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Mi 1.12.21 17:45 Krise Tag 629 grau, regnerisch

M.'s Metamorphosen

Herr M. macht den Dezember zum Tollhaus. Er wird sich jeden Tag Charaktere ausdenken. Die meisten werden kaum eine Viertelstunde überleben. Alle heißen Herr M., was letztlich nichts Neues ist, aber für die Vorweihnachtszeit, hat er gedacht, übertreibt er. Mal sehn, ob er als Käfer endet.

Herr M. hat im Supermarkt eine Staude Bananen beim Toilettenpapier abgelegt, eine Dose Kidney Beans in den ADAC Ständer gestellt, und erregt erklärt, warum er ohne Maske herumgehen dürfe. Er nämlich scheiße sich nicht ins Hemd. Er könne denken. Sie wären von Gates gechipte Zombies, sie sollten mal sehn, wie sie in drei Jahre alle abkratzten. Da hätten Sie mal hören sollen. Herr M. verschwand, eh Ordnungskräfte geordert wurden. Vorm Eingang der Stadtverwaltung hielt er eine kurze Rede, einen unvollständigen Satz eher, über das Impfen. Nie zuvor habe es so viele valide Daten nach Erprobung eines neuen Vakzins gegeben, wie bei der Entwicklung der gegenwärtigen Impfstoffe, hat er gesagt, aus dem nächstliegenden Mülleimer einen Karton gefischt, hochgehalten und erklärt, Doc Brown habe 1985 den Flux-Kompensator erfunden, einen Reaktor, der aus Restmüll atomare Kraft schöpfe, kaum größer als ein Schuhkarton, aber die Kinderblut trinkenden Eliten und Reptiloiden verhinderten den Einsatz dieser epochalen Erfindung. Das Erstaunen der fünf Zuhörer war groß. Herr M. hatte den Eindruck, sie hatten von Doc Brown nie gehört. Dass es Kinderblut trinkende Eliten gäbe, glaubte niemand, aber Strahlen, die man mit Aluhüten ableiten könne, vielleicht doch. Die Glocken begannen zu läuten. Herrn M. wird bei Glockenläuten warm ums Herz. McFly kam aus dem Reisebüro gegenüber der Stadtverwaltung. Hi Doc! sagte er. Hi! sagte Herr M.


Do 2.12.21 14:55 Krise Tag 630 grau

Aufhören! Herr M. schüttelt den Kaktus. Sofort aufhören! Aber der Kaktus schießt weiter Stacheln. Zwei haben Herrn M. schon getroffen. Einer sitzt unterhalb des rechten Augen überm Wangenknochen, der andere im Kinn. Herr M. dreht aus der Schußbahn, greift das Prisma aus schwerem Kristall und zerschlägt den Kaktus. Da tritt eine Frau ein. Der Kaktus gehört ihr. Sie hat ihn seit dreißig Jahren. Sie erstarrt.
Dann sagt sie: Bist du verrückt geworden?
Herr M. zeigt auf die Stacheln in seinem Gesicht und schüttelt den Kopf. Der hat das mit Absicht getan.
Also bist du verrückt geworden. Kaktusse schießen keine Stacheln.
Doch. Ich habe Beweise.
Ich mache dir einen Beruhigungstee.
Ich wüsste nicht, dass ich mich beruhigen müsste. Ich müsste schreien und wäre immer noch nicht verrückt. - Willst du den Kaktus beerdigen?
Ja.
Und wo? Im Friedwald.
Das müssen wir aber heimlich tun, weil ... du weißt schon.
Sie nickt.
Herr M. baute einen Mahagonisarg. Wenn man ihn aufklappt, geht ein kleines Licht an. Wenn man ihn schließt, erklingt Kaktusmusik. Herr M. war sehr zufrieden. Die Frau auch. So ein schöner Sarg, sagte sie. Nicht wahr, sagte Herr M., hackte der Frau einen kleinen Finger ab, legt ihn in den Sarg und vergrub ihn. Seine Frau ließ sich nicht scheiden. Sie sagte, sie hätte sich den Finger mit der Brotmaschine abgeschnitten. Sie lebten noch lange und waren oft glücklich. Wenn die Glocken läuteten, wurden ihnen oft unverzüglich warm, und sie hatten Sex, bis ins hohe Alter.


Fr 3.12.21 11:45 Krise Tag 631 grau

Zum Ersten. Zum Zweiten und zum Dritten. Als Herr M. den Zuschlag auf den Mercedes 770 aus Hitler Wagenpark bekam (er hatte online geboten), konnte er sein Glück kaum fassen. Das war das Auto, mit dem er herumfahren und Juden, Muslime und Neger erledigen könnte. Die Juden konnte man heutzutage nur schwer erkennen, sie trugen selten Kipa. Wahrscheinlich ahnten sie, dass Herr M. unterwegs war, aber zum Glück gab es Türken/Innen, Kuhaugen und Neger/Innen.

Von der Polizei hatte Herr M. kaum etwas zu befürchten. Die interessierte sich für das Clan-Wesen, das prächtig gedieh, zudem war sie an den Grenzen mit dem Erschießen von Flüchtlingen ausgelastet. Herr M. zerschoss allerhand, (u.a. eine LED Fassadeninstallation gegenüber vom Cineplex), eh ihm ein erster Treffer gelang, ein Golden Retriever an der Leine einer arischen alten Frau. Es tat ihm leid. Der Hund überlebte. Dem großen Neger mit Goldkette, der als Sozialpädagoge in einem Altenheim arbeitet, mussten die Ärzte noch Monate später Schrotkugeln aus den Beinen entfernen. Herr M. hatte dem in Oldenburg geborenen Sohn eines Afrikaners und einer Bremerhavenerin die Geschlechtsteile wegschießen wollen, damit er sich nicht ständig vermehrt, war aber nicht zufrieden mit dem Erreichten. Er wollte etwas Spektakuläres, und investierte in automatische Waffen. Der Überfall auf eine Synagoge, von der er sich größte mediale Aufmerksamkeit erhofft hatte, ging daneben, weshalb er frustriert in einen Türkenimbiss schoss. Das Ergebnis war akzeptabel. Vier Verletzte, drei Tote. Der Nachhaltigkeit wegen überwies er Seawatch 500 Euro.

Nach Zeugenaussagen von Nachbarn sei Herr M. freundlich, unauffällig, zerfahren manchmal, aber einer, dem niemand Schlechtes oder gar Böses nachsagte. Woher diese Vorliebe für Blut und Boden kam, wusste er nicht. In Hitlers mit schwarz gepolsterten Ledersitzen ausgestatteten Mercedes herumzufahren und gegen die Überfremdung zu schießen, war cool und ehrenvoll. Da er allein lebte und nie Sex gehabt hatte, sorgte das Shooting für einen gelungenen Ausgleich. Als ihn die Polizei vom Hals abwärts lahm schoss, war er fünfunddreißig, hatte eine Gaming Plattform für SM aufgebaut und verkauft, war bis ans Lebensende versorgt und konnte sich gute Anwälte leisten. Augenblicklich sitzt er in der Strafanstalt Gelsenkirchen, aber seine Anwälte gehen in Revision. Wir holen dich raus, sagen sie. V
ölkische Juristen wissen, wie man das Rad dreht.


Sa 4.12.21 11:05 Krise Tag 632 grau

Als der WDR Alan Bangs entließ, ahnte Herr M., dass es auch für einen Musikjournalisten wie ihn bald rauer würde. Er hatte eine Weile einen Fuß in der Tür des mächtigen WDR, er hoffte auf eine Festanstellung, aber die öffentlich rechtlichen mieden Festanstellungen wo immer sie konnten. In guten Jahren hatte er zehn, fünfzehn Beiträge verkauft, die, da auch andere Anstalten sie sendeten, Wiederholungshonorare brachten. Damals noch zu 100%. Dann verkaufte er nur noch fünf, drei, die Vergütung der Wiederholungshonorare sank auf 80%. 65%. Schließlich gab es keine Aufträge mehr.

Herr M. veröffentlichte in Musikerzeitschriften. Die Honorare waren mies, aber besser als nichts. Als das Internet die Weltherrschaft antrat, sah Herr M. eine Chance. Einmal wöchentlich meldete er sich auf seinem Youtube Kanal, erzählte Geschichten von Musikern und ihrer Musik, grub interessante Aufnahmen aus und führte Interviews. Er war glücklich mit dieser Arbeit, stellte aber fest, dass die einzige Legitimation, die kommerzielles Überleben ermöglicht hätte, Klickzahlen und die Likes der User, ausblieben.

Er hatte als Gitarrist in einer psychedelischen Band begonnen, viel Geld hatte er nie verdient, jetzt saß er, Mitte Fünzig, in einer Altbauwohnung, die einer alten, vermögenden Dame gehörte, die ihn ins Herz gechlossen und seine Miete seit seinem Einzug nicht erhöht hatte. Er besaß tausende Platten. Und Bücher. Sogar die von ihm gehassten CDs. Seine Küche war ein mittleres Chaos, aber er kannte sich aus. Er und seine Freundin, eine große, schlanke Frau mit lässig gestecktem Turmbau aus kornblondem Haar und dunkelbraunen Augen, lebten seit zwei Jahrzehnten in eigenen Wohnungen, das hatten sie so gewollt.

Herr M. gab auf. Ob es von einem Tag auf den anderen war, wie sie erzählte, ist nicht sicher, Fakt ist, dass er irgendwann nicht mehr aufstand. Das ist zwei Jahre her. Herr M. liegt da und forscht, ob noch Leben in ihm ist. Manchmal lautet die Antwort: Ja. Dann will er aufstehen, dann steht er auf, dann räumt er und schrubbt, dann singt er und feiert seinen Sieg, aber kaum ist die Arbeit getan, lautet die Antwort: Nein. Seine Freundin will nichts mehr mit ihm zu tun haben. Sie hat eine agressive, trinkende Mutter, das reicht ihr. Und dann, an einem grauen Tag in einer grauen Zeit in einem grauen Land, ging das Telefon. Herr M. war sicher, dass er es abgeschaltet hatte. Er nahm ab. Alan Bangs war dran. Er hatte einen Vorschlag. Herr M. stand auf und zog sich an.


So 5.12.21 14:55 Krise Tag 636 wechselnd bewölkt

Herr M. hat Urlaub. Ein Kollege schiebt Dienst, ein bis unter die Haarspitzen mit Germanistik überfrachteter Poet, aber es gibt sowieso kaum noch Leser. Urlaub kann zuhause stattfinden, aber manchmal muss es die Straße sein und ein Auto. Ein großes Auto. Ein luxuriöses Auto, ein Maserati. Der Kaffeemillionär hat es ihm geliehen. Herr M. rast über Land nach Ahlen. Seine Frau ist bei ihm. Es ist schön mit ihr. Die Stadt schläft noch. Das Museum hat geöffnet. Reset Krise/Chance heißt die Ausstellung, die sie sich ansehen wollen. Sie schlendern vorbei am Friseur Karizma zur ersten Kirche, biegen rechts ab und kommen auf einen Platz, dessen Ende von einem lachsfarbenen, Art-Deco ähnlichem, verfallenen Haus dominiert wird, ein ehemaliges Bettenkaufhaus, erfahren sie, der Besitzer lebe in München und kümmere sich nicht, das gehe seit Jahren, man spräche schon von Enteignung. Eine Reihe Weihnachsbuden, die gleich öffnen. Ein Cafe Paris. Da gehen sie später noch hin. Jetzt haben sie das Museum für sich. Sie sitzen lange vor Bill Violas Video Installation, die Fotos von Thomas Wrede sind zum Fürchten schön. Eine Installation mit kleinen Fläschchen mit Anzuchtgläsern für alle Arten von Pflanzen wirkt wie das Labor eines verrückten Professors. In einem Raum ist eine große, ovale Luftblase mit Bett, Sauerstoffzufuhr und Überwachungskamera. Sie verlassen das Museum. Sie essen eine Bratwurst. Sie rasen heim. Ab 150 hat Covid19 keine Chance. Wie kahle Bäume den Horizont griffeln.


Mo 6.12.21 11:24 Krise Tag 637 bewölkt

Herr M. sitzt auf einem Bett. Der Regen ist vor einer Stunde gekommen. Er ist dick und schlägt hart auf das Wellblechdach des Hotels. Herr M. hat Eimer aufgestellt und hört zu. Es trommelt triolisch. Das Fenster zum Hof ist vergittert. Er spuckt, der Auswurf bleibt an einem der Stäbe hängen. Hinterm Regen ist das Land, wo der Pfeffer wächst. Im haushohen Bambus hängen Flughunde. Es gibt Tiger und Elefanten. Herr M. kann die Zukunft sehen. Sie ist ein Tisch in einer gemütlichen Küche. Sie ist eine singende Espressokanne. Sie ist ein Wort dann und wann. Sie ist eine Frau und ein Tagtraum auf dem Sofa. Sie ist gutes Essen und entspannter Schlaf. Herr M. schlägt im Kalender nach. Heute ist der 28. Februar 1978. Die gemütliche Küche gibt es aber erst ab März 2020. Zeit genug also, um zu werden, was er schon immer werden wollte, Hochstapler. Er würde dem König neue Kleider verkaufen. Er würde der hässlichen Welt zeigen, wie schön sie ist. Er würde so oft wie möglich lachen. Er würde höher stapeln als alle Hochstapler vor ihm. Dass Sie ihn lesen können, ist kein Wunder, sondern Ergebnis harter Arbeit.


Di 7.12.21 10:55 Krise Tag 638 bewölkt

Herr M. mietet ein Boot und rudert durch Grachten. Er macht irgendwo fest, isst Fritten, rudert das Boot zurück und durchstreift die Stadt. Um die Kirche mit den weltberühmten Malereien drängen Menschen, die meidet Herr M., steigt in den nächsten Bus und kommt zu einem See etwas außerhalb. Am Südufer ist ein Hügel, vielleicht eine ehemalige Mülldeponie, jedenfalls hoch genug, um mit einem Schlepplift auf die Kuppe zu fahren, und auf einer künstlichen Abfahrt wieder hinunter zu sausen. M. mietet sich eine Ausrüstung und fährt zum ersten Mal Ski. Seine rechtes Bein neigt aus der Spur zu laufen, er verlegt sein Gewicht auf das linke. Nach der dritten Abfahrt fühlt er sich sicherer. Er nimmt Fahrt auf, kann unten nicht bremsen, durchbricht einen Holzzaun und schlittert über eine Terrasse in eine geöffnete Wohnungstür. Dort sitzt eine über sein plötzliches Auftauchen verwunderte Frau. Herr M. kann erklären, was geschehen ist, man lacht, schließlich hat man sogar Aprés Ski. M. Herr M. verfiel dem Skisport. Er wurde 8mal Meister im Hochgeschwindigkeitsgeradeausfahren, man nannte ihn den Titan des Steilhangs. Er war die "coolste Rampensau", aber nicht eine Abfahrt endete so erfreulich wie jene erste.


Mi 8.12.21 11:15 Krise Tag 639 wechselnd bewölkt

Herr M. ist geboostert. Cannabis ist nicht mehr illegal. Es gibt einen neuen Kanzler. Wenn das kein Grund ist, zu feiern. Herr M. setzt sich in seinen Tesla und fährt herum. Der Boosterstich schmerzt ein wenig, sonst nichts. Der Tesla schwebt. Auf seinem rechten Knie hält Herr M. ein Glas Champagner. Er fährt ortsauswärts, als eine Fußgängerampel umspringt. Er hält. Hinter ihm wird aufgeblendet. Ein Mercedes. Das Kaltlicht wirkt wie ein Blitz. Ende der Straße fädelt Herr M. in die Linksabbiegerspur, da die Spur für beide Richtungen voll ist. Wieder dieser Blitz. Der Mercedes. Die Ampel springt auf rot. Herr M. steigt aus und geht zum Mercedes. Der Fahrer lässt das Seitenfenster ein wenig herab und brüllt, ob er immer so langsam unterwegs sei, und wieso er die Spur gewechselt habe? Herr M. reißt die Fahrertür des Mercedes auf, greift den Arm des Fahrers, zieht ihn zwischen Holm und Tür, schlägt die Tür zu, bis er das Knacken hört, geht zu seinem Wagen, steigt ein und fährt davon. Der Champagner perlt noch.


Do 9.12.21 12:25 Krise Tag 640 bewölkt

Es hängt Schnee in der Luft. Der Doc schleicht durch die Hintertür. Er trägt die Swarovsky Maske, die, je nach Ausführung, zwischen 500 und 1600 Euro kostet. Herr M. dünstet Testosteron und Pheromone aus.
Was ist mit ihnen? fragt Herr M.
Weihnachtsstress, anwortet Herr M. Außerdem gefällt mir nicht, was Sie aus mir gemacht haben.
Herr M., sagt Herr M., wir hatten das doch im Vorfeld besprochen.
Bullshit! Gar nichts wurde besprochen. Es wurde einfach angeordnet. Wahrscheinlich, weil Ihnen nichts Besseres einfiel.
Aber das ist doch nicht wahr.
Doch!
Der Hochstapler kämpft mit seinem Ego. Er schafft es nicht, einzutreten. Er bleibt in der Tür. Der Musikjournalist hat den ganzen Tag Joy Division gehört. Der Kaktus Killer ist mit sich im reinen. Er hat durchgegriffen.
Herr M., sagt er, ich danke Ihnen für diese schöne Rolle.
Gern, sagt Herr M., aber nun erzählen Sie doch mal....
Ich möchte dazu lieber nichts sagen, sagt Herr M. Wenn ich drüber spräche, würde sie sich auflösen. -
Verstehe. Und Sie, Herr M.? Könnten Sie Joy Division jetzt abstellen und aufstehen? -
Herr M. zuckt die Achseln. Der Titan rast durchs Bild. Er bremst. Er spricht gegen Geld im Fernsehen.
Meine Herren, ist Ihnen klar, dass sie Teilnehmer eines Experimentes sind? sagt Herr M.
Die Herren kichern.
Ja, sagen sie. Ja, was denken Sie denn?
Ja, sagt Herr M. Eines ganz und gar sinnlosen Experimentes, wenn ich das anmerken darf.
Wir glauben, dass Sie sich in der der Zeit geirrt haben?
Wie? Die ist Echtzeit.
Nein. Wir glauben nicht an das Leben, dass Sie uns schreiben. Es ist falsch. Sie haben uns reingelegt.
Tut mir Leid, sagt Herr M. Es ist mir vielleicht ein wenig über den Kopf gewachsen, könnte sein.
Sie machen es zu kompliziert, sagt der Titan.
Es ist kompliziert, und erklären kann man es nicht, sagt Herr M. Es soll wirken.
Aber Sie könnten uns rausschreiben, einen nach dem anderen.
Stimmt, sagt Herr M., das könnte ich. Tu ich aber nicht. Ich brauch sie. Ohne sie bin ich aufgeschmissen. Ich schlage deshalb vor, wir vertagen uns auf den 10. Dezember. Einverstanden?
Alle nicken. Der Titan kracht in eine Gemüsetheke. Der Kaktus Killer, Doc Brown und McFly gehen eine rauchen. Der Titan ist unverletzt. Der Tesla blinkt. Herr M. steigt ein. Mehr Champagner, denkt er. Champagner und Lemercier.


Fr 10.12.21 16:04 Krise Tag 641 sonnig

Herr M. schreibt für B. in Berlin, wo alle wohnen, die Sachsen und Stuttgart entkommen sind. Sie waren immer am Rande, schon im Vergessen, jetzt, endlich, sind sie an vorderster Front, wo man Kunst macht und für den Cappuccino schon mal 6 Euro hinlegt. Schöner Tag. Schönes Leben. Schön gewesen. Schöne B.

J. hat es als Tastenficker aus Ostfriesland über den Westfälischen Beamtenarsch nach Wiesbaden verschlagen, wo er ein Haus der höheren Preisklasse bewohnt. W. hat ein Leben als Promoter gelebt hat und kennt die harten Sitten des Showgeschäfts. Bargeld in großen Scheinen. Alle stehen am Abgrund einer Schlucht, der von Häusern sich leicht vorbeugender Städte gesäumt ist. Tief unten glimmen Feuer. Um die Feuer sitzen Menschen, die bei Eins und Eins Drei sagen und behaupten, alles andere sei manipuliert.

G.s Frau ist gestorben. Drei Jahre später hat er eine neue mit den gleichen Vorlieben für Karneval und Rentnerreisen. Das waren Zeiten, als G. und Herr M. zu Jimi Hendrix Scheibmaschineschreiben lernten? B., die Herr M. zuletzt auf einer Beerdigung traf, hält Blumen in der Hand. Die am Feuer Sitzenden johlen. Dass Herr M. eine Viertelstündige Beziehung mit ihr hatte, wissen sie nicht. B. wirft die Blumen hinab. Nichts ist, wie es sein soll. Damals war es genauso, ein Abend, eine Party, der verzweifelte Versuch der Entgrenzung.

Herr M. wirft Text in den Abgrund. Er flattert ins Feuer. Ob Herr M. den Tesla über den Rand fährt, wie James Dean? Nein, das Leben ist viel zu interessant. Eine interessante Zeit, diese Zeit. Hochexplosiv.
Ja, sagt der Titan, der ausnahmsweise umsonst spricht. Sie wird Narben hinterlassen.
Glauben Sie doch nicht alles, was überall steht, sagt der Kaktus Killer. Welchen Narben denn? Dies ist Demokratie. Die am Feuer der Illusion sich Wärmenden machen kaum 20% der Bevölkerung aus. Das muss man aushalten.
Lüge! ruft die Göttin mit den schönen Brüsten,
die Herrn M. den baldigen Tod als Folge seiner Impfungen prophezeit. Wir sind das Volk.
Überall geht es drunter und drüber. Allein, allein - Polarkreis 18.

B. aus Berlin ist eine schöne Frau. Was ihre Kunst angeht, kann Herr M. nichts sagen, da müsste er mehr sehen. Aber keine Sorge, Kunst scheitert immer, egal, was sie kostet, wäre auch komisch, wenn es anders wäre, alles andere scheitert ja auch. Herr M. wird sich trotzdem amüsieren. Mit einem 2G Bändchen wird er herumgehen, Kunst sehen und Glühwein trinken. Die Sonne scheint. Es kann nur aufwärts gehen. Es geht aber, wie er feststellen wird, abwärts. Natürlich ist eine Frau Schuld.


16:53

Anita Molinero - Kunstverein Münster


Sa 11.12.21 9:30 Krise Tag 642 frostig

Herr M. nimmt gleich eine Tablette. Sie ist schlank, in der Mitte teilbar und so groß wie der Nagel eines Zeigefingers. Sie verhindert, dass der Frost beult. Es ist Samstag, die Dächer sind gepudert, und die latente Gewalt der Frauen, die schon seit Wochen dekorieren, steht im Raum. Sie ist gewalttätiger als die körperliche Gewalt der Männer. Dazu Inzidenz. Maske auf. Maske ab. Ein guter Tag? Ein gutes Leben? Also knick und weg, nachspülen, der Vorhang hebt sich.

Die Akteure gehen herum. Fehlen welche? Wahrscheinlich. Manche sind in Quarantäne, andere genesen oder verreist, Cov19 Top Sicher Ressort, andere tot. Niemand ist unbeschwert, nur das Virus hat Freude am Leben.
Und was tut man da morgens als erstes? -
Pinkeln, Kaffee trinken, in der Küche unterm Fenster Zeitung lesen.
Ich bleibe liegen und schaue auf die Dächer, auf die ich seit vierzig Jahren schaue.
Ich setze mich ans Klavier. Manchmal sitze ich abends noch da.
Das ist ein schönes Hobby.
Schön in Beziehung wozu?
In Beziehung zu anderen Hobbies.
Zum Beispiel?
Gewalt gegen Männer.
Gewalt gegen Männer ist hässlich, aber kein Hobby.
Sind Sie sich da sicher?
Nicht wirklich.
Es ist nur die List der Weiber.
Ist Ihres auch so ein Drachen?
Sprechen wir über was anderes.
Mein Weib ist die Hölle.
Weiber sagt man nicht.
Ich weiß. Wir sprechen jetzt, als könne der Verstand die Natur beherrschen.
Und was machen Sie, wenn sie zickt?
In Deckung gehen.
Aha. Und Nochmal zu den Tabletten. Wie kriegt man die?
Man sagt dem Arzt, man könne nicht schlafen.
Schlafen Sie schlecht.
Nein, wie ein Bär.
Und Sie, Herr M. Sie haben noch gar nichts gesagt.



So 12.12.21 11:59 Krise Tag 643 regnerisch

Defloriert hat er das erste weibliche Wesen mit sechs. Sie war fünf. Sie hatten Doktor gespielt. Danach hatten sie ihn lange nicht interessiert. Mädchen waren - männliche Wesen hatten keine Worte dafür - fremd? - und vor dieser Fremdheit? retteten sie sich, indem sie sie verhöhnten. Zehn Jahre später setzte er sich mit einem auf den Stamm einer umgestürzten Krüppelkiefer. Als sie sich küssen wollten, gerieten sie aus der Balance und kippten in den Sand. Sie lachten. Sie lagen auf dem Rücken und wollten nur eines. Warum, wussten sie nicht, aber sie kriegten es. Ihn überfiel der von jungen männlichen Wesen oft erlebte Blitzerguss. Auch später war ihm alles, was länger als fünf Minuten dauerte, zu mühsam. Sie merkte gar nichts.

Herr M. galt unter Gleichaltrigen jetzt als kompetenter Ansprechpartner. Eines war klar: Jungs wollten Verwendung für etwas, das ohne ihr Zutun manchmal unbequem steif wurde. Das - spürten sie - hatte etwas zu bedeuten - das war ihr Auftrag. Alles andere fiel ins Reich der Fantasie. Mysteriös, aber es musste wohl so. Ihr Repertoire war zwar noch bescheiden, aber alle arbeiteten unermüdlich daran. Es war ein absurdes Spiel. Eine Art Choreographie. Wahrscheinlich wäre es peinlich, sich dabei zuzuschauen. Einmal, ein kleiner Höhenunterschied war auszugleichen, nahm Herr M. ein Spülbecken zu Hilfe, das mitten im ersten gemeinsamen Höhepunkt von der Wand brach. Sie hatten geschrien von Lachen.

Andereres Jahr. Andere Stadt. Es ist spät, die Straßen von Panama City sind stellenweise stockdunkel. Herr M. findet ein Hotel. Als er den dritten Stock erreicht und ihm auf dem Weg fünf kaum bekleidete, kichernde junge Frauen begegnet waren, weiß er, wo er gelandet ist. Eine wohnt auf dem Flur gegenüber. Sie kommt auf eine Zigarette. Ich mach es umsonst, Gringo, sagt sie. Herr M. hat Schiss. Sie ist fröhlich und ungezwungen.

Herr M. wusste schon, dass die so genannte Klitoris von großer Wichtigkeit war. Aber wo saß sie. So etwas sagte einem niemand. In Frango Castello erfuhr er es. Machten diese Wesen dadurch Pipi? War das ein Minipenis? Keine Ahnung, aber - blaues Meer, kein Mensch weit und breit, blablabla. Sie öffnete sich und sagte, das ist sie. Aha, sagte Herr M. verlegen und dachte an die Auster, die er in Chinandega gegessen hatte. Meiner ist aber größer. Auf die Größe kommt es nicht an, sagte sie pikiert. Am gleichen Abend kam es mit einer anderen doch darauf an, denn sonst hätte sie nicht so gestaunt. Heute, am 12. Dezember 2031, hat Herr M. den Auftrag längst aus den Augen verloren, aber die Fremdheit nimmt täglich zu.


Mo 13.12.21 11:59 Krise Tag 644 grau

Herr M. genießt den feuchten Glanz der braunroten Dachziegel gegenüber. Er verwandelt das Zischen der Räder auf Asphalt in wohl-frequentes Singen: sein Meer. Sein Regen: sein Nektar. Seine Faulheit: sein Kapital. Die Welt singt und wärmt ihn mausgrau. Heute, gestern und morgen. Physiker sagen, dass Zeit ewig ist, es gibt also keinen Grund, sie nicht zu verschwenden. Und was Ihre Frage angeht - Herr M. zögert - 2031 war ein .... nein, das kann ich Ihnen nicht verraten. Es gilt das Gesetz der Zeitreisenden, wonach sie, um das Zeitkontinuum nicht durcheinander zu bringen, nichts verändern - ergo auch keine Auskunft geben dürfen. Genießen Sie die Pandemie, wo sie am Schönsten ist, zuhause. Eine andere Chance haben Sie eh nicht.


Di 14.12.21 13:54 Krise Tag 655 grau

Man wird doch noch feiern dürfen, sagt Herr M.
Wie - was denn?
Erfolg etwa.
Auf welcher Ebene, wenn ich fragen darf?
Bezirksliga, sagt Herr M.
Na Glückwunsch, sagt Herr M. Dann feiern Sie.
Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.
Sie klingen, wie meine Mutter.
Das war meine Mutter.
Was wollen Sie tun?
Den Backofen säubern. Das Klo. Den Müll weg und die Küche putzen.
Das macht bei mir die Putzfrau.
Sie sind ja auch Europaliga.
Champions League, sagt Herr M. 200 Tore in vier Wochen.
Das muss Ihnen erst mal jemand nachmachen, sagt Herr M.
Das muss mir erst mal jemand nachmachen, ja, sagt Herr M.
Und zum Feiern, was nehmen Sie da?
Eine Linie von hier.................................................bis hier.
Die 1? Alle zwanzig Minuten ins Herz der Metropole?
Genau die. Liebe Fahrgäste, bitte beachten Sie, in Bussen und Haltestellen ist das Tragen von medizinischem Masken vorgeschrieben. Bleiben Sie gesund.
Und wenn Sie da sind?
Trinke ich Sekt im Alcazar und tanze Chachacha.
Uuuuuuuuh.
200 in vier Wochen?
Ja, unglaublich.
Und das in ihrem Alter.


Mi 15.12.21 11:22 Krise Tag 656 grau

Herr M. lässt die Jalousien herab. Sie schützen vor dem Grau, das die flächendeckend versprühten Chemtrails nicht hatten wegputzen können, und vor marodierenden Querdenkern, die auf alles schießen, was eine Maske trägt. Jingle Bells, gesungen von Xavier Naidoo, plärrt aus dicken Lautsprechern. Die Aufgeklärten, die Bewahrer des Menschenwissens, tanzen Covid19 mit Eurythmie weg. Eurythmie wirke ja auch bei Krebs, sagen sie. Während draussen geschossen und getanzt wird, haben sich drinnen mutige Männer und Frauen ein Scharfschutznest gebaut. China liefert diese speziell isolierten kleinen, schusssicheren Nester mit Bauanleitung innerhalb von drei Werktagen per Luftfracht. Sie sind, wie alles aus China, spottbillig, und in chinesischen Tarnfarben gestrichen, so dass man sie kaum entdeckt. Es ist in Höhe der Dachtraufe angebracht. Herr M., mit einem hochauflösenden Fernglas ausgestattet, staunt, wer da alles tanzt. Aber er hat keine Wahl. Dies ist der Endkampf, der, anders als prophezeit, nicht zwischen Juden, Muslimen und Christen stattfindet, sondern zwischen Querdenkern und Impfbefürwortern, und er geht in die letzte Runde. Leuchtspurmunition illuminiert vielen den finalen Weg, etwa den des schlecht gelaunten Sängers J. Katz. Er trägt Cowboyhut, Sherriffstern, und war einer der ersten, die mit Nazis zusammenarbeiteten. Jetzt hockt er auf einem der Querdenkerwagen, ein Motivwagen, wie man sie von den Superspreaderevents des Karnevals und der Loveparade kennt, fährt durch Berlin und spielt seine Lieder. Katz war ein netter Kerl, niemand verstand, was ihn so aus der Bahn geworfen hatte. Gleich wird er vom Wagen fallen. Herr M. wird die Prämie kassieren. Bis zum Frühjahr sollen alle tot sein, sagen die Behörden. Herr M. wird tun, war er kann. Alluhut Akbar ruft er und drückt ab. Katz (kaum 1,50 groß), kippt um. Er hat so viel geraucht und gesoffen, dass man ihn als Sondermüll entsorgen muss.


Do 16.12.21 18:07 Krise Tag 657 grau

Keine Rückmeldung.


Fr. 17.12.21 10:55 Krise Tag 658 grau


Sa. 18.12.21 15:35 Krise Tag 659 grau


21:55

herr m. und alle m.s
nach ihm und die davor
geraten zu gewissen zeiten
bei nied'rem himmel und kaum weiten
blicken
in vornehme melancholie
hi hi
vom kopf hinab
von dort zurück hinauf
bis in'n himmel hoch
wühlt sie
so
wollig mollig im gedärm
o oooo
dass alle m.S
nur fressen ficken
kiffen wollen
ansonsten gar nichts wollen sollen
und alle anderen
bitte nur die klappe halten sollen
ansonsten stille süße
hihihi


Mo 20.12.21 Krise Tag 660 strahlend

In Carona, ein Dorf überm Luganer See, hatte Herr M. bei einem Wiedersehen mit Bruno und John den einzigen Hummer seines Lebens gegessen und rosafarbenen Champagner dazu getrunken. John hatte sich den Hummer auf den Kopf gelegt. Alle hatte geschrien vor Lachen. Danach hat Herr M. nie mehr an Hummer gedacht. Aber jetzt dachte er plötzlich: Hummer, und das nur, weil die Königin bald Geburtstag hat. Die Fischfrau sagt, natürlich könne sie Hummer bestellen. Den aus Frankreich oder aus Canada? Der aus Frankreich kostet an die 200 Euro das Kilo. Und der aus Canada, sagt Herr M.? 80 etwa. Da war die Sache entschieden. Außerdem, dachte Herr M., ist das Meer vor Kanada weiter und größer und wilder als das im Ärmelkanal, da hat ein Hummer mehr Lebensqualität. Zumindest, bis er auf den Tisch kommt. Und da geht es natürlich sofort los. Das Tier wird lebendig von Canada nach Europa geflogen. Es ist in einer feuchten Kühlbox. Herr M. weiß, dass man Hummer ins kochendes Wasser wirft. Aber er will nicht der Mörder sein. Er diskutierte das mit der Königin, die zugleich Köchin ist. Auch sie verspürte keine Mordlust. Also wurde vereinbart, dass die Fischfrau das für sie erledigt. Soll es ein großes Tier sein, oder sind Ihnen zwei kleine a 500 Gramm lieber. Herr M. plädierte für Doppelmord. Eine Woche darauf holte er die Hummer ab. Sie waren vakuumiert. Aufregend urtümliche Wesen. Die Königin grillte sie. Die Königin schwärmte. Herr M. war mäßig erregt. Für den Gegenwert eines Hummers könnte ich zwanzig Matjes essen, dachte er.

Di 21.12.21 13:30 Krise Tag 661 Frost, Nebel

Herr M. war nach dem Auftritt im St. Gallen kaum zurück im Hotel, als er zusammenbrach. Sein Kollege rief den Notarzt, der ein Aneuyrisma der Bauchschlagader diagnostizierte. Man flog Herrn M. zu einer Spezialklinik nach Zürich Dort operierte man ihn fast acht Stunden. Danach lag er vier Wochen im Koma. Herr M. ist Komiker. Sein Kollege und er kommen aus der alternativen Zirkus- und Clowbewegung der späten Siebziger. Beide spielen mehrere Instrumente. Sie haben einen Zirkus gegründet, später sogar ein Varieté, aber beides ging pleite. Sie tingelten, sie hielten sich über Wasser, seit über einem Jahrzehnt spielten sie Galas, traten in Varietés und auf Kreuzfahrtschiffen auf. Herr M. kommt aus gehobenem Beamtenhaushalt. Seine Brüder haben promoviert. Er hat sein Studium abgebrochen und ist in diese Clowngeschichte gerutscht. Es galt zu beweisen, dass es außer Beamtentum und Promotion auch noch etwas anderes gibt. Das führte zu drei Kindern von zwei Frauen. Mit letzterer lebt er unter einem Dach, aber die Ehe findet nicht statt. Als er aus Zürich vier Wochen später nach Berlin zurückkehrt, bricht die Seuche aus. Er liegt in der Charité, ist hoch gefährdet und niemand darf ihn besuchen. Das Koma bebt in ihm nach. Er weint oft. Nie vorher war er so weit fort, so abgeschlossen von allem, ohne fliehen zu können. Er begreift sein Überleben als Geschenk. Er ist wacklig, aber schon bald auf den Beinen. Manchmal wird ihm schwindlig, dann bleibt er stehen und wartet, bis es vorbei geht. Ein halbes Jahr später ist er wieder auf Tour. Drei Monate Varieté, im Augenblick irgendwo auf dem Atlantik zwischen Madeira und Teneriffa, manchmal zwei Shows am Abend. Er hat ein Außendeckzimmer mit Balkon im 11 Stock. Er schaut aufs Meer. Er raucht, wenn man ihm eine abietet, und er trinkt. Er sagt, er habe keine Angst mehr. Wie das zuhause werden soll, weiß er nicht. Vielleicht mietet er sich für eine Weile ein Zimmer in Berlin. Oder er fällt wieder um, ist auch egal.


Mi 22.12.21 15:27 Krise Tag 662 prächtiges Winterwetter

Herr M. hat vor Jahren beschlossen, nur noch Zeit zu verschenken. Seine Enkel haben noch nicht recht begriffen, was das bedeutet, ihnen sind Pakete lieber, die man aufreißen und auspacken kann, aber da müssen sie durch. Irgendwann begreifen sie es. Dennoch will so ein Fest vorbereitet sein. Lattenjupps Geburt. Da darf man über die Stränge schlagen. Das freut das Kind, schließlich ist es Liebe, die mit ihm in die Welt kam. Prost sagt man. Frohes Fest. Wenn es doch bloß schon vorbei wäre. Eine Einkaufsliste wird geschrieben. Die Sonne gleißt. Taxushecken voll raubereifter Spinnenetze, bizarre, schneeweiße Baumkronen, kristallreine Luft, die die Lunge freut. Ein Buntfink im verzuckerten Busch. Der Einkauf braucht Zeit. Herr M. wird unruhig. Das Atmen macht keinen Spaß, die Brille beschlägt, und als er die Kasse endlich hinter sich hat und raus stürmt, endlich raus, stößt er fast mit dem Einkaufswagen einer Frau zusammen. Er raunzt sie an. Sie ist empört. Sie hat Recht. Herr M. war selbst Schuld, aber irgendjemand musste es abkriegen, besser eine Fremde, als seine Frau. Oder, noch besser: die Regierung, die sich gegen Empfehlungen des RKI zu kaum durchschaubarem Covid19 Wischiwaschi durchringt. Haben keine Eier, denkt Herr M. Scheissen sich ins Hemd vor der FDP. Und wo, bitte, treibt sich Herr Lauterbach rum, der doch sonst ständig präsent war. Man versteht es nicht, denkt Herr M., dem man zugute halten muss, dass er den komplizierten politischen Betrieb nur mässig durchschaut. Obwohl er die unter enormem Druck stehenden Politiker versteht, es sind Menschen, die sollte man verstehen können. Aber eben nicht, wenn sie Politiker werden. Dann scheinen sie den Überblick zu verlieren. Ach, sagt Herr M., vergiss es, du hast deine Welt, da pfuscht niemand drin rum, und du kannst alles machen. Danke, sagt Herr M. Nichts zu danken, sagt Herr M. Übrigens, haben Sie beim Glockenläuten immer noch dieses Gefühl? Yep, sagt Herr M. Wir freuen uns sehr auf das Heiligabendgeläut. Das wird anstrengend.


Do 23.12.21 12:45 Krise Tag 662 bewölkt, kalt

Man rückt zusammen. Man tröstet sich. Oh Omikron, oh Omikron, wie grün sind deine Stacheln.... singt man und hofft, dass die Verzagtheit, die viele an den Rand ihrer Leidensfähigkeit getrieben hat, sich langsam auflöst. Champagner perlt. Hoch die Tassen! Man schwenkt Flöten, umarmt zahlreiche Gäste und küsst sich. Man kann sich kaum noch daran erinnern, dass man über einen Weihnachtsmarkt flanieren konnte, ohne durch Maskierte, Poller, Straßensperren und Security daran erinnert zu werden, dass es außer der Seuche auch noch zutiefst in ihrer religiösen und ethnischen Identität beleidigte, meist bärtige junge Männer gibt, die mit der Aussicht auf 77 Jungfrauen (geschultes Personal, das nur für sie da ist), bereit sind, jederzeit und überall ein ordentliches Blutbad anzurichten. Herr M. verbringt diese Tage daher in tiefer Zurückgezogenheit. SMS schwirren. Whatsap ploppt auf. Die Freundin vom Neffen, eine schwäbische Impfgegnerin, hat die Seuche. Nicht, dass man ihr Schlechtes wünscht, aber eine gewisse Schadenfreude macht sich doch breit.

Ja, ja, sagt Herr M., der schon mit fünf Jahren jeden Tag von Wackelrode nach Hohentalholzheim gelaufen ist, zwölf Kilometer hin und zwölf Kilometer zurück, weil in Wackelrode ein Liter Milch zweieinhalb Pfennig gekostet hat, in Hohentalholzheim aber nur zwei Pfennig, und diesen halben Pfennig durfte der Bub behalten, das waren andere Zeiten. Jetzt bin ich alt. Gedanken schwinden in Blitzesschnelle, und andere tauchen auf. Alle reden durcheinander. Man bespricht mich in Dorfzeitungen. Ich bin Big in Japan. Ich saufe, kiffe, kokse und hau' mein Geld Prostituierten auf den Kopf.

Das ist die Lage im zweiten Kriegswinter, dem weitere folgen könnten. Er muss raus. Er bucht eine Reise. Er fliegt quer über Europa, fährt zu einem Hafen, geht an Bord eines geradezu lächerlich großen Schiffes, das unanständige Mengen Schadstoffe ausstößt, um sich bei bester Kost und Gratisgetränken unterhalten zu lassen. All inclusive. Es ist immer was los. Auf See hat das Virus keine Chance.

Du auch hier? sagt Herr M. zu dem Komiker, der in St. Gallen zusammenbrach.
Ja, antwortet Herr M. The show must go on.
Die beiden setzen sich auf den Balkon seiner Kabine im 11. Stock und schauen aufs Meer, das grau und wenig bewegt nichts weiter tut, als da zu sein unter einem Himmel, der ungeheuer oben ins Unendliche weist.
Nachher ist Showtime. Kommst du? sagt Herr M.
Ja. Aber erwarte nicht, dass ich über dich lache.
Nö, sagt Herr M., oder glaubst du, ich könnte über mich lachen. Ich weiß nicht einmal, wieso die anderen lachen, aber wenn sie lachen, habe ich etwas richtig gemacht.
(Kursiv: "Degenhardt, Brecht")


Fr 24.12.21 11:30 Krise Tag 663 grau


Mo 26.12.21 16:48 Krise Tag 667 grau

Alles muss besser werden, hat Herr M. gedacht, und obwohl es zu Heiligabend wieder nichts wurde mit der seit Jahrzehnten stattfindenden Heiligabendparty, fährt er zu Guidos Getränkemarkt um die Ecke und kauft einen Kasten Pinkus Lager. Er stellt ihn auf den Gepäckträger seines Rades. Mit der Linken wird er ihn festhalten, mit der Rechten das Rad lenken. Erst aber muss er aufsteigen. Kaum hat er das bewerkstelligt, rutscht der Kasten seitwärts vom Gepäckträger. Herr M. hat ihn fest, kann ihn aber nicht zu Boden lassen, er hängt noch zu hoch. Also muss er - und jetzt wird es kompliziert - den linken Fuß am Boden Stück für Stück ein wenig zur Seite rücken, um in eine Schräglage zu gelangen, aus der er den Kasten ohne Bruch sicher zur Erde bringt. Herr M. ist für sein Alter noch sehr gelenkig, er ist kurz vorm Ziel, als ein Auto anhält. Der Fahrer signalisiert Hilfe. Moment! sagt er, aber noch eh er aussteigen kann, hat Herr M. sich und das Rad so weit in Schräglage gebracht, dass er den Kasten sicher abstellen kann. Er bedankt sich und ist erfüllt von Menschenliebe. So lange jemand Hilfe anbietet, kann es so schlimm nicht sein mit der Welt, denkt er., obwohl er um ihren tatsächlichen Zustand natürlich weiß. Den Rest des Weges legt er zu Fuß zurück. Der Heiligabend verläuft ruhig. Das Pinkus ist lecker. Aber nächtes Jahr, denkt Herr M., wird es ein rauschendes Fest, vorausgesetzt, die Skeptiker lassen sich endlich impfen, wandern nach Paraguay aus, oder kneifen einfach den Arsch zu.


19:05

Ich hab das Leben vor
und hinter mir,
die Klippen, Klüfte
und das flache Land,
ich kam der Sonne nah
und du warst neben mir,
und wenn es nicht mehr ging,
gabst du mir deine Hand.

Ich rauschte mittendurch
bin mittendrin
wo ich zu jeder Zeit
am liebsten bin,
ich weiß´bestimt nicht mehr, als ihr,
ich habe kein Rezept,
ich bin noch hier
ihr habt mich aufgepeppt.

Refrain:

Ich gebe alles her für euch,
bin eure coole Socke,
ihr gebt es mir zurück,
ich spiele eure Glocke.


Di 28.12.21 12:45 Krise Tag 668 grau, Regen


Herr M.
lässt sich das Wasser reichen
und seinen langen Tag verstreichen,
er hat viel Geld bestellt und nie erhalten,
hat keinen Bauch,
ein Gürtel muss die Hose halten,
Herr M. regiert sein Reich,
bügelt abdomenale Falten,
erledigt Lästiges
und bleibt bei seiner alten
Theorie, sag niemals nie.
Herr M. ist nah und fern zugleich
und so beschließt er dieses Jahr
das quick und unerquicklich war
für einen arm, den anderen reich.

22:00

Fünfzig Jahre hat Herr M. gedealt. Er war, falls er - was niemand vorhersagen konnte, auftauchte, gut aussehend und charmant. Herr M. konnte sie alle haben, aber wenn er sie hatte, blieb er kalt. Sein Herz war ein Kaufmannsherz. Das Verkaufen war ihm keine Arbeit, sondern persönliche Befriedigung. Die letzten dreißig Jahre wohnte er in einem düsteren, überdimensionierten Haus auf dem Land. Es war umgeben von hohen Fichten. Nebenan war ein fußballplatzgroßer asphaltierter Hof einer ehemaligen Speditition, die Hallen waren als Wohnwagengaragen vermietet, gesäumt von der Straße in die Stadt. Man sagte, dass über seinen Tisch große Mengen Geld gingen. Einmal seien sogar Männer mit Waffen aufgetaucht. Aber niemand wusste Genaues, man ahnte nur. Als alle noch Enten fuhren, fuhr er Mercedes Limousinen und lange einen DS19. Mal hieß es, er sei in Amerika. Auf seinen Visitenkarten stand Produzent. Einmal war für zwei Jahre von der Bildfläche verschwunden. Alle sagten, er sei im Gefängnis, aber sicher war auch das nicht. Man redete viel, wenn der Tag lang war. Als er genauso plötzlich wieder auftauchte, wie er verschwunden war, dealte er weiter, als wäre nichts geschehen. Alte Autos. Gitarren und Gras. Gras, dass Herr M. in Plantagen anbaute. Und nun haben sie ihn geschnappt. Heißt es. Die anderen Herren M., die ihn kannten, seine Ware konsumierten, sich mit mehr oder weniger prekären Arbeiten über Wasser gehalten hatten all die Jahre, telefonieren miteinander. Gerüchte schwirren. Herr M. schweigt.


Mi 29.12.21 10:48 Krise Tag 669 grau

Oh Resilienz,
du hast mich an den Rand getrieben,
von Heiterkeit nicht die geringste Spur,
nur trübes Wetter
und die Omikron Variante sind geblieben,
man schaut entsetzt auf seine Lebensuhr
schon wieder 24 Stunden, fast ein Jahr vorbei,
die Flüchtenden ersaufen und wir haben frei,
schon wieder nicht am Rad gedreht,
man leckt die Wunden und gesteht,
dass man am liebsten ins Nirvana flöge,
dort unter Palmen läge und sich dröge
die Caipirinhas und die Schüttelreime,
Prostituierte und die Tropenkeime
Martinis nur geschüttelt, nicht gerührt
in'n Kopp gießt, zu Gemüte führt.
Oh Resilienz,
ich habe keine Kraft mehr
die Nerven, bin ich noch ganz dicht,
ein weiteres Jahr, und selbst am Meer
herrscht Maskenpflicht,
ich hab die Nase voll,
ich will, dass alles besser wird,
dass endlich war passiert.


23:00

ich bin meine letzte hoffnung
dankbar, dass ich es versuch
und die liebe der verzweiflung
ist mein stilles buch
darauf hebe ich das glas
whisky
keinen schirlingsbecher
lege mich ins sand'ge nass
hinterm wellenbrecher
schaue
wie die wellen schlagen
meine hoffnung stammt aus tagen
als die tür noch offen stand
eh sie zuschlug und das land
sich ich wirre träume flüchtet
ich
ein hippie mit gebiss
habe schiss


Do 30.12.21 23:15 Krise Tag 669 grau


Herr M. überlegt,
ob er sich in einen Käfer verwandeln soll. Nicht in einen Dickmaulrüssler, in eine Stinkwanze schon gar nicht, aber vielleicht in einen smaragdfarbenen Rosenkäfer als letzte Metamorphose. Um aber als Käfer ins neue Jahr zu gehen, müsste er Detailwissen haben, er würde sich ernähren, fliegen lernen und Hochzeitstänze einstudieren müssen. Das scheint ihm zu kompliziert, also überlässt er diesen Teil der Erzählung dem Kollegen Franz, und fragt sich, ob es möglich wäre, dieses Jahr als das zu entlarven, was aus ihm geworden ist.

Text, sagt Herr M. Text, Text, Text. Wenn er nur wüsste, woher dieser Text kommt. Ob es sich um eine Krankheit handelt? Morgens tritt sie eher selten auf. Auch mittags hat er noch keine Symptome. Erst, wenn die Dunkelheit durch die Vorstadt schleicht, und die Unruhe mitbringt, die sie immer bringt in diesen dunklen Monaten, beginnen sie. Dann geht er herum, sucht sein Notizbuch, vielleicht will er etwas notieren, oft aber schaut er einfach nur rein, stößt auf Worte und Sätze, manche Monate alt, ohne Bedeutung erlangt zu haben. Sie sehnen sich nach Anerkennung. Und dann, vielleicht, weil ein schwerer Regen niedergeht oder die Sonne ins Zimmer scheint, treten sie vor und erobern sich in ihren Platz in der schwer umkämpften Welt der Worte und Sätze, stehen da und verlangen Gehör.

Was habe ich gesagt?, sagt Herr M.
Ich weiß es nicht. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich etwas sagen wollte.
Wollten Sie überhaupt je etwas sagen? Etwas, das vorher noch nicht gesagt worden ist?
Nein, sagt Herr M., das ist unmöglich. Es ist genauso unmöglich, wie es unmöglich ist, der Dummheit beizukommen. Dem Egoismus. Der Gier. Dem Kapitalismus.
Kräfte, die sie gut kennen?
Ja, sagt Herr M., Kräfte, die mich umgeben, bewegen, mich verleiten, meine Gier schüren. All diese Kräfte sind Teil dieser unausrottbaren Krankheit.
Ach Herr M., sagt Herr M., warum müssen Sie wieder und wieder die uralte Leier drehen. Reicht es nicht, dass sie ein Dach überm Kopf, zu essen und trinken haben?
Doch, sagt Herr M., dass ist mehr, als man erwarten darf, dennoch ...
Dennoch?
Ja, sagt Herr M., dennoch. Und deshalb ...

Hier bricht die Erzählung ab. Herr M. spürt ein Reißen im Bauch, und eh er einen Stift zur Hand nehmen kann, wachsen ihm links und rechts je drei Beine mit Widerhaken und feinen Haaren, sein Rücken versteift sich zu einem gewölbten, festen Flügelpaar und aus seinem Bauch wird ein gepanzertes Sixpack. Er fühlt sich groß und stark. Gleich wird ins neue Jahr fliegen, Eier legen, aus den Larven kriechen, aus denen wieder neue Käfer werden, wahre Verwandlungswunder werden stattfinden, und dann, wenn sie ganz viele sind, unüberschaubar groß ihre Zahl, werden sie über die Menschen und ihre nutzlosen Werte herfallen. Guten Flug. Guten Rutsch.


Fr 31.12.31 21:34 Krise Tag 670 wechselnd bewölkt

Ich verneige mich.
Ich bin zuversichtlich und mutlos.
Ich bin vor, hinter und neben mir.
Ich bin die Welt.
Wenn ich schlafe, existiert sie nicht mehr.
So ist das.
Ich wünsche mir Glück, Gesundheit, Frieden.
Wer täte das nicht.

 

 




 

 

 

 

 





 

 

 


 









 





 

 

 

 

 

 








 

 

 

 

 





 

 

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