Dezember 2005 www.hermann-mensing.de
mensing literaturDo 1.12.05 15:10
Notizen in der Rhein-Haard Bahn zwischen Bösensell und Krefeld
Vor Buldern das frostige Land unter eisfahlem Himmel, überspannt von lachsfarbenen Spuren Verflogener.
In Regionalbahnen ist nur aufrechtes Sitzen möglich. Jedes Lümmeln, sich strecken, sich gemütlich machen wird dank passgenauer, steinharter Ergonomie der Sitzschalen mit Rückenschmerzen bestraft. Beinfreiheit ist ein unbekanntes Wort. Zwergenbahn wäre eine präzisere Beschreibung dieser doppelstöckigen Regionalzüge. Reisegepäck ist auch nicht erwünscht.
Jeder reist allein mit den Demütigungen des Vortages und der Furcht vor erneuter Mißachtung zu seinem Arbeitsplatz im Revier. Mancher versucht noch ein wenig zu schlafen. Andere plaudern sich um Kopf und Kragen.
Aus Tonhöhe und Intonation des Hustens einer Mitreisenden schlösse ich auf vorgetäuschte Lustschreie und den Schein im Sein, aber ich bin objektiv, also höre ich nur dieses Husten.
Güterzüge voller Neuwagen, Brachflächen in Rheinhausen bis zum Horizont voll nagelneuer Mercedes Sprinter. Alle wollen gekauft werden. Von wem?
Vor mir ein junger Türke mit Britt gewichstem Haar. Diese Haarcreme riecht haargenau wie vor vierzig Jahren, als Onkel auf Sonntagsbesuch manchmal so rochen.
Ein dicker Mann, Mitte 30, verschmutzt, eine Reihe rechts vor mir. Er hat einen Klappstuhl, eine Gehhilfe und einen nicht verschlossenen Rucksack dabei. Als er sich zum Aussteigen fertig macht, aufsteht, sich vorbeugt, um seine auf dem Nebensitz liegenden Sachen zu packen, sehe ich seinen fetten Leib. Ich kann ihn auch riechen. Er riecht nach Fäkalien. Der junge Türke und ich wechseln Blicke. Achselzuckend. Bedauernd. Wenn man Geld hat, um mit dem Zug fahren zu können, gibt es dann nicht auch Duschen, unter die man sich stellen könnte - sei es nur einmal die Woche?
Bravourös wäre das gewesen, sagte die Lehrerin W. nach meiner Lesung.
Ich nickte stumm, wischte mir Schweiß von der Stirn und beschloss, den Rückweg zum Bahnhof zu Fuß zurückzulegen, um auszudünsten, denn Schweiß war in Strömen geflossen, als ich vor 80 Erst- und Zweitklässlern, Zapplern, Schnippsern, Rufern, neugierig alle, las.
Von Hause aus höchstens 30 Prozent deutschsprachige Kinder.Was ist ein Hengst? fragte ich u.a., und niemand wusste es.
Angstschweiß also?
Nein, normaler Arbeitsschweiß, der fließt, wenn ich spiele, nachfrage, singe, tanze, lese.
War das alles in einer Person, hatte enorme Freude und habe nicht, wie in Kinderhaus vor vier Wochen, einfach aufgesteckt.Bravourös also? - Danke.
Auf der Gladbacher Straße sehe ich ein Schild. Darauf steht: Fußpflege - auch Bluter und Diabetiker.
Links vom Bahndamm wachsen in die Tiefe gestaffelt Birken auf kargem Boden, rechts vom Bahndamm sind Häuserfronten. Die Sonne kommt von dort. Die Birken spiegeln sich in den verschmutzten Scheiben des fahrenden Zuges, die dahinter liegenden Häuserfronten treten vorüberfliegend in die Spiegelung ein und gleichen plötzlich Bühnen, tiefen Bühnen mit Birken, Fenstern, Türen und noch einmal Birken bis zum hinteren Bühnenrand.
So wie es Fraktionszwang gibt, dem sich der Demokrat beugt, gibt es auch Reimzwang, der manchmal Stadtteile zwingt, ihre Namen vorübergehend zu optimieren, damit sie dem Reim genügen.
Ein Beispiel: Marl-Sinsen.
Die Optimierung nach Reimzwang: Marl-Simsen.
Daraus folgt:Alle in Marl-Simsen
wollen abends bimsen.Es gäbe viele Beispiele ähnlicher Zwänge, aber aus Gründen der Heiterkeit wollen wir darauf verzichten.
Fr 2.12.05 17:25
Heute bin ich die gute Laune in Person. Daher keine weiteren Einträge. Hände hoch, oder ich schieße.
Sa 3.12.05 14:38
Jäger, Treckerfahrer, aufgepasst: Polizeijacken, Zweireiher aus schwarzem Rindleder, Restbestände, 96 Euro. Ich hatte das gestern unter Dies und Das im Anzeigenteil der Lokalen Zeitung gelesen, gegen 12 die darunter stehende Telefonnummer angerufen und mit Herrn H. einen Termin vereinbart.
Er wohnt im ersten Stock eines Geschäftshauses im Süden der Stadt. Schräg gegenüber ist die Kirche der Heiligen der letzten Tage. Wir schellen. Der Summer tönt, wir öffnen die Tür, treten ein, gehen die Treppe hoch, oben steht Herr H. und begrüßt uns. Er ist mittelgroß, adrett, trägt einen grünen Rippenpullover und eine graue Hose. Auch Polizeimodelle. Er fuhrt uns in ein kleines Büro. An der Wand überm Schreibtisch hängt ein Polizeiemblem. Waren Sie Polizist? frage ich. Nein, nein, sagt er, wir haben die Jacken hergestellt. Bis 2000. Dann haben wir den Betrieb geschlossen.
Er misst meinen Brustumfang. 54, meint er und reicht mir eine Jacke. Ich ziehe sie an. Ein Spiegel ist unten im Treppenhaus, sagt er. Ich gehe hinunter, weiß aber schon, dass ich die Jacke nicht kaufen werde. Ich hatte mir etwas anderes vorgestellt. Dennoch drehe ich mich einmal vorm Spiegel und komme dann zum Schluss, nicht zu kaufen. Herr H. nimmt es gelassen.
In seinem Büro stapeln sich Jacken bis unter die Decke. Der Absatz sei gut, sagt er. Wir verabschieden uns. Auf einem kleinen Tisch vor der Tür rechts steht ein Frankierautomat, der gleiche, den ich in meiner Zeit als Speditionskaufmann bediente, damals, zwischen 1965 und 68.
So 4.12.05 8:51
Ach Gott! wie ist das menschliche Leben so viel Mühe und Widerwärtigkeit, kaum hat ein Unglück aufgehört, so stecken wir schon in einem andern, mich verwundert nicht, dass der heidnische Philosophus Timon zu Athen viel Galgen aufrichtete, daran sich die Menschen selbst aufknüpften, und also ihrem elenden Leben durch eine kurze Grausamkeit ein Ende machen sollten. (1)
14:10
An den Nordrändern der Wälder zwischen Roxel und den Baumbergen liegen noch Schneereste: Flecken, kaum halb so groß wie Fußballfelder, über denen Nebel aufsteigt, ansonsten sind Wiesen und Felder matschig und feucht, auf vielen stehen Pfützen.
Auch an Wegrändern liegt hier und da noch Schnee, manchmal zu mannshohen Hügeln zusammen geschoben, in die der Regen der letzten Tage faustgroße Löcher geschmolzen hat, an den Bruchkanten schwarz von Streugut, unansehnlich. Sie werden wohl auch nächste Woche noch daran erinnern, wieviel Schnee vorige Woche hier fiel.
Mo 5.12.05 9:36
Nicht genug, dass sie die Welt mit rötlicher Brause vergiften, nein, sie sind auch immer wieder Meister der geschickt inszenierten Lüge. Sie schicken den Sicherheitsberater ihres Präsidenten vor die Kameras und lassen ihn erklären, dass die USA keine Terrorverdächtigen zum Foltern in andere Länder fliege. Gleichzeitig berichtet eine namhafte amerikanische Zeitung, "bedeutende europäische Regierungen oder Geheimdienstoffizielle" hätten von den US Operationen in ihren Ländern gewusst.
Das kann doch nur heißen: Liebe Europäer, haltet besser das Maul, redet nicht weiter drüber, sonst reißen wir euch da rein, oder? Auch wenn niemand gefoltert wurde, wir reißen euch rein, schließlich sind wir Meister im Streuen von falschen Informationen.
Mit der Außenministerin dieses Landes wird unsere Kanzlerin also beisammensitzen: Frau Ratte Rice, die sich für nichts zu schade ist. Da unsere Kanzlerin dem Präsidenten dieser Dame in putativer Zustimmung schon einmal ins Rektum gekrochen ist, wird sie wohl auch diesmal kaum Widerworte geben.
Merkel, sitz! Platz! Bleib!
18:00
Ich würde still und heimlich mich entfernen
und fände mich dann in Banania,
an einem Palmenstrand würd ich mich wärmen
mit andern Jammerlappen aus Germania
die mir von Leasing und von Bankkrediten
von Mobbing und von dicken Schlitten
von ihren Frauen, ihren missgerat'nen Kindern
von Eigenheimzulagen, fettgesaugten Hintern
von den Kanaken hier und schlecht gechlortem Pool
vom Remmidemmi in der Disco und vom Dancing Fool
von dies und das mir in den Ohren lägen
und zielgenau mir meine Nerven sägen
bis ich, zum Glück, zu Haus im Bett erwache
wo ich mir still ins Fäustchen lache.
Di 6.12.05 19:55
Tag- und Nachtflug über die A 43 nach Bochum, wo ich im Rahmen eines Vorlesewettbewerbes erst Juror, dann vorlesender Dichter war. Ich las aus Der heilige Bimbam, was dazu führte, dass alle von mir mitgebrachten Exemplare des Romans ausverkauft wurden, meine gedrückte Laune der letzten Tage sich deutlich hob, und ich als Zugabe plötzlich wusste, wie mein nächster Roman heißt und worum er sich drehen wird. Im Prinzip muss ich ihn nur noch schreiben, was ich (versprochen) demnächst tun werde. Ein rundum erfolgreicher Tag also für den auf die sechzig zuschreitenden Dichter M., der den Abend auf dem Sofa verbringen wird und still Daumen drückt für den jüngsten Sohn, der morgen auf dem Prüfstand steht. Drücken Sie mit, auch wenn Sie nicht wissen, worum es geht.
Mi 7.12.05 11:07
Ratte Rice hat sich nichtssagend herausgeredet. Mensch Merkel hat nichtssagend abgenickt. Nichts Genaues könne in Fällen der Terrorabwehr (also quasi in allen Fällen) nicht öffentlich diskutiert werden, sondern müsse unter Wahrung der Geheimhaltung unter Einhaltung der demokratischen Gepflogenheiten unserer Länder verhandelt werden. Gefoltert werde nicht. Nicht wahr.
Do 8.12.05 17:30
Imagine....
Fr 9.12.05 10:00
Der bundesdeutsche Großintellektuelle Hans Magnus Enzensberger hält den diesjährigen Literaturnobelpreisträger Harold Pinter offensichtlich für nicht ganz zurechnungsfähig. "Das kennt man ja von Pinter. Das ist schon seit Jahren dasselbe Gezeter. Aber soll er doch, wir haben Redefreiheit", sagte er in Bezug auf Pinters Rede vor der Verleihung des Nobelpreises, in der dieser den USA vorhält, ihre Verbrechen nach Ende des 2. Weltkrieges seien "systematisch, konstant, infam, unbarmherzig." Die Besetzung des Iran stufte Pinter als "Banditenakt" ein, er sprach von "Staatsterrorismus" und forderte, Blair und Bush vor den internationalen Gerichtshof in Den Haag zu bringen.
Nun, der kleine bundesdeutsche Dichter M. (fern von Geistesgrößen wie H.M.Enzensberger und schon gar kein Intellektueller) denkt genauso, er könnte sogar noch Schaufeln nachlegen und sich zu weiteren brisanten Themen äußern, aber in Zeiten weltweiter Heuchelei und putativen Arschkriechertums ist es doch schöner, ein paar Kerzlein anzuzünden und die Form zu wahren, zumal so bald schon Weihnachten ist.
Dennoch ein kleiner Hinweis: an dieser Stelle wurde Harold Pinter schon vor Jahren zitiert, und auch damals waren er und Dichter M. einer Meinung, während der Großintellektuelle Enzensberger den Krieg rechtfertigte.
Ob HME am Ende nur ein wenig neidisch ist?
Lieber Großintellektueller E., der du damals Gedichte schriebst, in denen du zugabst, mit Spatzen auf Kanonen geschossen zu haben. Du hattest behauptet, es sei falsch, ganz zu schweigen. Du hattest verkündet, Schlafen, Lufthofen, Dichten, das sei fast kein Verbrechen. Ganz zu schweigen von dem berühmten Gespräch über Bäume. Kanonen auf Spatzen, das heiße doch in den umgekehrten Fehler zu verfallen.
Na ja, und nun so etwas.
Treibt Altersweisheit dich zu der Einsicht, die USA sei doch gar nicht so schlimm?
Leuchten dir plötzlich Zwänge und Notwendigkeiten einer Großmacht ein, die sich nicht raushalten kann und darf? Was bringt dich zu derartigen Äußerungen?Zwang kann es nicht sein, wir haben doch "Redefreiheit".
Kaum verehrter Großintellektueller Enzensberger, ich glaube, es ist besser, ich ereifere mich nicht weiter. Vernünftiger wäre es, dem geneigten Leser, der um diese Tageszeit schon seit Stunden seinem Tagewerk nachgeht und dem die Ohren klingeln vor guten und schlechten Nachrichten, in ein paar pointierten Sätzen zu erzählen, dass es trotz allem Spaß machen kann, weihnachtliche Einkäufe zu tätigen.
Ich, der kleine Dichter M., tat das gestern.
Trieb mit meiner Frau durch den weihnachtlichen Trubel, schaute hier und dort und fühlte mich geborgen an ihrer Hand. Allein hätte das anders ausgeschaut, allein hätte ich meinem Drang, um mich zu schlagen, vielleicht nachgeben müssen, aber mit ihr war es angenehm. Sie liebt das und wenn sie liebt, geht es mir gut.Stieß beim Flanieren auf einen ägyptischen Friseur, der meinen Bart trimmte.
Er machte das ganz in der Tradition der hier längst ausgestorbenen Barbiere.
Er seifte mich ein, er prüfte jeden Quadratzentimeter meiner Haut, er schätzte ab, er schnitt, er salbte, er wusch und parfürmierte. Herrlich.In diesem Sinne, venceremos ....
14:50
Hier die Pinter Rede.
Sa 10.12.05 10:45
Feuchte Winde ziehen durch mein Patagonien
Donner poltert zwischen wohlgeformten Backen
kommt's von schwarzem Kaffee, kommt's von Bohnien
müßig, gehe schleunigst Kacken.
So 11.12.05 17:20
"Potz Blut, wie haben wir gestern gesoffen! Ich hab mich in einem Tag wohl dreimal vollgesoffen, und ebenso vielmal gekotzt. Potz Stern, wie haben wir die Bauren, die Schelmen tribuliert. Potz Strahl, wie haben wir Beuten gemacht. Potz hundert Gift, wie haben wir ein Spaß mit den Weibern und Mägden gehabt." Item: "Ich hab ihn darnieder gehauen, als wenn ihn der Hagel hätte niedergeschlagen. Ich hab ihn geschossen, dass er das Weiß über sich kehrte. Ich hab ihn so artlich über den Dölpel geworfen, daß ihn der Teufel hätte holen mögen. Ich hab ihm den Stein gestoßen, daß er den Hals hätt brechen mögen." Solche und dergleichen unchristliche Reden erfüllten mir alle Tag die Ohren, und überdas, so hörte und sahe ich auch in Gottes Namen sündigen, welchen wohl zu erbarmen ist. Von den Kriegern wurde es am meisten praktiziert, wenn sie nämlich sagten: "Wir wollen in Gottes Namen auf Partei, plündern, mitnemmen, totschießen, niedermachen, angreifen, gefangennemmen, in Brand stecken", und was ihrer schröcklichen Arbeiten und Verrichtungen mehr sein mögen. Also wagens auch die Wucherer mit dem Verkauf in Gottes Namen, damit sie ihrem teuflischen Geiz nach schinden und schaben mögen. (...) Wann ich nun so etwas höret, sahe und beredet, und wie meine Gewohnheit war, mit der H. Schrift hervorwischte, oder sonst treuherzig abmahnete, so hielten mich die Leut vor einen Narren, ja ich wurde meiner guten Meinung halber so oft ausgelacht, daß ich endlich auch unwillig wurde und mir vorsetzte, ganz zu schweigen...(2)
22.30
Notizen nach adventlichem Beisammensein mit Nachbarn
Der Glühwein schwappt am ob'ren Rand
die Welt legt sich in Falten
ich gehe rückwärts durch die Wand
ich kann noch Wasser halten
ich kann noch denken
könnte Trommelstöcke rühren
könnt noch 'nen Becher an die Lippen führen
ich zieh jedoch die Waagerechte vor
und lege mich aufs Ohr.
Mo 12.12.05 12:30Vorhin bei der Anprobe des neuen Albert Early Bird Bühnenkostüms für unsere im Frühjahr 2006 geplante Tour durch CIA-Casinos im Nahen Osten, in Afghanistan, Guantanamo Bay und Südamerika.
13.12.05 10:08Hier die ersten von der CIA genehmigten Titel unserer Playlist:
Yummi yummi yummi I got love in my tummy
I am looking for freedom
I wanna break free
Freedom's just another word for nothing else to loose
Hanky Panky
Guantanamoera
Burn motherfucker burn12:01
Selbstverständlich spielen wir auch die Nationalhymne.
17:22
Gott ist aus der Kirche ausgetreten
von Hans Dieter Hüsch
Meine Damen und Herren,
ich weiß ja nicht, ob Sie das damals, wie soll ich sagen, mitgekriegt haben, es ging alles sehr schnell, und es war auch ein bisschen flüchtig. Und fast hatte ich den Eindruck, dass es Absicht war. Und zwar als neulich die Nachricht um die Erde ging, Gott sei aus der Kirche ausgetreten -, wollten viele das nicht glauben. Verständlich, ist ja logisch. "Nicht wahr, Progaganda und Legende", sagten sie, bis die Oberen und Mächtigen der Kirche sich das schließlich erklärten und in einem sogenannten 'Hirtenbrief' folgendes erzählten:
Wir, die Kirche, haben Gott, dem Herrn, in aller Freundschaft nahegelegt, doch das Weite aufzusuchen und aus der Kirche auszutreten und gleich alles mitzunehmen, was die Kirche schon immer gestört hat:
nämlich seine wolkenlose Musikalität, seine Leichtigkeit und vor allem: Liebe, Hoffnung und Geduld;
seine uralte Krankheit, alle Menschen gleich zu lieben,
seine Nachsicht, seine fassungslose Milde, seine gottverdammte Art und Weise, alles zu verzeihen und zu helfen, sogar denjenigen, die ihn stetes verspottet,
seine Herrlichkeit, seine Komik, großzügig bis zur Selbstaufgabe, sein utopisches Gehabe,
seine Vorliebe für die, die gar nicht an ihn glauben,
seine Virtuosität des Geistes überall und allenthalben, auch sein Harmoniekonzept bis zur Meinungslosigkeit, seine unberechenbare Große und vor allem, seine Anarchie des Herzens undsoweiter undsoweiter.
Darum haben wir, die Kirche, ihn und seine große Güte unter Hausarrest gestellt, äußerst weit entlegen, dass er keinen Unsinn macht.Viele Menschen, als sie davon hörten, sagten: Ist ja gar nicht möglich, Kirche ist doch Gott, Gott ist doch die Kirche, ist doch eigentlich gar nicht möglich, entschuldige mal, Gott ist doch die Liebe, und die Kirche ist die Macht, und das heißt die Macht der Kirche. - Oder?
Oder geht es nur noch um die Macht?
Andere sprachen: auch nicht schlecht, Kirche ohne Gott, Leute, warum nicht. Ist ja gar nichts Neues, Gott kann sowieso nichts machen. Heute ist doch wirklich alles anders, nee nee nee, Gott ist out, Gott ist out. War als Dings, als Werbeträger nicht mehr zu gebrauchen. Und die Kirche hat zur richtig Zeit das Steuer rumgeworfen: "Kirche ohne Gott" - das ist der neue Slogan.
Doch den größten Teil der Menschen sah man hin und her durch alle Kontinente ziehen. Und sie sagten: Gottseidank, endlich ist er frei. Komm, wir suchen ihn.
Mi 14.12.05
Kein Eintrag.
Do 15.12.05 10:05
Herr, deine Güte ist groß.
Bitte befördere die religiösen Eiferer dieser Welt noch vor Weihnachten an einen Ort deiner Wahl.
Vielleicht könntest du veranlassen, dass man sie dort von allen Seiten gut anbrät.
Nicht zufällig treiben es die am Übelsten, deren religiös-kulturelle Wurzeln im Nahen Osten liegen, einer seit fast zweitausend Jahren von wechselnden Kolonialmächten beherrschten und unterdrückten Region: Christen, Juden und Muslime.
Also, weg mit ihnen.
Ich kann ihre Idiotie nicht länger ertragen.
Pulverisiere sie. Bitte!
Fr 16.12.05 10:45
Verbringe die Tage mit Nichtstun.
Alles ist geschrieben. Alles ist gelesen. Alles gehört.
Neues schwant zwar, kann aber noch nicht begonnen werden.
So ist das immer beim Dichter M., erst haut er raus, was rauszuhauen ist, dann starrt er gegen die Wand und bläst Trübsal.
Gestern wurde diese ein wenig gemildert.
Von der Lektüre des Feuilletons inspiriert hatt M. seiner Frau nämlich die Frage gestellt, ob er sich Martin Scorceses Bob Dylan Dokumentation kaufen könne, oder ob damit zu rechnen sei, sie unterm Weihnachtsbaum zu finden?
Dumme Frage, sagte Frau M., du weißt doch, dass vor Weihnachten keine CD's, Bücher etc. mehr gekauft werden sollen, aber wenn du schon fragst, bitte .... Sie stand auf, verschwand im Flur, kehrte zurück und händigte ihm ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk aus.
So etwas geschieht hin und wieder im Hause M., M. selbst muss sich jedes Jahr zurückhalten, nicht schon Wochen vor Weihnachten seine Geschenke zu präsentieren.So kam es, dass Herr M. den gestrigen Abend mit der von Scorcese gedrehten Dylan Dokumentation No Way Home verbrachte, die in höchsten Tönen zu loben ist. Glaubt man dem, was man hört und sieht, ist Dylan ein humorvoller, zielstrebiger und nicht zu verbiegender Charakter, der tut, was er will.
Ich erinnere mich allerdings, dass ich die Dylan Chronicles nicht witzig fand.
Vielleicht sollte ich sie noch einmal lesen.
Mit dem Simplicius komme ich nur langsam voran.Und sonst?
Wind jagt Wolken von Nordwest nach Südost.
Krieg der Isobaren ist angekündigt.12:00
Jeder ist es jederzeit gewesen....
Antigone, Schauspielhaus Bochum, Februar 1990 - die Bühne, ein fast leerer dunkler Raum, zwei hohe Lehnstühle, ein brennendes Feuer im Kamin...
Sa 17.12.05 10:32
Sah gestern japanisches No Theater, eine mehr als 1000 Jahre alte Form hoch-symbolisierter Theaterkunst. Ein Germanist aus Tokio hielt eine Einführungsrede, sprach vom Bühnenraum, von der Verbindung der Bühne zum Jenseits, aus dem die Schauspieler aufträten in die wirkliche Welt, von der Kiefer als Lebenssymbol im Bühnenhintergrund, von den Sängern, die rechts säßen und den Musikern, und dann sagte er etwas, das alle zunächst für einen Scherz hielten, aber ernst gemeint war: es sei keine Schande, bei der Aufführung des No Theaters einzuschlafen, im Gegenteil, einzuschlafen sei ein Kompliment für die Darsteller, also schlafen sie ein!
Leichte Verunsicherung unter den akademischen Gästen, denn die Vorstellung in der Aula des Schlosses war in Kooperation mit der Universität zustande gekommen.
Einschlafen? dachte ich.
Also geht es um Entspannung?
Ist No Theater eine Meditationsform?
Ein Musiker tritt auf, würdevoll, langsam, jeder Schritt kalkuliert, gekleidet in einen weiten, prächtigen Kimono. Ein Gehilfe stellt ihm einen Hocker zurecht. Er setzt sich und beginnt. Er spielt eine vierseitige Laute, über deren Steig drei Bünde ragen, handgroße Stimm-Mechaniken. Gespielt wird die Laute mit einem Plektron in Geo-Dreieckgröße aus hellem Holz, mit dem die Saiten angerissen, geschlagen, mit dem aber auf dem Korpus auch der Rhythmus geschlagen wird.
Er singt zum Laute-Spiel. Ein gepresster Gesang ist das, wie nach innen gedrückt, dann, plötzlich, sich öffnend, lauter werdend, ohne für meine Ohren erkennbare Melodiebögen, sehr gewöhnungsbedürftig. Es ist aber (glaube ich) kein Obertongesang. In den ersten zehn Minuten war ich mehrfach am Rande eines hysterischen Lachanfalles, dann hatte ich mich eingehört und spürte eine Art entspannter Tiefenwirkung.
Einschlafen? -
Hätte einschlafen können, wäre ich der Typ, der im Sitzen einschläft, aber das ist mir nicht einmal bei 35 stündigen Busfahrten durch die Anden gelungen. Stattdessen erstauntes Zuhören über diesen eindringlich fremden Gesang, der trotz fehlender, besser: von mir nicht zu erkennender Melodie schön ist.Gesang und Spiel dauern ca. 20 Minuten.
Der Musiker geht, die Bühne ist leer, aus den Räumen dahinter hört man Flötenspiel, hin und wieder Schläge auf eine Trommel, ohne dass ein Metrum erkennbar wäre. Dann treten zwei Trommler, ein Flötist und acht Sänger auf. Auch sie in Kimonos gekleidet, schwarze Kimonos diesmal, während der des Lautespielers braun und grau war. Alle schreiten nach Plan, alles scheint kalkuliert, genau bemessen. Die Sänger sitzen am Boden. Die Trommler und der Flötist auf kleinen Klapphockern.
Von links tritt ein Mann auf. Er ist in ein prächtiges Kostüm gekleidet, könnte Papst sein, ist aber Priester und hebt an zu einer gurgelnden, gepresst klingenden Deklamation, "ich bin der Priester Gyökei des kaiserlichen Tempelns Ninna-ji....." Worte sind nicht zu verstehen, seine Deklamation scheint verrauscht, klingt gruselig manchmal, ich würde mich erschrecken, hörte ich so etwas im Dunkeln, von irgendwoher. Während der Deklamation bewegt sich der Priester kaum.
Der Chor setzt ein, von links tritt Tsunemasa auf, der Geist eines in der Schlacht gefallenen Fürsten, der nur durch das Gebet der Lebenden und das Opfer einer Laute Ruhe finden kann. Tsunemasa ist noch farbenprächtiger gekleidet als der Priester und trägt zudem eine weiße Gesichtsmaske. Auch er deklamiert, tanzt, wenn auch gemessenen Schrittes, zieht einmal seinen Säbel. Begleitet wird sein Vortrag von metrisch nicht auszählbaren Schlägen auf den zwei Trommeln, die von Rufen der Trommler jedesmal angekündigt werden. Ooooo - oooooooo. Aber auch kippende Rufe, dunkel erst, dann in große Höhe umschlagend. Eine weiche Trommel, eine sehr trocken klingende. Jeder Trommelschlag scheint ritualisiert und seine Ausführung an Bewegungsmuster gebunden. Zwischen Deklamation, Trommel- und Flötenspiel singt der Chor, spricht der Priester.
Das alles ist höchst hypnotisch.
Frau M., die neben mir sitzt, behauptet, zweimal kurz eingenickt zu sein.
Ich traue es ihr zu.
Mo 19.12.05 12:15
Alles schön und gut: aber schön? aber gut?
Passend zum Griesel lachen wir still und reden das neue Jahr herbei.
Es kann nur besser werden.
Di 20.12.05 11:52
Es begann an einem Sommerabend. Wir waren zu einem Landgasthof gefahren, wollten auf der Terrasse sitzen, über das Werse-Tal schauen und ein Glas Wein zu trinken. Wir fühlten uns gut. C. zündete sich eine Zigarette auf. Ich hatte neben der Theke einen Humidor gesehen, ich hatte die Zigarren betrachtet und plötzlich gedacht, warum eigentlich nicht auch einmal eine Zigarre rauchen, zur Feier des Tages, was immer das für eine Feier gewesen sein mag. Der Kanzler rauchte Zigarren, warum nicht auch ich, zumal man sie ja sowieso nur schmeckt und nicht inhaliert. Ich bestellte eine. Seitdem bin ich von einer Rauchphase in die nächste getaumelt. Fast zehn Jahre hatte ich nicht geraucht.
Am eigenen Leib zu erfahren, wie Sucht funktioniert, ist interessant und beängstigend. Ich kann ohne Probleme drei, vier, fünf Wochen nicht rauchen, dann knicke ich plötzlich weg und rauche. Jede Zigarette wird dann zu einer beschämenden Niederlage. Ich finde, ich sollte entweder freudig rauchen oder gar nicht. Im Augenblick rauche ich nicht.
Nun muss man nicht denken, dass es gleich wieder dreißig Zigaretten würden, wie früher manchmal, nein, meist pendle ich zwischen 3 und 8, aber das allerseltsamste an dieser Geschichte ist, dass mir das Motiv, nicht zu rauchen, verloren gegangen ist. Als ich 1994 aufhörte, war ich es leid, meine Bronchien rasseln zu hören. Ich hörte auf. Ohne Plan, ohne lange Überlegungen, ich hörte einfach auf. Weil ich nicht mehr wollte. Eigentlich will ich jetzt auch nicht, aber eine Stimme sagt oft, es sei doch egal, das Leben könne jeden Augenblick vorbei sein.Ich bin gespannt, wie es diesmal ausgeht.
Mi 21.12.05 11:04
Gestern plötzlich der Anruf, meine auf 2 Wochenstunden beschränkte Anstellung als Leiter einer Literaturwerkstatt an der Realschule B. sei vom Personalrat gekippt und erlösche zum 23.12.05. Ich hatte zwar gerade erst einen Arbeitsvertrag bis 31.01.06 unterschrieben, aber der ist nun Makkulatur. Einerseits ist das schade, andererseits hätte ich sowieso zum 31.01. aufgehört, denn die Kosten für die Reise nach B. und zurück haben den Lohn meiner Arbeit doch sehr reduziert. Bleiben wird die Erfahrung. Bleiben wird auch die Erkenntnis, dass meine Entscheidung, nicht Lehrer zu werden, goldrichtig war. Gleich fahre ich also zum letzten Mal zur Literaturwerkstatt.
Fr 23.12.05 10:45
Muss für's Fest arbeiten.
Morgens, mittag und abends je drei Tabletten schlucken, im Bett liegen und schwitzen.
Habe aber das Schlimmste wohl schon hinter mir. Hoffe ich.
Schwitze, spucke, huste und schnaube.
Hach ja, schön.
Und was erfuhr ich gestern Abend? -
Mein Vertrag ist nun doch bis zum 31.01.06 gültig. -
Schade, hatte schon mit der Abfindung gerechnet. War ja nicht blöd, als ich den Vertrag unterzeichnete. Ausstiegsklausel, vorzeitiger Vertragsabbruch, alles stand drin und die Summen waren stiebensellig!
Nun ja. Auch das werden wir verschmerzen.
PS. Haben Sie den Papst gesehen? Hatte der eine hübsche Mütze auf!
Ich hab ihn gleich angerufen und für Heiligabend verpflichtet.
Freue mich schon, wenn er durch den Kamin rummst und meine Kinder mit großen, staunenden Augen vor ihm stehen!!!
Sa 24.12.05 8:52
Heute vor 50 Jahren
Der Baum steht geschmückt auf der Kommode neben dem Fenster. Frau M. sitzt in der Küche und macht Heringssalat. Ihr Mann streift rastlos durchs Haus. H. hockt bei seiner Mutter. K. sitzt vorm Radio im Wohnzimmer und hört Negermusik auf AFN. Sie hat das Radio leise gestellt. Ihr Vater kommt herein. Sie rückt nah an den Lautsprecher. Er sieht sie an und sagt: "Muss das sein, diese Musik. Es ist Heiligabend!"
"Es ist doch ganz leise."
"Im Krieg haben wir geweint, wenn Weihnachten war."
K. zuckt die Achseln.
"Werde nicht unverschämt!"
"Wie?"
"Ihr wisst doch gar nicht, wie gut ihr es habt!" Er geht in die Küche, umkreist ein paarmal den Tisch, setzt sich und erzählt, wie er einer alten Polin einmal Kohlen organisiert hat. Es war Winter und die Frau war verzweifelt. Das war gefährlich für ihn. Deutsche Soldaten durften armen alten Polinnen keine Kohlen besorgen.
H. ist beeindruckt. Während er noch darüber nachdenkt, wieso sein Vater in Polen war, sagt der, man solle bloß nicht auf die Idee kommen, ihm etwas zu schenken. Die Familie schweigt. Die Geschenke sind eingepackt. Jeder weiß, wie er ist. Bis jetzt ist ja alles glimpflich verlaufen. Wenn er nur nicht im letzten Augenblick noch verrückt wird, und den Weihnachtbaum durchs Fenster wirft, wie vor zwei Jahren.
Plötzlich steht er auf, probiert den Heringssalat, verzieht das Gesicht und sagt: "Der wird auch nicht besser, wenn du jetzt noch Gurken reinschneidest."
Seine Frau schluckt und sagt nichts.
H. verlässt das Haus, um Tante Änne vom Bahnhof zu holen.
Die Stadt ist wie ausgestorben. In vielen Fenstern brennen rote Kerzen. Für unsere Brüder und Schwestern im anderen Teil Deutschlands brennen die, hat seine Mutter gesagt. H. weiß nicht, was das bedeutet. Er liebt diesen Gang durch die festlich beleuchtete Stadt, vor allem, weil er allein gehen darf. Durch die Bahnhofstraße fegt ein eisiger Wind. Auf dem Dach der Fabrik leuchtet ein Christbaum.
Auch vorm Bahnhof steht einer, eine haushohe Fichte.
Die Bahnhofshalle ist weit und hoch. Ein einsamer Beamter tut Dienst. H. wünscht ihm frohe Weihnachten.
Tante Änne kommt aus Rheine. Sie ist seine Lieblingstante. Als ihr Zug einläuft, kriecht er unter der Absperrung durch und läuft ihr entgegen. Sie trägt zwei große Taschen. In jeder sind Pakete.
"Wie geht's zu Hause?" fragt sie.
"Gut", sagt H..
Sie gehen nach Hause.
Die Stadt ist voller Straßensperren aus heiliger Nacht. Sein Vater ist wie ausgewechselt.
H. weiß nicht mehr, was er denken soll.
Mo 26.12.05 17:14
Schlafen, essen, lesen, Finderlohn schreiben. Das heißt, Schreiben ist die falsche Beschreibung dessen, was ich seit etwas über einer Woche tue. Ich finde Texte und stelle sie zusammen. Finderlohn also, wofür sonst gäbe es diese Texte, die in meinen Speichern seit Jahren darauf warten, ausgebeutet zu werden.
Tiefe Dunkelheit mittlerweile.
Herr Dylan singt.
Hin und wieder greife ich zu meiner Weihnachts-Ukelele und spiele ein wenig.
Di 27.12.05 9:30
Nun aber husch husch, in 30 Minuten öffnen die Geschäfte, los, kaufen, wer nicht kauft, verliert seine bürgerlichen Ehrenrechte für 10 Jahre. Wollen Sie das riskieren?
16:55
Es ist wahr, das China zu den großen Umweltverschmutzern dieser Erde gehört, wahr ist aber auch, dass es den gelben Sack dort schon seit Menschengedenken gibt.
Mi 28.12.05 13:28
Klar und kalt. Hier und da Schnee. Entspannte Session gestern Abend. Ein Rotkehlchen auf dem Garagendach. Aufgeplustert. Eine Absage. So verabschiedet sich das Jahr.
Alles Gute.
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1. Hans Jakob Christoph von Grimmelshausen, Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch, 1668 // 2. ebd. //
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