Lambert am nächsten Abend einlädt. Sie tauschen Telephonnummern. Jean Christoph verspricht, ein E-Ticket zu schicken. Karl mag ihn. Er hat sowas Fröhliches. Er glaubt, ihre Seelen wären im gleichen Takt, aber das E-Ticket kommt nicht und Karl hört nie mehr von ihm.
Im Schatten eines Zürgelbaumes vom Cafe Baretta trinkt Karl mit Elzbieta Kaffee. Ein Zürgelbaum? sagt sie. Sie hat sich einen Hut gekauft, der ihr nicht steht. Erst wollte sie ihm nicht glauben, jetzt hat sie's begriffen. Sie bietet ihn einer auf einer Bank sitztenden Frau an, die ihre Zehennägel schneidet. Die Frau reagiert verwundert. Sie hätte lieber Euros, aber dann nimmt sie ihn. Knappe Stunde bis Barjac, sagt Karl, als der Kellner kommt und eine Tarte bringt, mit Feigen. Karl öffnet Google Maps und zeigt Elzbieta die Strecke. Aber wir nehmen kleine Straßen, oder? sagt sie. Ja, ja, sagt er. Schließlich fahren sie durch die Provence, von der jeder Deutsche schwärmt. Igendwie waren alle mal da, während Karl nur die Normandie und die Bretagne gesehen hat.Karl nimmt die Abfahrt zur Brücke über die Rhone und weiß beim ersten Brückenpfeiler, dass er falsch ist. Es hätte die zweite sein müssen. Nach der Brücke führt eine schmale Straße rechts hinunter durch Gartenland und Wiesen zur N570. Die brauchen sie, die führt nach Südwesten, vorstädtisch dicht besiedeltes Land, Kreisverkehre und Einkaufszentren. Irgendwo soll es rechts auf die D6580 gehen, aber Karl kann keine Schilder entdecken und wird ein wenig unruhig. Zudem ist er mit einem Mietwagen unterwegs, der bei der kleinsten Geschwindigkeitsüberschreitung piept, was Elzbieta, die sowieso glaubt, Karl fahre immer zu schnell, zu spitzen Bemerkungen inspiriert, die Karls Unruhe noch steigern. So geht das nicht weiter, denkt er, Google weiß viel, aber ein Gespräch mit einem Einheimischen ist ergiebiger. Tankstelle. Stop. Eine Madame. Karl erklärt ihr, dass er nach Barjac wolle. Ah, sagt die Madame, wollen Sie La Ribaute besuchen? Karl nickt erfreut. Die Madam erklärt, dass sie nach ungefähr drei Kilometern an einem Kreisverkehr rechts ab müssten, Richtung Bagnois cur Ceze.
Tatsächlich. Es wird ländlich. Es wird flach. Das Rhonetal. Wein von der Ebene bis hin zu den ansteigenden Hängen, nicht zu identifizierende Industrieanalgen über Kilometer, Kreisverkehre, nicht sehr provencialisch, jedenfalls ohne den Zuckerguss vieler Erzählungen, den Elzbieta und er erwarten. In irgendeinem Städtchen an irgendeiner Ampel ohne irgendein Schild, das ihn erleuchtet, ruft Karl zu einem nebenan stehenden Lieferwagen, wo es nach Bagnon cur Ceize gehe. Die Antwort ist frohes Gelächter. Dies sei Banon zur Ceize. Und nach Barjac, wie komme ich nach Barjac? Wortkasskaden. Begleitende Richtungshinweise mit beiden Händen. Bon bonyage. Jetzt kommt die Provence. Über Bewuchs kann Karl wenig sagen, Wald, ja, sicher Wald, Mittelgebirge, Nadelgehölze. Zedern? Man müsste nachschauen. Höhere Berge in Sicht. Die Straßen werden schmaler, er muss sich konzentrieren. Dann will er rauchen und Elzbieta auch. Sie halten an einem Aussichtspunkt. Die Ardeche ist nicht weit. Barjac nur noch ein paar Kilometer entfernt. Sie sind über tausend Kilometer gefahren, um sich La Ribaute anzuschauen, diesen wilden Spielplatz eines rätselhaften Künstlers. Die Spannung steigt.
In Barjac tun Nordeuropäer, als wären sie Franzosen. Sie tragen Sonnenhüte, haben Bärte und benehmen sich, als seien sie Künstler. Es ist, wie man es sich vorgestellt hat. Eine Kirche, Hügel, schmale Straßen bergauf und bergab, ein Markt mit Produkten der Provence. Ein Café. Ein 2CV. Eine schwarze Frau im Café, auf deren Oberschenkel, die in lackschwarzen Latexhosen stecken, ein fröhliches blondes Kind hüpft. So eine Idylle, denkt Karl, die Welt ist schön, denkt er, die Liebe kennt keine Grenzen, sowas denkt er, wohl, weil das provencialische Licht und die Milde der Landschaft seine Wahrnehmung getrübt haben. Die Rechten sind stark in der Gegend. Karl bestellt Cappuccino. Elzybieta macht sich auf den Weg, provenciale Erzeugnisse zu begutachten. Karl reicht es, zuzuschauen. Er ist froh, dass er das Auto geparkt hat, er musste nicht einmal Parkgebühren bezahlen, er hat sich erkundigt. Sein Französisch wird verstanden, das macht ihn ein wenig stolz. Jetzt sitzt er da, der Nordeuropäer. Er hat gefragt, ob er rauchen darf und er darf. Er weiß noch nicht, dass er gleich enttäuscht wird. Eigentlich stehen ihm zwei Enttäuschungen bevor. Eine hat mit den provencialischen Pfirsichen zu tun, die Elzbieta gekauft hat. Wie gut die aussehen, sagt sie, aber sie schmecken wie deutsche Supermarktware. Kein Tropfen, keine himmlische Frucht. Keine verführerische Süße. Die zweite mit Anselm Kiefer. Obwohl, das ist falsch. Sie hat mit La Ribaute zu tun, das sie von Barjac nach zehn Minuten erreichen. Von der Landstraße zur Ardeche Schlucht rechts ab, einen schmalen steinigen Weg den Hang hoch, links, dann ein staubiger Parkplatz, auf dem vier Autos stehen. Eines aus Münster. Es ist dreizehn Uhr. Die Führung beginnt in einer halben Stunde. Ein Zaun. Ein Toilettenhaus. Kein cubisch graues Café, so ein Container, in dem es Weißwein gibt. Karl ist ein wenig beunruhigt wegen seiner Tickets, denn als die Besucher eingelassen werden, stellt er fest, dass auf seiner Buchungsbestätigung kein QR Code ist wie bei den anderen. Die Frau am Eingang beruhigt ihn. Sie hat ihn auf der Liste. Ein Weg führt hügelan. Dann sieht er, was ihn im Wenders Film so fasziniert hat. Die in die Höhe strebenden grauen Türme, nicht unähnlich den Wachtürmen der DDR, aber Stock um Stock ein wenig nach außen versetzt, so dass man um ihre Statik zu fürchten beginnt. Aber was ihn hergelockt hat, die trotzige Unordnung dieses Geländes, der Wildwuchs, das Unkraut, hat sich in einen gefegten Erlebnispark verwandelt. Kiefers weiße Tänzerinnen in einem lichtgefluteten Haus versöhnen ihn, hier sind Trotz, wildes Wollen und Poesie spürbar. Klinisch aber wird es in den fensterlosen viereckigen Betonhäusern, übers Gelände verteilt, manche viereckig, andere rechteckig, weiß gestrichen. Hier hängen die Kieferschen Bilder. Die kargen Hallen und riesigen Bildformate machen den Besucher klein und sprachlos. Bei Wenders hatte es nach flüssigem Blei, verbranntem Stroh, nach Farbe und Teer gerochen, in La Ribaute riecht es nicht mehr. Im La Ribaute der Gegenwart werden Karl, Elzbieta und fünfzehn andere von einer jungen deutschen Frau durch das Gelände geführt.Sie spricht Englisch, Deutsch und Französisch. Manchmal schließt sie die Augen, wenn sie über Kiefer spricht. Er hat im Herrenhaus der ehemaligen Seidenspinnrei gewohnt, ein prächtiges Sandsteinhaus mit einer breiten Flügeltreppe, die auf eine großen, dem Haus vorgelagerte Terrasse führt. Heute wohnt er woanders. Nur seine Bibliothek ist noch da. Karl sieht einen Hubschrauberlandeplatz. Ist das auch Kunst? fragt er. Er meint das ernst, hofft aber, dass der Witz nicht verborgen bleibt. Nein, sagt sie, lächelt versonnen und sagt, der Meister käme ab und an von Paris über Montpellier nach La Ribaut, da nutze er den Hubschrauber. Diese äußerst priviligierte Art zu reisen müsste einem Künstler doch aufstoßen, denkt Karl. Oder ob er es staunend genießt, ohne zu verstehen, was aus ihm geworden ist, seit er sich als junger Mann auf die Spuren Van Goghs begeben hat? Was passiert, wenn sich Träume erfüllen. Sie gehen durch Gänge, die gutes Schuhwerk verlangen, sie kommen in große Hallen. Hier wird es gewesen sein, denkt Karl, hier hat alles stattgefunden, was ihn so fasziniert hat, aber jetzt haben die Kuratoren von La Ribaute in einem der Gänge, die Kiefer hier aus Gründen gegraben hat, die nur er versteht, falls überhaupt, kleine Schmutzecken arrangiert, zusammengefegter Dreck, der sich an die Wand schmiegt, als käme gleich jemand mit einer Schaufel. Wenn man wieder hinaus tritt ins Gelände, über einen Hügel muss und sich umschaut, fährt schwarz uniformierte Security in ebenso schwarzen, vierrädrigen Elektrowagen herum. Es ist warm. Sie tragen dunkle Sonnenbrillen. In den Hallen schreien Kiefers Bilder nach Vergebung. Nach Verstehen. Manche sind so schön, dass man sich wünscht, man könne hineingehen und auf immer in ihnen verschwinden.