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Bandipur Reservat

Ian und ich wohnen in einem Haus an der Biegung des Flusses. Ein Pfad führt durch lichten Wald zu einer sandigen Straße. Dort markiert ein Schlagbaum das Ende des Bandipur Waldes. In einer Hütte sitzen zwei dicke Wachposten. Einer hat goldene Schneidezähne. Eine Brücke führt über den Fluß. Diesseits sind vier Hütten, jenseits ist Baba Singhs Tschai-Shop. Jeden Tag gehe ich dorthin, um die Ankunft der Busse zu beobachten. Ein Händler schiebt seinen Karren heran, Wildhüter und Waldarbeiter lungern auf der Brücke herum, die Wachposten kommen aus ihrer Hütte. Abend kommen Männer auf Elefanten, reiten hinunter ans Wasser und schrubben die Tiere. Die Tiere lieben das. So sieht der Ort meiner Geschichte aus. Ein Fluss in einem Land, in dem es außer Sonne, Elefanten, heiligen Kühen, Bettlern, Tempel, von Menschen überquellende Städte und einer Atombombe nichts zu geben scheint. An diesem Fluss sitze ich und zähle die Sterne. Eine schöne Beschäftigung, wenn man vergessen hat, wieso man eigentlich da ist. Sie beruhigt. Wenn auch nur ein bisschen.

Angefangen hatte alles vor vierzehn Tagen. Ian und ich wohnten im Palace Hotel in Mysore. Wir zahlten 20 Rupien für ein heruntergekommenes Zimmer unter dem Dach. Meist war es so warm, dass wir auf dem Dach schliefen. Ich hatte mir am Morgen die Haare schneiden- und mich fotografieren lassen. Nun saß ich auf dem Dach und beobachtete das Gewirr in der Gasse: Männer, die Karren schoben und Säcke schleppten, Händler vor ihren Geschäften, Ochsenfuhrwerke und bunt bemalte Lastwagen. Zwischen hoch mit Bohnensäcken beladenen Karren tauchte ein Europäer auf. Er war mittelgroß, hatte schwarzes Haar und ein schmales Gesicht. Vorm Hotel blieb er stehen, nahm seinen roten Rucksack ab, kramte ein Paket Tabak aus der Seitentasche und drehte sich eine Zigarette. Dann schaute er zu mir hoch. Er glich mir aufs Haar!

"Ian!" schrie ich. "Ian, komm, sieh dir das an!"

Ian lag auf dem Bett, das Zimmer war abgedunkelt, er hatte ein Gummi zwischen Zeigefinger und Daumen der rechten Hand gespannt und schoss mit gefalztem Papier auf Gekkos. Ich hastete hinunter auf die Straße. Mein Doppelgänger stieg gerade in eine Rikscha und gab dem Fahrer ein Zeichen. Der Fahrer nickte und strampelte los. Ich pfiff auch eine Rikscha herbei, machte dem Fahrer mit Händen und Füßen klar, worum es ging, aber als er begriffen hatte, war mein Doppelgänger auf und davon.

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