Di 1.05.18 23:16

Dickes B. - Tag Eins

Eitelkeit und Ruhmsucht hatten mich nach Berlin getrieben, aber ich hatte das niemandem verraten, ich hatte gesagt, ich sei für einen Hörspielpreis nominiert und könne ein hochwertiges Studiomikrofon gewinnen. Meine Anwesenheit, hätte ein Vertreter des Berliner Hörspielfestivals gesagt, wäre insofern wichtig, als sie den Publikumsentscheid beeinflussen könne. Geld habe man allerdings keines, weder für die Fahrt, noch für das Hotel, noch für sonst irgendetwas, das Festival sei independent.

Ich war auf ein Angebot der Firm Hertz gestoßen, die einen Ford Focus für drei Tage zu 57 Euro anbot und war, ohne darüber nachzudenken, dass Freitag, den 27.04.18, alle Welt auf germanischen Autobahnen unterwegs wäre, weil der Montag ein Brückentag würde, losgefahren. Siebeneinhalb Stunden. Allein in einem tadellos sauberen, summenden Auto, das auch ohne mich gefahren wäre, ohne Brote, von der Freundin rübergereicht, ergo ohne Trost, Stop and Go und Stop and Go. Die Frikadellen hatte ich schon vor der Abfahrt gegessen, ich hatte keine Süßigkeiten dabei, weil ich Süßigkeiteiten neuerdings saus dem Wege gehe, so fuhr ich Nonstop and Go bis zur Raststätte Helmstedt für einen flotten Cappuccino, den es zum Glück in der Republik mittlerweile flächendeckend gibt, selbst in der DDR. Das war damals ganz anders.

Gegen 18 Uhr stand ich vor der Tür der der tantrischen WG eines Schreiners in Tempelhof. Hübsches Reihenhaus in einer Siedlung voller Grün. Ich konnte es kaum glauben. Es sah aus wie Bullerbü. Das Flugfeld war kaum einen Steinwurf entfernt, darauf das unternehmungslustige Berliner Völkchen, das ausnahmslos zugereist ist und gern Englisch spricht.


Mi 2.05.18 10:07 sonnig

Mein tantrischer Vermieter, ein sogenannter "Rüdiger", war wohl nicht homosexuell, wie ich vermutet hatte, jedenfalls sprach er von einer ehemaligen Freundin. Die Hausregeln waren einfach: keine Rauchwaren, keine Schuhe im Haus, er bot mir Pantoffeln an und bat um Sauberkeit, Ruhe und Ordnung, riet, beim Heimkommen das oberste Schloss zuerst aufzuschließen, dann erst das untere, sonst verhake sich das obere, was dazu führe, dass man ihn, wie geschehen, mitten in der Nacht wecke, weil man die Tür nicht aufbekomme.

Gut, sagte ich, hatte ich doch im letzten Jahr das englische Schloss (rechts drehend, wenn ich mich recht erinnere) eines Trailers auf einem Campingplatz in Lathen nach kurzer Anlernzeit durch einen schräg gegenüber wohnenden Camper aus Detmold, problemlos öffnen und schließen gelernt, gut, das kriege ich hin. Was nun das tantrische dieser WG angeht, in der noch eine Frau (unsichtbar) und ein Grieche (ach wie schön, endlich mal ein Mann als Gast), kann ich nichts weiter vermelden, es sei denn, man hielte die Anwesenheit von Buddhastatuen auf kleinen Kommoden und Bildern asiatischer Gottheiten für einen Ausdruck höherer Seinszustände. Mein Zimmer, das ich wegen des Ausblicks und des Zugangs auf einen großen Balkon zum Garten gebucht hatte, war klein, aber mit dem Nötigsten ausgestattet. Ich würde dort überleben. Also packte ich aus, und machte mich auf den Weg.

Ich wollte in der Oranienstraße, Tango tanzen. Mit der U-6 und der U-2 wäre ich in einer Viertelstunde dort gewesen, aber ich hatte sieben Stunden in einem von der Außenwelt abgeschlossenen, faradayschen Käfig gesessen und wollte laufen. Quer über das Tempelhofer Feld, vorbei an einer Übergangssiedlung für Flüchtlinge zum Columbiadamm, wo mir martialisch kostümierte Polizisten auffielen, woraus ich schloss, dass in der naheliegenden Columbiahalle möglicherweile ein Konzert stattfände. Jedenfalls waren viele junge Menschen auf dem Wege dorthin. Ich bin nicht online, wenn ich unterwegs bin, aber mein Tablett kann sich Stadtpläne merken, und meinen Standort dennoch verorten, was einerseits beängstigend, andererseits praktisch ist. Bergmannkiez, hatte ich gelesen, als ich unterm Schutz der Polizei die Karte studierte. Da Berlin aus tausendundeinem Kiez besteht, kam der Bergmannkiez als nächstliegender gerade richtig. Rechts ab, der Friesenstraße folgen, schon ist man da.

Ich lebe im Vorort einer behäbig aufregenden Stadt mit breitem, kulturellen Angebot. Dort gibt mittlerweile genügend Locations, die auch in Berlin sein könnten, was also ein Kiez ist, weiß und wusste ich schon lange. Vor drei Jahren war ich das letzte Mal in Berlin. Damals trug ich die höheren Weihen einer Einladung des Literarischen Colloquiums am Wannsee und wollte nicht hinab in die Niederungen. Jetzt aber wollte ich essen, die Frage war, was und wo und wie teuer, aber nicht im erstbesten Restaurant. Ich setze mich erst einmal vor einen Kiosk. Dort saßen: ein junger Türke und ein junger, langhaariger Deutscher. Ich trank ein Bier, und kam ins Gespräch mit ihm. Landflüchtling, Anfang 20, Mutter aus Rumänien, Vater aus Münster. Er arbeitet in einer Lese-Lounge gegenüber, ein Café, sagte er, ab sieben geöffnet für Frühstück. Ein Benz hielt. Ein großer schwarzer Benz mit Türken. Der junge Türke wurde abgeholt. Wieso fahren Türken oft Benz, Audi oder BMW? Warum haben sie immer Sportauspüffe?

Ich vermute vieles, aber Genaueres weiß ich nicht.

Marheinekes Markthalle ist super chick, super hip, wie alles hier hip scheint. Das wilde, ungeordnete der Markthallen noch in den 90ern ist Vergangenheit. Ich entscheide mich für einen Burger vom Havellandschwein, das händisch mit Äpfeln gefüttert und dann unter Absspielen seiner Lieblingsmusik getötet wird. In der Nähe der Passionskirche trinke ich einen Grappa, staune, wie grün es hier ist, überquere die Gneisenaustraße und bald darauf den Landwehrkanal. Man hat Rosa Luxemburg tot hineingeworfen. Wolfgang Herrndorf hat sich am Ufer erschossen. An der Ecke Gitzschiner- und Prinzenstraße kommen mir hunderte Fahrräder entgegen. Critical Masss. Ich rufe meinen ältesten Sohn an, der ein Critical Mass Aktivist ist, aber der geht nicht ran. Dann bin ich an den Prinzessinnengärten an der Oranienstraße und muss nur noch den Tango Club finden.

Google Maps verortet ihn an der Ecke hinter den Prinzessinnengärten. Aber Maps und Wirklichkeit sind zwei paar Schuhe. Ich muss noch ein paar hundert Meter Richtung Kottbusser Tor, eh ich ihn in einem Hinterhaus findet. Ich bin aufgeregt. Ob Großstädter besser Tango tanzen? Nein, sie kochen mit Wasser, wie alle. Auch im dicken B. haben Frauen zwei Brüste und Beine, und bestimmt gibt es welche, die nicht wissen, wo die Eins ist. Die Bühne ist für ein Orchester gerichtet. Drei Bandoneonisten, drei Geiger, ein Kontrabassist, ein Pianist. Ich betanze eine Russin, Jüdin, denke ich, vier dreißig-vierzigjährige Zugezogene und eine sehr grosse blonde Berlinerin. Alle waren der nötigen Schritte mächtig, letztere ganz besonders, so dass ich ein wenig aus dem Häuschen geriet. Die Kapelle spielte, wir flogen.

Berlin brummt und kracht in allen Nähten, als ich mich auf den Heimweg mache. Zwischen Schlesischem und Halleschen Tor ist Schienenersatzverkehr eingerichtet, ich fühle mich gut, ich steh auf Berlin. Der preußische Geist ist kaum noch spürbar, so wie früher, als man an jeder Ecke auf missmutige Berliner traf, Preussen, die heute wahrscheinlich in unter Naturschutz stehenden Kiezen wohnen, die sie mit Waffengewalt vor den Investoren verteidigen, was leider zwecklos ist. Investoren haben mächtigere Waffen, um sie zu stoppen, müsste man alle töten, aber das will man nicht, man ist ja ein Mensch. Alles bleibt alles zwecklos.


Do 3.05.18 10:07 sonnig, noch frisch

Dickes B. - Tag Zwei

Als ich nachts in Bullerbü vor der Tür meines AirB&B Hauses stehe, mache ich's, wie mir Rüdiger, mein in tantrischer Gemeinschaft lebender und nach eigenen Angaben gern stundenlange, tiefsinnige Gespräche führender Vermieter geraten hat: ich öffne erst das obere, dann das untere Schloss, aber die Tür geht trotzdem nicht auf. Also verschließe ich beide wieder und stelle beim erneuten Aufschließen fest, dass man den Schlüssel im oberen Schloss zweimal drehen muss. Die Tür öffnet sich, ich gehe hinein, mache Licht, ich ziehe die Schuhe aus und die Pantoffeln ein, steige die steile Stiege nach oben, öffne meine Zimmertür, knipse das Flurlicht aus und das Zimmerlicht an und bin im temporären Zuhause.

Bei REWE-To-Go auf der Prinzenstraße hatte ich mir ein Hühnchensandwich gekauft, das esse ich jetzt, öffne die Balkontür, ziehe mich aus und lege mich hin. Seit sieben Uhr früh bin ich unterwegs, es ist halb drei, ich bin seit zwanzig Stunden auf den Beinen und bis unter die Haarspitzen voller Adrenalin. Der Schlaf findet mich also nicht auf der Stelle und verlässt mich kurz nach sieben schon wieder. Vögel singen. Die Sonne scheint. Ich brauche Kaffee.

AirB&B heißt Luft, Bett und Frühstück. Die Luft ist frisch und umsonst, das Bett ist bezahlt, Frühstück aber gibt es nicht, dafür muss ich mich bewegen. Ich hätte auch keine Lust, in einer fremden Küche zu werkeln. Fremde Küchen sind vermint, darauf lasse ich mich gar nicht erst ein. Ich wollte mich sowieso in dieser Siedlung umschauen. Am Rosengarten kommt mir eine junge Frau mit einer prallvollen Brötchentüte entgegen. Ich folge der Richtung, aus der sie gekommen ist und finde an der Ecke Rumeyplan und Boelckestraße einen türkischen Bäcker, der Schrippen verkauft und Kaffee anbietet. Der Kaffee ist nicht gut, das Gebäck, das ich esse, nur süß, aber die Stimmung stimmt. Ich fühle mich heimisch. Eine Viertelstunde darauf sitze ich auf dem Tempelhofer Feld und lasse mich besonnen. Erste Jogger sind unterwegs, es ist Samstag. Mein Hörspiel, aus ca. 200 Einsendungen ausgewählt und mit 8 anderen für den Berliner Hörspielpreis nominiert, wird am Abend im Theaterdiscounter öffentlich aufgeführt. Ein alter Mann setzt sich gegenüber. Moin, sage ich. Morgen, sagt er. Der Segway-Vermieter am Rand der Rollbahn sortiert seinen Fuhrpark.



Fr 4.05.18 12:17 sonnig

Ich kaufe bei Aldi neben dem Tempelhofer U-Bahnhof Trauben, Bananen, und noch ewas, habe aber vergessen, was? Schokolade? Wahrscheinlich, obewohl, eigentlich verboten, aber ich mache mal eine Ausnahme. Auf dem Parkplatz davor umstehen drei Männer ein Auto. Zwei sind klein. Zwei sind recht muskulös und tragen dunkle Jeans und T-Shirts. Der dritte ist trommelbäuchig. Er trägt eine kurze, floral bedruckte Baumwollhose, ein ebensolches T-Shirt, eine Goldkette und mehrere Ringe. Sie scheinen guter Laune. Neben dem Eingang sitzt ein Bettler mit großem Hund, seinem einzigen Freund. Ich gebe ihm nichts. Ich will einkaufen, ich bin ein älterer Egoist auf dem Weg in die Heimat, denn das ist Aldi. Der Parkplatz, der Bettler, die Tür hinein. Alles ist überall gleich. Ich weiß, wo die Dinge stehen. Die kaufe ich ein, bringe sie nach Bullerbü, rüste mich und steige an der Paradestraße in die U-Bahn. Ich will mich zerstreuen. Ich will rumgucken. Am Mehringdamm steige ich aus, und dann fällt mir Herr Dämlow ein, der Wirt des Yorkschlösschens gleich um die Ecke. Herr Dämlow und ich sind Facebookfreunde, haben uns aber in der wirklichen Welt noch nie getroffen.

Leider hat das Yorkschlösschen geschlossen. Es ist zu früh. Ich esse eine äußerst scharfe Currywurst, schon in den sechzigern hatte ich in Berlin so eine scharfe, wahrscheinlich noch schärfere gegessen, während vor einem zum Dönerverkaufsstand umfunktionierten kleinen Wagen eine lange lange Schlange steht. Der Dönermann verkauft vegane Döner. Am Halleschen Tor mache ich mein erstes Foto, Gegenlicht, nicht ganz einfach, aber es gelingt und steige um in den Bus, der mich eine Weile dem Landwehrkanal folgend zum Görlitzer Bahnhof bringt. Von dort schlage ich mich durch bis zur Spree. Am Mariannenplatz fallen mir Ton Stein Scherben ein. Hier war das also. Eine Straße weiter hat die Restrevolution ein Banner rausgehängt. Die Markthalle 9 (ich hatte gehofft, dort Trödel zu finden, vielleicht sogar eine Tangohose) ist wie alle Markthallen fest in der Hand der neuen Gastronomie. Wachtelfürze, linksdrehender Grappa und arschgeknetetes Brot für Veganer. Drüben ist das Bethanienhaus. Und dann das Baumhaus an der Mauer. Was für eine verrückte, stolze und schöne Einwanderergeschichte, die dahinter steckt.

Von der Schillingbrücke führt eine Treppe zum Spreeufer. Unten hantiert ein Mann mit Tüten. Er holt sie unterm Gebüsch hervor, breitet sie aus und packt etwas um. Ich bilde mir ein, einen Revolver zu sehen und gehe schnell weiter. Der Weg endet in Büschen. Plötzlich Teepees. Eine Teepee-Siedling. Hippies? Ein weißer und ein schwarzer junger Mann sitzen in Korbstühlen auf der Bühne eines kleinen Pavillons und fragen, ob ich langes Zigarettenpapier hätte. Ich kiffe nicht mehr, sage ich, und verpasse die Möglichkeit, mich zu ihnen zu setzen und ein bisschen zu reden. Aber Irgendetwas geht hier vor. Diese Teepees, dieses alte Gemäuer dahinter und gleich nach dem Ausgang aus dem Teepeedorf diese hippe Architektur nach ökologischen Richtlinien. Später erfahre ich, dass sich fast 1500 Menschen zu einer Genossenschaft zusammengetan hätten, um das Gelände zu kaufen und nach ihren Vorstellungen zu bebauen. Jemand anders sagt, das wären die Leute, die hier mal einen Club gehabt hätten und reich geworden seien. Auf der anderen Seite der Spee wird sich später entscheiden, ob ich einen Preis bekomme oder nicht. Aber erst fahre ich nach Bullerbü, um mich auszuruhen, den Rest wissen eh nur die Götter.


So 6.05.18 12:57 sonnig

Der letzte Teil meiner Berlinerzählung muss noch geschrieben werden. Dazu ist Wetter viel zu schön, und das Leben zu kompliziert. Aber es gibt ein Foto vom Festival.







Mo 7.05.18 15:57 sonnig

Dieser Frühling ist wundervoll. Aber darum geht es nicht. Es geht immer noch um Berlin und wie ich diese drei Tage überstand, wo ich doch ein Landei bin und Berlin eine große Stadt, und wo ich den Preis, der mich hätte retten und auf den Olymp der Eitelhansel heben können, nicht gewann. Der Beitrag, der ihn gewonnen hat, war lustig, und alle sagten gleich, der wird es. Hätte der Zweitplatzierte gewonnen, hätte ich gesagt, gut gewählt, Leute, ihr habt Geschmack und Verstand. Über den dritten Platz, den ich auch nicht gewann, muss man nicht erst reden, der war nett.

Aber ich habe gut reden, und ich weiß, was ich davon habe, nichts habe ich, keinen Ruhm, keine Frau, komplizierte Verwicklungen in der Gegenwart, ich möchte mich aufhängen, in die Spree hätte ich springen können, beim U-Bahn-Surfen mir den Schädel einschlagen und dann auf der Stromschiene verbrutzeln, aber ich bin ja nicht blöd.

Stattdessen habe ich in Bullerbü mein Nachmittagsnickerchen beendet und bin mit der U-Bahn ruckzuck zur Klosterstraße gefahren, kaum einen Steinwurf vom Fernsehturm am Alexanderplatz, eine architektonische Katstrophe, bei der man sich nicht wundern darf, wenn sich dort nächstens junge Menschen gegenseitig totzuschlagen versuchen.

Und als es dann endlich losging im Theaterdiscounter, ein Off-Theater in einer Immobilie der EX-DDR, ein kafkaesker Wahn, der nicht einmal durch die netten, dort anwesenden Menschen gemildert werden konnte, als es dann endlich losging, blieb mir nichts, als alle 9 noch im Wettbewerb stehenden Hörspiele anzuhören. Das dauerte bis Mitternacht, und führte zum bereits verkündeten Endergebnis. Näheres gibt es auf der Webseite des BHF.

Die Nacht war mild, ich hatte noch überlegt, Herrn Dämlow im Yorckschlösschen einen Besuch abzustatten, war aber dann doch zu erschöpft. So nah bei ewigem Ruhm und dann kriegt jemand anderes den Preis, das kann einen fertig machen, ich sagen Ihnen, also schnell nach Hause. Am nächsten Tag dann noch ein Besuch in Wilhelmshorst bei einem Freund, und von dort ohne Pause heim. Tango tanzen, dieser großartigen Illusion nichteingelöster Versprechen.