Dezember 2015 www.hermann-mensing.de
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Di 1.12.15 10:09
H. sagt, ihm sei schwindlig. Wenn er Büro sitze, rolle die Welt seltsam herum, und er wüsste gern, woran das liegt. An der Welt, sagt sein Freund M., schon seit Jahren tot. Trotzdem steht M. oft neben oder hinter ihm und spricht so laut, dass H. befürchtet, alle könnten ihn hören, aber die Wahrheit ist, er ist allein im Büro. Eigentlich ist es auch gar kein richtiges Büro, er nennt es nur so. Es ist einfach ein Zimmer in seinem großen Haus.
Als H. noch jung war, hat er ein Lied geschrieben. Er hatte kaum Freunde, aber eine Gitarre, ein Klavier und ein Tonband. Also nahm er das Lied auf und hatte damit soviel Erfolg, dass er bis heute nichts tun muss. Da er das und die Welt nie begriffen hat, findet er es auch nicht seltsam, mit Toten zu reden. Er hält sich für einen romantischen Spaßvogel mit Sinn für das Verschwimmen der Ebenen der Realität, von denen Herr Hawking so gern redet.
Schwindlig? sagt M., der kurz bevor er starb einen Roman an einen Verleger verkauft hat, Sohn eines großen Waschmittelherstellers, vielleicht des größten Waschmittelherstellers überhaupt, der zu M.s Kindertagen in Fernsehwerbespots kilometerlange Wäscheleinen über Berg und Tal spannen ließ, quasi eine kommerzielle Vorwegnahme der H. manchmal merkwürdig anmutenden Aktionen eines rumänischen Künstlers und dessen Frau mit den feuerrotesten Haaren, die die Welt je gesehen hat, klimakteriumrot, sozusagen. M .hatte sich vor Freude betrunken, und war dann mit dem Simca eines befreundeten Gitarristen an genau der Ecke verunglückt, an der die Familie B. ein Restaurant betreibt, deren Sohn 9/11 in einem der Twintower starb, aber das ist eine andere Geschichte.
Mi 2.12.15 20:20
M. liegt auf dem Sofa. Überm Dachfirst des gegenüberliegenden Hauses glüht der Himmel. H. sagt: Willst du dir das entgehen lassen? M. sagt: Stör mich nicht, ich schlummere. H. lacht. H. sagt: Wenn du deinen Arsch nicht auf der Stelle aufs Rad schwingst und in diesen Himmel fährst, bist du selbst schuld. Okay, sagt M., steht auf, zieht sich an und ist schon unterwegs. Der Himmel ist in feinen Cirrus-Wolken zum Horizont farblich gestaffelt. Ganz zu Anfang kommt zartes Grau. Dann mischt sich Farbe unter. Aus Grau wird Anthrazit, dann Lila, aus Lila wird Rosa, Rosa wird zu Rostrot und Orange, das alles vorm Kamm der Baumberge, hinter denen das eigentliche Drama des Sonnenunterganges stattfindet. M. ist froh, dass H. ihn aufgescheucht hat. Auf dem Rückweg, es herrscht längst tiefe Dunkelheit, besucht er A., erzählt ihm Geschichten, und trinkt nebenher zwei bis vier Dawlhinnie. Dann fährt er heim.
Do 3.12.15 10:30
Noch bevor M. A.s Haus erreichte, der in Nachbarschaft zu den Hülshoffs lebt und die alte Freifrau noch kannte, die mittlerweile tot ist oder schwer an Demenz erkrankt in einem Heim lebt, eh also die durch das Trinken von Dalwhinnie gewünschte Aufheiterung inklusive des Verschwindens aller Weltprobleme einsetzte, sah er, das sich vorm dunklen Wald etwas Leuchtendes absetzte, ein flach abfallendes Dach, unterbrochen von gelb leuchtenden Fenstern in drei oder vier Reihen bis zur Traufe. Die Seite des Gebäude war auch mit hell leuchtenden Fenstern versehen, war aber kein Reistall, wie es so viele gibt in dieser Gegend, oder vielleicht doch, denn die reitenden Mädchen und Frauen in Westfalen sind gar nicht zu zählen, und wo früher Landwirtschaft war, sind heute Reitställe. Was immer M. gesehen haben mag, es hatte Magie, das ist nicht von der Hand zu weisen. Eine im Dunkel liegende Wiese, ein geheimnisvolles Gebäude vor den kahlen Kronen eines Waldes, darauf kann man schon mal einen Viertelliter Dalwhinnie trinken, um vielleicht bei Tage nachzuschauen, was es mit diesem Gebäude auf sich hat, aber dringend ist das nicht.
Fr 4.12.15 14:08
Ein Tag wie früher Frühling. Die Sonne gleißt. M. verengt die Augen zu Schlitzen. Ein Prälat wartet an einer Ampel auf grün. Er trägt einen beigen Mantel, eine schwarze Hose und einen schwarzen Pullover, aus dem der Pfaffenkragen schaut. Seine Wangen sind schlaff, der Kopf ist gesenkt. Er ist so alt wie ich, sagt M. - Glaubst du? fragt H. - M. nickt. Eine Wolke zieht das Licht fort. Der Prälat schaut auf. Als das Licht wiederkommt, wird die Ampel grün. Der Prälat überquert die Straße und geht in eine Apotheke.
Sa 5.12.15 9:35
Da war ein erschütternder Schlag, fast zeitgleich ein Fluch, aber ob beides einem anderen Menschen galt oder der Materie, war nicht zu ermitteln. M. saß aufrecht im Bett und fragte H., ob er das gehört habe. H. sagte, wofür er ihn halte. Für einen Blödmann, sagte M., worauf H. erwiderte, wenn er Streit wolle, solle er nur weiter so reden. M. beschwichtigte. Ich meine ja nur, sagte er. Nur meinen sei nichts, worauf man sich etwas einbilden könne, sagte H. Er wolle sich auch nichts einbilden, sagte M., er wolle eigentlich nur wissen, ob im Nachbarhaus jemanden erschlagen worden sei oder nicht. Eher nicht, sagte H., wenngleich die Stille verdächtig klingt. Vielleicht sollten wir die Eingänge überwachen, schlug M. vor. Falls Teppiche oder Truhen herausgetragen werden, könnten wir einen anonymen Notruf absetzen.
So 6.12.15 17:56
Bis spät in den Abend hat M. das Nachbarhaus beobachtet, Teppiche und Truhen wurden nicht herausgetragen. Also könnte es das Nilpferd gewesen sein, dass man nebenan im Bad untergebracht hat.
20:15
H. wanderte heute gut 10 Kilometer, jetzt ist er kaputt wie ein Hund und hat niemanden, der sich zu ihm legt. Er würde am liebsten weitertrinken wie gestern. Einen Film sehen, trinken, auf dem Sofa sitzen mit jemandem im Arm, der tief schläft und in einem Moment kurzen Erwachens behauptet, der Fritz Lang Film habe eine schöne Bildsprache. M. rät H., er solle ins Bett gehen. H. lehnt ab. Viel zu früh, sagt er. Außerdem, weiß man denn, ob der Terrorist nicht schon da liegt und einem den Kopf abschneiden will. Nein, sagt M., das weiß man natürlich nicht, aber wir machen ja jetzt Krieg gegen die, und Krieg ist immer gut. Stimmt, sagt H., Krieg ist die beste Medizin. Da knistert das Geld, da kratzen ordentlich welche ab, Krieg macht Platz, deshalb muss Krieg unbedingt immer mal wieder sein. Du hast es begriffen, sagt M. Hast du schon Waffen gekauft? Ja, ja, sicher, sagt H. Morgen erschieße ich die Muslime von nebenan. Und wen erschieße ich? sagt M. Irgendeinen, sagt H. Schließlich ist Krieg.
Di 8.12.15 21:51
Êrzähl mir vom Glück.
Glück ist, wenn man nicht in dem Auto sitzt, das in einen Unfall verwickelt wird.
Aber ich saß neben dir. Wir hatten getrunken. Eigentlich hätte ich auch tot sein müssen.
Dann müsstest du es doch wissen. -
Aber ich weiß es nicht.
Schade. Ich auch nicht.
Manche sagen, tot sein wäre Glück. Himmel. Ewige Ruhe. Du weißt schon...
Ich bin deine Fantasie, und kann nicht mehr wissen, als du. Und vom Himmel weiß ich schon gar nichts.
Do 10.12.15 15:22
Beanspruche das Alleinstellungsmerkmal: Ratlos.
Fr 11.12.15 10:43
Alles war aufgeschrieben, nun blieb nur noch die Frage, ob es erhältlich war. Die Erinnerungen, die mit diesem Tage zusammenhängen, sind schöne Erinnerungen an ein vergangenes Leben. Das gemeinsame Frühstück, der große Zettel, auf dem alles steht, das Herumgehen, das Nachfragen, das Entdecken, schließlich das Essen nach erfolgreichem Abschluss aller Bemühungen, man wird seine Ruhe haben bis zum nächsten Jahr, denn dann geht alles wieder von vorn los. Aber ich bin allein unterwegs, und das schon im siebten Jahr, und ich bin kurz davor, den Kopf zu verlieren, der mit der Dunkelheit kämpft, die ihn am späten Nachmittag anspringt wie ein Tier und sogar den Schlaf stört. Zehn Tage noch, dann werden die Tage wieder länger, es geht hin und her, das Leben ist turbulent, und man überlegt, ob man noch sprechen soll oder für immer schweigt.
Sa 12.12.15 12:30
Die alten Männer haben gerufen. In ein paar Stunden werde ich mein Schlagzeug in ein geliehenes Auto packen und aufs Land fahren. Dort geschieht dann das Übliche. Vier alte Männer reden nicht viel, vier alte Männer trinken Schnaps, Bier, sie kiffen und machen Radau, den sie Musik nennen, und natürlich hoffen sie wieder auf Wunder. Das Erstaunliche ist, dass diese Wunder sich fast jedesmal einstellen. Wenn diese vier alten Männer ihre Instrumente ein bisschen besser beherrschten, wäre so eine Nacht kaum noch auszuhalten, aber es ist, wie es ist, sie werden dennoch viel Freude haben, irgendwann in tiefer Nacht werden sie in ihre Schlafsäcke kriechen, und am Morgen geläutert heimfahren zu ihren Frauen, ihren Kindern, zurück in die Einsamkeit ihrer langen Leben, die bis Montag dauern oder noch hundert Jahre, wer weiß.
So 13.12.15 14:15
Art Blakey war schon ein alter Mann, als ich ihn spielen hörte. Er grunzte und brummte dabei, dafür war er berüchtigt, tat aber im Grunde nichts weiter, als die Strukturen seines Spiels mitzusingen. Indische Tablaspieler reihen Silben aneinander, wo immer komplizierte Rhythmen gespielt werden, gibt es Ähnliches. Ich hatte mir das schon oft vorgenommen, aber meist war es so, dass ich mein Vorhaben in dem Augenblick, in dem ich zu spielen begann, vergessen hatte, weil beim Schlagzeugspielen soviel zu tun ist. Arme und Beine sind beschäftigt, die Ohren gespitzt, die Augen gehen hin und her. Schlagzeugspielen ist komplex, sehr komplex. Aber gestern war alles anders. Gestern habe ich vom ersten Augenblick an darauf geachtet, mitzusingen. Lauthals zuerst, was man auf den Aufnahmen bestimmt hören wird, im Verlauf aber immer leiser werdend, manchmal nur noch summend, dann nicht einmal mehr summend, sondern nur noch im Kopf intonierend, und das hat gut funktioniert. Komplizierte Figuren lassen sich, wenn sie gesungen werden, leichter spielen und noch leichter wiederholen. Zudem spielt man präziser. Ich bin gespannt auf die Ergebnisse. Ansonsten heute tiefe Erschöpfung. Die Session ging bis halb zwei.
Mo 14.12.15 18:01
Noch eine Woche bis zur Wintersonnenwende. Wie ich mich freue.
Do 17.12.15 13:49
Möglich, dass H. zu wenig gegessen hatte. Auch möglich, dass H., als M. ihm die Termine für den Tag verlas, geglaubt hatte, es gäbe hier und da bestimmt eine Kleinigkeit, aber da H. lag falsch. Es gab zwar einmal Kaffee und ein paar Süßigkeiten in einer von Bücherstapeln, Zeitschriften und Krimskrams überbordenden, gemütlichen kleinen Wohnung, später auch Kinderpizza, aber als H. sich gegen Abend zu Fuß auf den Weg in die Stadt machte, fühlte er sich matt. Außerdem war ihm zu warm. Fast am Kreisverkehr fürchtete er zu kollabieren, sodass er Rettung in einer Cola Life suchte, für die er fast zehn Minuten in einem Billigdiscounter anstand. Nicht einmal der Warenscanner funktionierte richtig. Während H. also wartete, musste er zusehen, wie ein vielleicht zehnjähriger Junge beim Herumstreifen zweimal Dinge aus den Regalen riss, ohne dass er sie aufhob oder eine Mutter oder ein Vater ihm Beine gemacht hätten.Schließlich konnte H. den Laden verlassen, die Cola (die erste seit Jahren) trinken, und langsam wurde ihm besser. Aber ihm war längst noch nicht gut, erst eine Bratwurst, im Vorübergehen gekauft und im Weitergehen verspeist, nahm ihm das Gefühl baldigen Kollabierens. Dann, schließlich, ein Abendessen, Pretty Woman im Fernsehen und Schlaf. Heute stiller Frühling, die Mandelbäume blühen, die Welt steht Kopf, und das Meer wartet in Sichtweite. Es wird sich bis morgen gedulden müssen.
22:30
Starke Scheinwerfer beleuchten die Torminbrücke von unten, so dass sie sich auf der Wasseroberfläche spiegelt. Das sieht aus, als könne man übers Wasser laufen, aber schon kleinste Wellen zerstören diese Illusion.
Mo 21.12.15 16:34
Wenn wir von Schönheit sprechen...
23:41
Holländische Treppenhäuser sind oft steil, es gibt Haarnadelkurven und die Stufen sind so schmal, dass man besser seitwärts auftritt. Ganz ähnlich ist es im Parkhaus Kaperton in Alkmaar, nur ohne Treppen. Man denkt nichts Böses, wenn man einfährt, man freut sich, dass man einen Parkplatz hat, aber gleich in der ersten Kurve sieht man Kratz- und Lackspuren an den Wänden, und die ziehen sich durch alle Stockwerke. Tausende Euro Lackschäden. Da mein Auto ein Mietwagen ist, dessen Abmessungen ich nicht genau kenne, bin ich besonders vorsichtig. Die Abstände links und rechts in den Kurven schrumpfen auf Zentimeter. Ich schwitze. Erst im vierten Stock finde ich eine Parkbucht, parke rückwärts ein und steige aus, aber schon auf dem Weg zum Ausgang denke ich an die Ausfahrt, und das bleibt so, während M. und ich die Stadt erkunden. Als ich schließlich ausfahre, sieht M. ein Schild, das überm Aushang hängt. Eine Werkstatt für die Beseitigung von Lackschäden wirbt für sich.
Di 22.12.15 16:09
Ich will, dass sie herkommt, sie soll neben mir sitzen, damit ich weiß, dass alles gut ist, aber nichts ist gut, ich bin Witwer. Sie wird also nicht neben mir sitzen. Ich sitze allein, die Weihnachtseinkäufe sind erledigt. Donnerstag werden alle die Supermärkte stürmen. Sie schreien, wir werden verhungern, wir werden verdursten. Ich wage mich nicht mehr vor's Haus. Hieb- und Stichwunden sind an der Tagesordnung, die Polizei betet, statt Streife zu fahren. In den Familien bricht Krieg aus, der nur mit starken Medikamenten sediert werden kann. Ich freue mich. Meine Freundin kommt auch.
22:49
Der Ort ist eine architektonische Katastrophe. Man fährt nur hin, weil das Meer dort ist und nicht weg kann. Vorm Strandpavillon Süd muss gewarnt werden, der Besitzer hat gewechselt, jetzt können sie nicht einmal mehr Pommes und Frikandel Speciaal, was sie sonst fast überall können. Kibbeling können sie auch nicht, und Preise haben sie, dafür gibt es ein paar Hundert Meter weiter im Zilte Zoen ein gutes Essen, aber ein richtig gutes. Überall auf den Straßen liegt Sand. In den Dünen steht eine 70er Jahre Investitionsruine mit Ferienwohnungen, die man gnädig wegsprengen sollte, das ginge gefahrlos, niemand würde verletzt, Licht ist nirgendwo an. Sonst aber ist alles schön. Die Dünen, das Meer, vor allem das Meer, der Himmel, das Risiko, hier die Nerven zu verlieren, ist auch schön, aber man verliert sie nicht. Am Allerschönsten ist der Blick aus dem Zimmer. Da bräuchte man nirgendwo mehr hin, man könnte einfach rausschauen und schauen, wie die Tage wieder länger werden. Aber man geht dann doch raus, und während man draußen ist, sagt jemand einem schöne Dinge und bläst Rauch in die Nacht. Da war man glücklich, wusste aber, dass man keinem Wort trauen kann, nirgendwo, von niemandem, niemals, alles ist nur so dahergesagt, selbst, wenn es ehrlich gemeint ist. Ja, schade, ich weiß, das Leben ist auch an wundervollen Orten mit liebsten Menschen immer nur Prüfung, immer steht der Prüfer hinter einem, und wer etwas falsch macht, kriegt es zu spüren. Trotzdem, danke, und immer wieder gern im Zimmer mit Aussicht.
Mi 23.12.15 10:09
Schädelweh.
Gleich beim Aufstehen Brummen im Kopf.
Also aufs Rad, reisen in frischer Luft.
16:53
Kein Schädelweh mehr.
Haus geputzt.
Alles ruhig.
Bunter Abendhimmel.
Später tanzen.
Was kümmert mich Weihnachten.
19:13
Im Pauschalclub um die Ecke waren heute gegen eins, als ich mit dem Rad vorbei fuhr, alle Parkplätze besetzt. 130 Euro zahlt man, dann kann man pimpern so viel man will, mit einer, mit zweien, es kommt drauf an, was das Glied hergibt.
So 27.12.15 11:58
Herr M. liest seit Wochen "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969" von Frank Witzel. Harte, aber lohnenswerte Arbeit, denn es handelt sich um Weltliteratur, wie man sie nur selten. in die Finger bekommt. Noch gut 300 Seiten, d.h. viel Vergnügen, Staunen, Kopfschütteln, Wundern, Lachen, Begreifen und Nichtbegreifen.
15:39Wenn man das Kaperton verlässt und über den Dijk auf die andere Straßenseite geht, ist man schon fast auf dem Achterdam, eine etwa hundertfünfzig Meter lange Gasse, die an einer Gracht endet. Links und rechts (kurz nach der Mitte nur noch links) Häuser mit roten Vorhängen verhängten Fenstern. Hinter keinem ist Licht oder ein Zeichen von Leben, aber es ist ja auch erst halb zwei. Doch, in einem sitzt eine asiatische Frau seitwärts auf der Fensterbank. Im Raum rotes Lichts. Sie raucht, sie scheint unbeteiligt, entspannt. Mitte der Straße stehen rechterhand drei Männer, zwei davon Türken oder Araber. Letztere jung und voller Testosteron. Der Mann, der sich kurz vor den beiden an eine Hauswand lehnt, ist viel älter. Kaum Testosteron. Ich vermute, eher ein Bauarbeiter oder sogar Seemann, ja, Seemann, das ist kitschig schön, denn Alkmaar ist durchzogen von Grachten und Kanälen. Wenn die niederländischen Deiche brächen, würde es sofort im Meer versinken.
Mo 28.12.15 11:50
Gegen Ende Oktober habe ich einen Kilometerzähler ans Rad gebaut. Mittlerweile zeigt er 1429 Kilometer. Ich hätte aber gern 1500. Das Wetter ist schön. Fünfzig, sechzig könnte ich hinkriegen heute. Also, was ist. - Ja, ja, stimmt schon, ein wenig ermüdet bin ich, schließlich habe ich mir Weihnachten aus dem System getanzt gestern, trotzdem.
18:11
Als sie Anfang Dezember letzten Jahres vor der Tür stand, trug sie einen schokoladenfarbenen Wollmantel von bester Qualität, ein Pelzhütchen, allerdings hatte sie, sagte sie, bei den Handschuhen daneben gegriffen, das waren zwei verschiedene. Klein, eher zierlich, ein faltiges Gesicht, aber wach, blaugraue Augen, gerötete Bindehäute, wie alte Menschen das manchmal haben. Vom Weihnachtsmarkt kommend war sie an der Dorffeldstraße statt an der Alten Dorfstraße ausgestiegen, und jetzt hatte sie ein wenig die Oriertierung verloren.
Ich bat sie herein, wir saßen eine Weile in der Küche, dann fuhr ich sie heim. Sie wohnt kaum 10 Kilometer entfernt. Schon ein paarmal bin ich seither an ihrem kleinen Häuschen vorbeigefahren, und immer dachte ich, wie es ihr wohl geht, hatte mich aber nie getraut, zu schellen. Heute zupfte sie Unkraut in ihrem Vorgarten. Ich hielt an, ich grüßte und fragte, ob sie sich an mich erinnere. Nein, sagte sie, aber als ich dann sagte, wir hätten zusammen in meiner Küche gesessen, letztes Jahr, wusste sie es wieder. Wir sprachen über das Unkraut, das schon wieder wächst und dann sagte sie, sie hätte Reibeplätzchen gebacken, ob ich vielleicht welche wolle. Ja, sagte ich, gern. Wir gingen in ihr Haus. Ein bisschen rummelig, ein bisschen dunkel, in der Küche ein schwedischer Ofen, "den hab ich mir gekauft", die Reibeplätzchen noch warm auf einem Teller, der mit einem Topfdeckel abgedeckt auf dem Tisch steht. Und Apfelmus. Ob ich Apfelmus wolle? Gern, sage ich. Wir sprechen über Weihnachten, über die schlechten Reibeplätzchen auf dem Weihnachtsmarkt, sie erzählt, dass sie im Spielcasino Coesfeld war und Parfüm gewonnen habe, fünfundachtzig ist sie nun, der Vater seit 45 Jahren tot, morgen ist Jahrestag, und sie, immer allein, nie verheiratet, Heiligabend bei einer Freundin. Es ist nicht leicht, sagt sie, aber es geht. Hellwach. Und die Dachrinne war kaputt, sagt sie, als wir wieder auf der Treppe vor ihrem Haus stehen, 900 habe das gekostet, müsse sie abzahlen, so'ne dicke Rente habe sie ja auch nicht. Sie heißt Gausepohl, Anneliese. Was für ein schöner Name, sage ich.
PS. Am Ende dieser Reise steht mein Kilometerzähler auf 1479 KM, ich werde also die 1500 in diesem Jahr locker schaffen.
Di 29.12.15 10:30
Es ist Nacht, ich bin auf dem Heimweg in Höhe des hinteren Aa-Sees. In einiger Entfernung steht ein Hubschrauber in der Luft wie ein Raubvogel, der etwas beobachtet. Ich höre das aggressive Schlagen der Rotorblätter. Er steht über der Autobahn. Da ich neugierig bin, ändere ich meine Route und fahre über die Hauptstraße. Auf der Autobahnbrücke steht ein Polizeiwagen. Er versperrt die Fahrradspur. Ich muss ausweichen. Ich halte an. Ein Polizist mit Taschenlampe kommt auf mich zu. Was los sei, frage ich, denn auf der Autobahn ist nichts Ungewöhnliches zu sehen. Da will sich jemand umbringen, sagt der Polizist. Ich nicht, sage ich. Dazu sind sie ja auch zu alt, sagt er. Zu alt ist man nie, antworte ich und fahre weiter. Und dann male ich es mir aus. Wie nach den Feiertagen jemand die Nerven verliert. Wie jemand nach einem Streit, nach Handgreiflichkeiten vielleicht und nach Einsicht in die Aussichtslosigkeit seiner Existenz Hals über Kopf die Wohnung verlässt, "ich bring mich jetzt um" schreit, "ich spring von der Autobahnbrücke", irgendsoetwas, wie eine Frau ihn bittet, er solle zurückkehren, folgen kann sie ihm nicht, sie hat ja die weinenden Kinder an den Beinen, wie der Mann im Dunkel verschwindet und sie die Polizei ruft.
16:00
Wenn das Recht auf das Geheimnis nicht gewahrt ist, befinden wir uns im Totalitarismus. (Jacques Derrida)
Mi 30:12.15 00:20
ich habe ein geheimnis
weiß nicht mal, ob es meins ist,
es stand da und es lachte,
es drehte sich und machte
den abendhimmel hell,
die stunden lang und schnell.
geheimnis, sag ich, bleibe
niemals, sagt es, ich schreibe,
noch heute ein gedicht
aus frischem abendlicht.
wie schön, sag ich, geheimnis,
wenn du wieder daheim bist,
kannst du es mir dann schicken,
ohne es durchzuknicken,
im umschlag - din-a-4
dann bleibt's für immer hier.
ja gern, sagt mein geheimnis,
das so gemein geheim is,
daß nicht mal ich was weiß
das ist vielleicht ein scheiß.
Do 31.12.15 00:10
Gestern sandte mir jemand dies folgenden Fotos. Sie entstanden 1965. Herr M. macht eine Lehre als Speditionskaufmann.
Ein Lkw mit Baumwollballen ist angekommen und muss ausgeladen werden. Vorher aber müssen alle alles überlegen.
Wieviel Ähnlichkeit Herr M. mit seinem Vater hat!
15:59