Dezember 2022                     www.hermann-mensing.de      

mensing literatur 

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zum letzten eintrag



Fr 2.12.22 12:25 grau, schneekalt

Herr M. trägt Merinounterwäsche, Wollsocken, Pullover und einen Poncho. Is that a Sears Poncho or a mexican Poncho? 72 in Ayacucho gekauft, Frank, sagt Herr M. Ein kluges Kleidungsstück. Man sitzt wie in einem Zelt, nur der Kopf ragt heraus. Darunter bildet sich ein Mikroklima wie bei sich aufplusternden Vögeln. Um glaubhaft im Bild zu bleiben, spielt Herr M. Panflöte. Die Bachsche Fugenluft zirkuliert virtuos in den Röhrchen und bringt zusätzlich Wärme, denn Herr M. heizt nicht. Soviel zu den physikalischen Tricks, mit denen er die Energiekrise im ersten Kriegswinter seit 1944/45 meistert. Der Restwärme erzeugt er durch warme Gedanken oder fährt seinen Kreislauf fast bis zum Herzstillstand herunter. Das ist beglückend, aber nicht ungefährlich und nur angstfreien Menschen zu empfehlen. Den einfacher Gestrickten empfiehlt Herr M. körperliche Arbeit, Holzhacken und Masturbation, jungen Frauen in Tights die Emigration in den Süden. Dort können sie sie ganz weglassen, das ändert an ihrer Nacktheit nicht viel. Soviel zum 2. Dezember 2022. Kapitalismus und Gier. Friede den Hütten, Krieg den Palästen.


Sa 3.12.22 12:00 grau, um den Gefrierpunkt

Herr M. hat keinen Herzschrittmacher, keine künstlichen Hüften, aber einen hübschen Lingam. Ansonsten ist er bedeutungslos. Jahrelang lebte er in einer Hirtenhütte auf Gomera. Mit WLan natürlich und hinter ihm Berge, Bananenstauden, Palmen und Hippies. Die hatten Spotify und Trommeln, die Herr M. mit Begeisterung schlug. Das beeindruckte die Hippies. Sie kifften mit ihm. Jeden Tag. Trotz ununterbrochener Kriege und der Pandemie verlor er den Mut nicht. Im Gegenteil: Herr M. beschloss, heimzukehren. Eine Dachwohnung, 39m2, Küche, Bad, eine wohnliche Zelle mit prächtigem Ausblick. Er zerschreddert sein Gesamtwerk, mischt es mit Leim und beginnt eine Skulptur zu bauen. Sie soll so schön werden wie eine Giacometti Skulptur. Die zunehmende Arthrose in seinen Händen aber vereitelt die Vollendung. Damit schwinddet auch seine letzte Freude, der friedliche, mit niemand zu teilende Erguss.

Seufzzzz!!!

Draußen ist es mausgrau. Nichts bewegt sich. Entweder ist er schon tot, oder er umarmt die Ereignislosigkeit als das Schönste, was es gibt, verdammt die Rastlosigkeit als verschwendete Lebenszeit und beschließt, den Sinn und die Suche danach ein für alle Male aufzugeben. Nach einer Weile kocht er sich einen Kaffe. In einer Tüte auf dem Tisch liegen sechs Quarkbällchen. Er isst drei und wertet sein Scheitern nicht mehr als außergewöhnliches, nur ihn betreffendes Ereignis, sondern als das aller Humanoiden. Das tut gut.


Mo 5.12.22 12:15 Schneeregen

Manche Schneeflocken sind groß wie 50Centstücke. Sie segeln eher, statt zu fallen, werden aber auf der Erde sofort wieder das, was sie vor ihrer Verwandlung einige hundert Meter höher schon waren. Physik. Alles ist Physik, abgesehen von dem, was Chemie ist. Die nächste Katastrophe ist es, und es scheint, dass es außer Katstrophen keine Ereignisse mehr gibt.


Mi 7.12.22 14:34 stechendes Licht, kalt

Sobald Herr M. die Hände in Stellung bringt, muss das Denken beginnen. Das ist leichter gesagt als getan. ASDF JKLÖ. Die Finger erinnern sich. Die klassische Ausgangsposition des Schreibmaschineschreibers ist zu weltumspannendem Daumenzucken verkümmert. Woran denkt er? An die letzte push-Nachricht? Dass Reichsbürger einen Umsturz planten? An die ersten Akkorde am Morgen? Nein. Herr M. wird gedacht. Wer ihn denkt, bleibt unklar, ein Erzähler, den niemand kennt? Oder ist es nur dieses Hirn, die Matrix, diese Frau Gott, die jederzeit zu allem Unfug bereit ist?

Gestern, in der Bar, als Herr M. da saß und trank, war, eh der Tank leer und er voll war, alles wie immer unklar. Promillen und Pillen, Liebe, Fehlversuche und Fehler. Gebt der Leber, was der Leber-, dem Leben, was des Lebens ist und den Kindern alles. Selbst kaltes Licht tröstet. Raumtemperatur: 15 Grad. Außen 5,4. Zum Abend Glühwein. Nach Wochen mit Gerbrand Bakkers Romanen Boven is het still und Juni liest Herr M. nun Herman Koch, Finse Dagen: ein geschwätziger Amsterdamer gegen einen wortkargen Nordholländer. Koch ist leichter zu lesen, Bakker musste Herr M. entschlüsseln.

Koch, Seite 162: "Je drinkt te snel."
Mensing: Ich kiffe zuviel.
Gebrand Bakker. Juni.
"Waar woon jiij tegenwordig?" -
"Texel." - "En wat doe je daar?"

Herr M. weiß es nicht. Ich weiß nur, dass er nach seinem zweiten Staatsexamen verkündete, was er längst wusste, aber geheimgehalten hatte. Er wollte Schriftsteller werden. (Hirn, Matrix, Gott). Heute gratuliert er sich zu dieser Entscheidung. Prrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr. Spatzen steigen aus den Forsytien, fliegen die Futtersäule an, schwirren, als wären sie Kolibris. Herr M. zieht sich den Poncho übern Kopf und legt die Beine in Position. Das Jahr fällt zusammen. Herr M. liebt Reels auf FB: Mungos, die Kobras töten, Löwen, die von Krokodilen angegriffen werden, Schlangen, Warane, das Morden der Tierwelt, und jede Menge Kampfflugzeuge, die Streulichter absondern, um die auf sie geschossenen Raketen abzulenken. Ukrainer gegen Russen. Ein Kriegsdienstverweigerer der ersten Stunde beklatscht jeden Abschuss. Zwei Salseros und eine Tanguera sind in den letzten Wochen gestorben, zehn bis zwanzig Jahre jünger als er. Herz, Herz, Krebs. Seuche Krieg Hunger. Er war auf Ramons Beerdigung. Was für ein beängstigend feuchtes, tiefes Loch für jemand, der auf Puerto Rico geboren ist. Das alles muss Herr M. aushalten, bis das neue Jahr genauso weitermacht. Im Westen verfärbt sich der Rest des Tages. Nachher gibt es Bratkartoffeln.



Do 8.12.22 16:05 kalt, feucht

Es wird kaum hell.
Er geht nicht hin.
Vertritt mich.
Sag Entschuldigung,
ich habe heute keine Lust.
Ich will mich in die Wann legen,
bei 60 Grad an Accapulco denken,
an Ochsenfrosch, Tortillas, Senoritas.
Er seift sich ein. Er duscht sich ab.
Der Tag zerbricht an allen Enden.
Sie bringt Kaffee.
Sie sagt, bald fängt der Frühling an,
ich sorg dafür,
dass du bis dahin schlafen kannst,
und wirft den Föhn ins Wasser.


Fr 9.12.22 17:30 dunkel, kalt, feucht

Herr M. hockt in Trainingshose, Wollsocken und Bademantel auf dem Sofa und hat zu tun. Seine Domain www.hermann-mensing.de (nicht verwandt, nicht verschwägert) funktioniert nicht. Gestern weigerte sich das FTP, neuen Kontent hochzuladen. Herr M. hatte so etwas vor Jahren schon einmal, erinnerte sich aber nicht mehr an die Lösung. Deshalb nahm er Kontakt mit dem Support seines Providers auf, was nicht einfach war, er hing lang in der Warteschleife, aber schließlich führte er ein sehr freundliches und aufschlussreiches Gespräch mit Herrn S., der sich aus dem Home-Office in Mühlheim meldete. Er hat Herrn M. zunächst darüber aufgeklärt, dass die Firma Kontent, die seine Daten hosted, zwar weiter existiere, aber in eine neue Firma namens dogado überführt sei. Ob Herr M. denn die neuen Zugangsdaten nicht bekommen hätte? Nein, hatte er nicht, und das lag, wie sie herausfanden, an einer uralten E-Mail-Adresse, die in deren System gespeichert war. Herr S. änderte sie. Wenig später hatte Herr M. die Zugangsdaten, die er in den Servermanager des FTP eintrug. Jetzt, glaubten sie, müsse der Transfer funktionieren, aber er funktionierte nicht, zumindest nicht von seinem Rechner, vom Rechner des Supporters hingegen problemlos. Fragezeichen. Herr S. sagte, nun wisse er auch nicht weiter, er wolle einen Kollegen um Rat fragen und zurückrufen. Das hat er nicht getan, er hat Feierabend, es ist Wochenende.
Was blieb, also so lange weiter zu probieren, bis Herr M. sich mit neuem Servernamen und klein- bei allen Versuchen vorher großgeschriebenen Benutzernamen- einloggen konnte. Und jetzt weiß er auch wieder, dass das damals das gleiche Problem war.

23:16

Sein Nachtzug fährt. Herr M. hat reserviert. Abteil mit Sofa. Draußen wildes Land. Hörspiele an Masten. Abteil mit Getränken. Draußen reißen Stricke. Romane. Theaterstücke. Rufend. Flatternde Gedichte und Krähen. Goldene Kleiderhaken für die Prosa. Draußen eine jammernde Republik. Abteil mit Eintopf. Wenn er aussteigt, ist er am Meer. Morgen in einer Woche. Da hat niemand Zutritt. Da fliegen Worte zwecklos herum.


Sa 10.12.22 23:05 sonnig zu Anfang, kalt, später diesig

56 Jahren liegen zwischen dem 64er Volkswagen, den Herr M. 1974 kaufte, und dem Toyota Prius Hybrid, den er heute mietete. Für den VW brauchte er zwei Schlüssel, einen für die Tür, einen für das Zündschloss. Ein beiges Lenkrad. Ein Hebel für den Winker. Wie man das Licht anschaltete, weiß er nicht mehr. Wahrscheinlich gab es links einen Knopf. Kupplung, Bremse Gas. Die Handbremse mittig und ein Schalthebel. Starten und losfahren.

Beim Toyota Prius Hybrid hatte Herr M. zwei Transponder, kaum größer als Streichholzschachteln. Einer öffnete das Auto. Herr M. stieg ein. Sofort ging das Innenlicht an. Er fühlte sich wie im Cockpit eines Flugzeuges. Die massive Mittelkonsole reichte ihm bis an die unteren Rippenbögen. Vor ihm ein massives Lenkrad mit einem Multifunktionsknopf, den er lieber nicht berührte. Rechts vom Lenkrad ein von viereckigen Knöpfen umgebenes Display, links davon zwei große runde Knöpfe. Auf einem ein P (wie Parken?), auf dem anderen das Symbol eines nach oben in einem Spalt sich öffenenden Kreises, aus dem ein Strich wie Ausrufezeichen ragt. Wie startet man? Sicher nicht mit P. Herr M. drückte den anderen. Ja. Man hörte kaum etwas, aber der Motor lief. Rechts unterhalb des Lenkrades ein lächerlich kleiner Hebel, die Schaltung für das Automaticgetriebe. R. wird rückwärts sein. D wie Drive. Mehr wird er nicht brauchen. Aber erst einmal die Lichter. Stellt man auf Auto? Geht dann Auf- und Ablenden von allein? Die Handbreme ist eine Fußbremse unten links, statt der Kupplung.

Aha. Man fährt. Herr M. sieht im Display. Keine Gefahr. Die Stadt ist randvoll. Ohne Weihnachtstrubel wären sie in einer Viertelstunde an der Meerwiese gewesen, brauchten aber fast 40 Minuten. Um 16:00 sollte das Improvisationstheater beginnen. Fünf Minuten später parkte Herr M. ein, und schickte Frau E. mit den Enkeln los, damit sie nichts verpassten. Herr M. musste jetzt erst einmal rauskriegen, wie man dieses Auto abstellt. Er benötigte vier Versuche. Immer, wenn er draußen war, hörte er es von innen piepen. Immer war noch irgendein Licht an. Er drückte auf die beiden großen Knöpfe. Schließlich hörte das Piepen auf, er konnte das Auto abschließen. Ob das Innenraumlicht von selbst ausgeht? Das verunsichert ihn jedesmal. Auf der Rückfahrt, das Starten war problemlos gelungen, fand er das Fußpedal für die Handbremse nicht. Vorhin war es doch da gewesen. Offenbar war es ganz hinten eingerastet und im Dunkel nicht zu sehen.

Mit seinem Volkswagen wäre ihm das nicht passiert. Und wenn unterwegs etwas passiert wäre, hätte es bestimmt jemanden gegeben, der es mit einem Schraubenschlüssel hätten reparieren können. Selbst Herr M. wusste, dass man bei Startproblemen mit einem Hammer leicht gegen die Lichtmaschine schlug, oder vielleicht auch gegen etwas anderes. Jedenfalls half es meist. So einem Toyota kommt man mit Schraubenschlüssel und Hammer nicht bei. Da braucht es einen Laptop, das richtige Programm und das typengenaue Interface. Aber was das Fahrgefühl angeht, ist so ein modernes Auto natürlich unschlagbar.

So 11.12.22 19:32 grau

die welt ist tatort
die kommissare sind überfordert
das leben ist schön

der tatort ist eine räuberhöhle
sie wird täglich dekoriert
aber mich täuscht nichts

die täuschung ist subtil
die täter wissen
dass wir gläubig sind

dass ich getäuscht werde
kann täuschung sein
aber nichts täuscht mich

ich bin der täuscher
der kommissar
die räuberhöhle

vergib mir meine schuld
wie auch ich vergebe
den andern


Mo 12.12.22 13:37 grau

die Straße
der blaue Honda
der silberne Benz SUV
das Vogelhaus
die nackte japanische Kirsche
das eingerüstete Haus
der hellgraue Himmel


20:29

das Zimmer
die Stehlampe
das Seitenschläferkissen
die Merinojacke
die Füße am Boden
den Kopf aufgeben

22:10

am abend
geht die sonne auf
die geister stürzen
aus dem nichts
am bussteig wartet eine frau
auf einen mann
der gar nicht ist

die sehnsucht
ist ihr armes tier
sie lutscht ein pfefferminz
die geister rings versichern ihr
schon gleich käme ein prinz

ein auto hält
ein blick fährt ratlos
durch die nacht
die lebensfreude gönnt
sich einen schnaps
weil sie verloren hat

die sonne ist noch immer
unanständig groß zur falschen zeit
die geister haben sich entblösst
der sehnsucht hat man ein paket geschickt
sie packt es aus und wirkt erlöst

die frau spuckt ihren pfefferminz
die autotür geht auf
und sie steigt ein
was sie nicht weiß
es ist der frauenmörder ewald binz
in einer stunde ist sie tot.


Di 13.12.22 14:52 Raureif, Sonne

Beckett: Keine Spur von ihm.
Godot: (streicht sich den Bart)
Beckett: Wir waren verabredet.
Godot: Eben. - Kannst du sein Smartphone orten?
Beckett: Nein. - Was ist mit den Cherubim?
Godot: Was soll sein? Die fetten ihre Flügel.
Beckett: Ist er im Krieg?
Godot: Dazu ist er zu alt.
Beckett: Du meinst....
Godot: ... es kann nichts mehr gewonnen werden.



Mi 14.12.22 16:09 frostig

Gegen Mittag in die Stadt gefahren. DB Fahrkarten storniert. Ein neues Armband für seine Uhr gekauft. In der Stadtbücherei Hans Wollschläger Herzgewächs oder Der Fall Adam bestellt, im Marktcafe Zeitung gelesen, auf dem Markt Fisch gegessen. Heute Abend Salsa im Hot Jazz. Herr M. ist ein glücklicher Mensch, weil er den GAU überlebt hat.


Do 15,12,22 1:20

Es gibt keine Hilfe, dachte er. Und es gibt keinen Trost, man ist alleine in dieser Welt.
(Robert Seethaler, Der letzte Satz)

21:27

Er grübelte und sorgte sich. Er dachte an die Musik. In der Dunkelheit konnte er ihre Anwesenheit spüren, als sei sie ein Lebewesen, das atmet und dessen gewichtsloser Körper sich immer weiter ausdehnte, bis er das ganze Zimmer auszufüllen schien.
(Robert Seethaler, Der letzte Satz)

Ich grüble. Ich sorge mich. Ich denke an die Literatur. In der Dunkelheit kann ich ihre Anwesenheit spüren, als sei sie ein Lebewesen, das atmet und dessen gewichtsloser Körper sich immer weiter ausdehnt, bis er das ganze Zimmer auszufüllen scheint. (Herr M.)


Fr 16.12.22 15:22

Ich wünschte, ich könnte ihre Träume sehen, dachte er.
(Robert Seethaler, Der letzte Satz)

17:24

Er hatte es oft erlebt: Verzweiflung, Verweigerung, Zusammenbruch, letztlich aber Durchbruch und Auflösung.
(Robert Seethaler, Der letzte Satz)


20:02

Die dunkle Jahreszeit schrumpft alles. Kaum auf den Beinen, ist Mittag und zum ersten Mal seit 20020 meldet die Corona App ein erhöhtes Risiko. Begegnungen an 1 Tag mit erhöhtem Risiko am 14.12. Mittwoch war Herr M. im Markt Cafe. Er saß allein an einem Tisch und wollte Dichter im Café spielen, aber da wurde nichts draus. Zu albern. Er ist dann über den Markt gegangen, hat beim Holländer auf Holländisch Kibbeling bestellt. Im Kaufhof hat er sich ein neues Uhrenarmband gekauft. Und am Abend war er im Hot Jazz beim Salsa, fand sich zu alt und alle anderen zu jung und fuhr wieder nach Hause .

Heute hat er einen langen Spaziergang gemacht. Hinter Lütke Brintrup öffnet sich die Landschaft dem Blick und man schaut auf eine Pappelreihe am Horizont. Weißes, gespenstisches Fingern in eisgraue Luft. Tröstlich und trostlos. Auf dem Rückweg über den Markt. Die Brotfrau ist eine andere als sonst. Die Käsefrau grüßt. Der Kroate hält Herrn M. an und spricht und erzählt ihm von seiner Liebe zu Günter Grass und zur angelsächischen Literatur. Orangen und Corega Tabs gekauft. Klavier gespielt. Eigentlich wären Herr M. und Frau E. jetzt am Meer, mussten die Reise aber verschieben. Frau E. ist schwer erkältet, aber es ist nicht die Seuche. Herr M. fühlt sich gut. Er muss nur noch den Abend hinter mich bringen. Gleich macht er Glühwein.


Sa 17.12.22 13:30 grau, kalt

Der Aasee ist zugefroren. Die ersten Schlittschuhläufer sind unterwegs. Herr M. wartet bis morgen.

16:00

die liebe
trägt ein kleid
aus tränenfalten
wer hier sich zu mäandern traut
braucht
mut und unverstand
kein mensch
konnte sich je dort halten
wurde nicht angehaucht
von furcht
die er nie mehr verwand


So 18.12. 22 19:15 kalt am morgen, seit Mittag Uhr wird es wärmer

Gegen 11:00 war Herr M. am See. Noch nicht vom Rad sah er seine Schwiegertochter und zwei seiner vier Enkel. Timing, dachte er, denn das war nicht verabredet. Er schließt sein Rad ab, geht über die Schräge, über die im Sommer die Boote hinabgelassen werden. Die Schräge ist vereist, er rutscht aus, aber zum Fallen sind Schrägen immer gut. Er rappelt sich auf. Er ist zuversichtlich. In die Schlittschuhe zu kommen, ist eine verdammte Quälerei. Die ersten Schritte. Langsam voran. Ja, es geht. Die Kufen bräuchten einen neuen Schliff, aber es geht. Herr M. dreht Kreise. Das Eis singt. Koscher ist es ihm nicht. Die Enkel wollen, dass Herr M. sie zieht. N. hat einen langen, daumendicken Ast. Er nimmt das eine, Herr M. das andere Ende und fährt los. Der Enkel liegt auf dem Bauch. Es gefällt ihm. Als nächster ist L. an der Reihe, dann will N. nochmal und L. auch. Nach einer halben Stunde fuhr Herr M. heim. Der Raureif rieselte von den Bäumen. Es wird wärmer. Dass man auf dem Aa-See Schlittschuh laufen kann, kommt statistisch alle zehn Jahre vor. Letztes Jahr hatte Herr M. gedacht, das könnte das letzte Mal gewesen sein, dieses Jahr dachte er es wieder, aber wer weiß.

Mo 19.12.22 15:41 grau und feucht

Seit über einer Woche liegt Frau E. mit Husten und kratzigem Hals im Bett, hoffend, dass es nicht auf die Lunge schlägt wie vor drei Jahren. Herr M. ist gesund. Zwar erhielt er letzte Woche eine Risiko Warnung der Corona-App, aber er es geht ihm gut. Nicht, dass man ihn missversteht. Den Weltekel kennt er, seit er vierzehn ist. Er hat alle Wellen der Hoffnung geritten. Egal, wie majestätisch und weltbewegend, jede zerbrach auf dem Strand und zerlief sich. Im nächsten Augenblick ist sie Vergangenheit und kann nicht mehr verändert werden. Man muss nicht nachhaken. Der westfälische Kurzwinter ist nach knapp einer Woche vorbei. Seit gestern stiegen die Temperaturen von Minus 8-10 Grad auf Plus 8. Auch das muss man wegstecken. Immerhin war Herr M. auf dem Eis. Immerhin schreibt er. Immerhin hat er eine Frau, die ihn tröstet, so wie er sie hoffentlich tröstet. Frau E. hat heute Geburtstag, und es ist schön zu sehen, wie langsam sie es angehen lassen. Heiligabend wird es zu einer Neuauflage des seit über 30 Jahren mit Freunden, Kindern und deren Freunden stattfindenden, nur 2020 und 2021 wegen der Pandemie nicht möglichen offenen Hauses kommen. Man wird sitzen, reden, trinken und kiffen, bis eine neue Welle sich aufbaut, die sie ins nächste Jahr spült. 2022 hat fünf Menschen das Leben gekostet, die Herr M. kannte. Herr M. staunt, dass er noch da ist. Herr M. will noch bleiben. Er muss Hundert werden. Natürlich geistig und körperlich gesund. Sein Lebensmut ist größer als sein Weltekel. Er erwartet noch etwas. Messi hat sechzehn Jahre auf den Weltmeistertitel gewartet. Ja und, sagt Herr M., ich warte mein ganzen Leben. Jeden Augenblick kann es geschehen, und es wäre fatal, wenn ich nicht mehr da wäre. Gleich geht er in die Küche, um Grünkohl zuzubereiten. Den Abend verbringt er mit Lesen, Facebook, YouTube, Arte, Mubi, Netflix, yourporn, Süddeutscher Zeitung. Das Trümmerfeld der Homo Sapiens kann gar nicht so schnell renaturiert werden, wie die nächsten Einschläge es verwüsten.


Di 20.12.22 14:48 grau und feucht

M. huldigt
heiteren Momenten
m. herzergreifenden Hackentricks
himmelstürmender Hochradakrobatik
hochradiaktivem M.
M. holt Hopfensaft


Mi 21.12.22 16:50 grau und feucht

ich hänge
bin die glocke
läute für gerechtigkeit
und bin doch selbst nur katzengold
betrogener betrüger
und breit
aufgestellt
als exzellenter lügner


17:32

Das Fest macht mir Angst. Schon immer.


Do 22.12.22 17:42 morgens grau, mittags sonnig, mild

Der dreißigjährige Verkäufer trägt einen eng geschnittenen blauen Anzug und eine große, viereckige goldene Uhr am linken Arm. Sie ist entweder teuer, eine Replik, aber in jedem Fall findet Herr M. sie hässlich. Sein Gesicht ist schmal. Sein Haar ist akkurat gescheitelt. Der Scheitel wirkt wie in die Kopfhaut gefräst. Sein Haar ist dunkelblond und jedes kennt seinen Platz. Um das hinzukriegen, muss man morgens früher raus. Er ist über 1.90, wirkt zurückhaltend, fast hochmütig, als würde die Welt ihn beleidigen, aber auf die Frage nach Issey Miyake Deodorant entspannt er. Er hatte gedacht, dieser Mann mit Mehrtagebart, schlecht geputzten Schuhen und doppelt umgeschlagener Wollmütze könne nichts anderes wollen als irgendein Parfum für seine Frau. Tut mir leid, sagt er, das haben wir nicht, das Weihnachtsgeschäft, Sie verstehen, in zwei, drei Wochen ist es wieder da. Ob er ihm ein anderes Produkt empfehlen könne? Nein. Verstehe, sagt er, Sie sind festgelegt! Ja. Seit hundert Jahren.

So 25.12.22 17:03 grau

Die Angst war gerechtfertigt.

 

Di 27.12.22 16:37

hab ich dich verraten
hast du dich verkauft
komm lass mich raten
du hast mich missbraucht


Mi 28.12.22 17:29

Abrechnung 2022 folgt nach Inhalation frischer Kräuter.


Do 29.12.22 12:05

Jahresrückblick 2022

Januar: Reise auf den Darß. Aquaplaning kennengelernt. Squid Game geguckt. Februar: Die Seuche ist imme noch da. Die Frau schneidet Stoff für ein Kleid. März: Ich höre auf, Seuchentage zu zählen. Der Krieg beginnt. Erste Gartenarbeiten. April: Thorsten Lansing: Verrückt nach Trost im Pumpenhaus gesehen. Großartig. Bin immer noch Pazifist. Mai: Urlaub auf dem Priewall. 26.000 Fahrradkilometer erreicht. Juni: Pumpenhaus-Lesung "Mitten im Geschwätz" Wegen urheberrechtlicher Bedenken die Hörbar vom Netz genommen. Verhandlungseröffnung gegen D., unserem ehemaligen Bassisten. Er hatte Gras angebaut. Mit dem 9 Euro Ticket nach Wuppertal. Ich glaube noch immer an das Abenteuer. Juli: Ein harter Kriegswinter mit Engpässen und Einschränkungen wird prognostiziert. Unser ehemaliger Schlagzeuger hat Harnröhrenkrebs. Ich habe einen Droste-Loop veröffentlicht. Wir sehen Black Rider im Borchert Theater. Amüsant, aber nicht toll. 9 Euro - allein nach Soest, Freiligrath hat kurz dort gewohnt. Abstecher zum Möhnesee. Neue Kamera gekauft. Lumix TZ202. Liedtext für Zezo. Zeit ist nicht gutmütig. 9 Euro Ticket nach Enschede. Es ist heiß. 9 Euro Ticket Bielefeld. Zur Kunsthalle. Es regnet. Die Villa Massimo kommt ins Visier. Lese seit sechs Wochen Clemens Seitz: Die Stunde zwischen Frau und Gitarre. 395 von 1018 Seiten. August: 9 Euro Ticket Duisburg - Lehmbruck Museum. Sehr sehr heiß´. Lese Gerbrand Bakker: Boven is het still. 9 Euro Ticket nach Leer. Weiß jetzt, warum Schafe bei Hitze im Kreis beisammen stehen. Der Gedanke zum Kauf eines E-Bike taucht auf. Idee: Wegraim!!! E-Bike gekauft. Mit 9 Euro Ticket zu Tante Ulla. Ende des 9 Euro Tickets. Erkunde das Darknet. September: Aprilia ist kaputt. Lesung in Nottbeck. Lilibeth stirbt. Gescheiterter Auftrag: sollte Gedichte des koreanischen Dichters Kim Jun Tae nachdichten, war aber zu frei. Lesungen auf der Burg und in Epe. Eine alte Freundin stirbt. Oktober: Amelandurlaub wegen Familienstreits abgebrochen. Entdecken stattdessen Leeuwarden. Maronen gesammelt und Quitten geerntet. Für LWL Projekt "Kleine Leute" einen Beitrag geschrieben. Aprilia Tour nach Haltern, Borkenberge und ins Westmünsterland. Kraniche ziehen. November: Bewerbung für die Villa Massimo abeschickt. Es ist immer noch viel zu trocken. Mispeln geerntet, püriert. Nicht lecker. Dezember: Pegasus Endstand 26.610 KM. Citizen: 6.398 KM. Fahrleistung seit Kauf 1400 KM. Gesamtfahrleistung: 28.010 KM. Clemens Seitz jetzt bei 593 Seiten.


16:30

ich sing ein lied
zum jahresende
das dreiundsiebzigste
und blende
nicht einen aller tage aus
wohin ihr clickt
(www.hermann-mensing.de)

ihr findet mich
es treibt mich um
zu jeder tageszeit
ich hab zu tun
auf einem sofa
neben einer einsamkeit
und stiller heiterkeit