Hermann Mensing

Die erste große Rechnung seit Elvis Presley (Version 14.12.21)

Frau Meier hatte Kaffee gekocht. Ein Lehrling aus dem Dritten hatte seine Prüfung bestanden und gab einen aus. Hinkelmann war nicht da. Nach dem Schützenfest der Brüderschaft Sankt Augustin hatte er seinen Wagen volltrunken in eine Böschung gebohrt. Er war mit einer leichten Gehirnerschütterung davongekommen. Aber das Beste an diesem Morgen war: der Prokurist Matz war auch außer Haus. Blieben nur Lehrlinge und Sekretärinnen.

Herr M. war gerade vom Zoll zurückgekommen. Sehr erfolgreich war er nicht gewesen. Es ging um Ersatzteile für tschechische Autos, Schraube für Schraube musste identifiziert und einem Paragraphen in den umfangreichen Regelwerken des Zolls zugeordnet werden. Er warf zwei Stückchen Zucker in seinen Kaffee und rührte um.
Der Lehrling erzählte, wie der Prüfer versucht hatte, ihn reinzulegen. Es war Herr König. Herr M. kannte ihn von der Berufsschule. Er war streng, aber korrekt, und er glaubte nicht, dass er es darauf anlegte, jemanden reinzulegen, deshalb schenkte er dem Bericht keine Aufmerksamkeit.
Sein Blick fiel auf das Feuilleton einer Zeitung. Beatles kommen zu einer Blitz Tournee! stand da. Herr M. trank ich einen Schluck Kaffee, bekleckerte die Verzollungspapiere, fluchte, zog das Telefon zu sich und wählte die Nummer des Reisebüros und der Lotto-Annahmestelle Gärtner. Herr Gärtner war ein krummbeiniger Mann. In jungen Jahren hatte er mit Herrn M.'s Vater Fußball gespielt. Als Herr M. ihn fragte, ob er bei ihm eine Karte für die Beatles bestellen könne, fragte er, ob sich das bei dem Preis denn wohl lohne. Zwei Tage später hielt er die Karte in Händen.

Bravo Beatles Blitz Tournee
stand darauf.

Im Büro lachte man über Herrn M.
"Du bist doch verrückt!", sagten sie.
"Natürlich." antwortete Herr M.
Mehr als ein halbes Lehrlingsgehalt im Ersten war für die Karte inklusive Reise nach Essen draufgegangen, aber er hätte auch mehr bezahlt.

Noch zwei Wochen. Noch eine Woche. Noch einen Tag.
Der Sonderzug kam aus dem Norden und war randvoll mit Gleichgesinnten. Alle waren aufgekratzt. Eine Touropa Hostesse drückte Herrn M. ein Fresspaket in die Hand und wünschte ihm eine angenehme Reise.
"Danke!" sagte Herr M. und suchte sich einen Platz. Das also sind meine Leute, dachte er. Einer kaute eine pappige Frikadelle, einer zerrte am sehnigen Fleisch seines Koteletts, Cola-Dosen zischten. Der Zug setzte sich in Bewegung. Als Herr M. die Augen schloss, konnte er nicht mehr mit Sicherheit sagen, in welcher Gesellschaft er sich befand. Es hätten Kegelbrüder sein können. Oder Speditionskaufleute auf Betriebsfahrt.

In Gedanken ist Herr M. längst in der Halle, eingekreist von der Zukunft der Chimäre Deutschland, die an diesem Abend nur eins im Kopf hatte. Niemand dachte an die Zukunft. Im Büro nannte man mich bei meinem Hausnamen. Bei einigen klang das freundlich, bei anderen nicht. Herr M. empfand es als Auszeichnung. Für ihn war Mensing ein geschützter Markenartikel, das Synonym für verzweifelte Suche, die Gleichung für Flucht.
Heute würde er die Beatles sehen.

Herr M. : Ururenkel eines aus dem thüringischen stammenden Kirchenmusikers und einer Gastwirtstochter aus der Grafschaft. Urenkel eines preußischen Staatsdieners und seiner Frau. Herr M. hatte ihre Herkunft vergessen. Sowieso waren ihm Verwandtschaftsverhältnisse ein Rätsel. Enkel einer aus dem niederländischen Friesland stammenden Frau und eines Kötter-Sohnes. Sohn eines Fußballers und einer feinen Bürgertochter.
Was sonst könnte ich mir auf die Fahne schreiben?
Ah, jetzt fiel es ihm wieder: Erbe des Holocaust.

Die Grugahalle vibrierte.
Jeder der Anwesenden glaubte, dass sich die Welt zum Besseren wendet und würde später einmal vor den kühlen Fassaden der Postmoderne (was war das eigentlich?) stehen und sich fragen, wieso alles Geschäft ist, eiskaltes Geschäft.
Da ist er wieder: Herr M. Meister der Binsenweisheiten.
Gleich werden die Beatles über ihn hereinbrechen. Schenkt man John Lennon Glauben, war es mit ihnen vorbei, als Brian Epstein sie in Anzüge steckte und Pilzköpfe aus ihnen machte. Die Beatles waren die erste große Rechnung seit Elvis Presley. Sie machte Paul McCartney zum Millionär und John Lennon zur Leiche.
Die Beatles. Drei Herren mit Leiche.

Herr MJ. verlor zunehmend Kontur. Die Masse saugte ihn auf und verschmolz ihn und die anderen in einen Gedanken. Möglich, dass es ein Fieber war. Möglich, dass ein kühler Kopf jetzt noch den Überblick behielt, aber sein Kopf war nicht kühl. Sein Kopf war westfälisch. Sein Vater sagte oft, dass man ihm seinen Dickkopf eigentlich aus dem Leib prügeln müsste. Aber er wusste, dass das bei mir nichts nutzt.
Das Licht verlosch.
Die Fiebernden halluzinierten.
Sie glaubten, dass niemand sie je wieder trennt.
Meine Damen und Herren: Die Beatles!
Herr M. war nicht mehr bei sich. Er starrte auf die Vorhänge hinter der Bühne. Mit jedem Luftzug, der sie bewegte, ging ein Raunen los.
Die Beatles? - Nein. Die Rattles.
Die Beatles? - Nein. Cliff Bennet & the Rebel Rousers.
Die Beatles? - Nein. Peter & Gordon. Aber immerhin. Sie sangen einen McCartney Song.
Woman, do you love me...
Herr M. dachte an Ineke, Yoke und die andern. Woman, do you need me ...
Das Lied war so schön, daß ihm Tränen in die Augen stiegen.
Dann ein Schrei. Ein ohrenbetäubendes Kreischen, genau das, was man von Beatles Konzerten gewohnt war. Die Zukunft der Republik, die nicht ahnte, dass sie gemolken wurde, kreischte wie am Spieß. Die Beatles verbeugten sich: vier adrett aussehende junge Männer, die nicht recht verstehen konnten, dass man soviel Aufhebens um sie macht. Aber sie hatten sich abgefunden. Seit Jahren schon waren sie es gewöhnt, gegen das Geschrei ihrer Fans anzuspielen.

Leibhaftige Beatles standen da oben.
Rock n Roll Music war ihr erstes Lied.
Im Grunde war es unwichtig, was da gesungen wurde.
Hauptsache, einer sang. Hauptsache, einer, der so berühmt war, sang vor.
Die Masse war reif, geknetet zu werden.
Lennon knetete für die Revolution, McCartney für den Glauben an das Liebenswerte im Mann, Starr für die zu kurz Gekommenen, Halbblinden, Lahmen und Krummbeinigen, Harrison war sehr entrückt und sehr schüchtern, noch nicht Fisch, noch nicht Fleisch, doch man ahnte, dass er fürs Nirvana die Saiten wrang.
Es ging über die Stuhlreihen nach vorn, aber die Welle hatte nicht den Druck, den man aus England gewohnt war. Halbherziger war das. Die Rock 'n Roller, die für Bill Haley Säle in Trümmer legten, hatten nur Verachtung für dieses Spielart des Rock 'n Roll übrig. Er war ihnen zu fein. Nichts für die Arbeiterklasse. Mehr was für die Mittelschichtkinder der Republik. Herr M. hatte die erste Welle davonziehen lassen, hockte auf der Stuhllehne und sang jeden Ton mit. Ohne diese Lieder hätte er nie so gut Englisch gelernt. Ohne diese Lieder gäbe es ihn vielleicht gar nicht und die Welt sähe anders aus.

She's a woman.

Herr M. sah, wie die Ordner versuchten, Ordnung zu schaffen, aber sie schafften es nicht. Ihre Ordnerbinden verrutschten. Jeder dieser Verrückten wollte an ihre Ehre. Aber ganz so schlimm, wie es die Ordner sahen, war es nicht. Die Kinder legten ja nichts in Stücke. Sie, die Avantgarde der käuflichen Revolution, waren nur ein wenig aus der Fasson geratene Konsumenten. Die Marktbeobachter wussten, dass die Welle ihrer Begeisterung, die um die Welt schwappte, eine Geldwelle war. Prächtiges Geld. Haufenweise Geld. Der Traum von der Revolution, Lennons Revolution, war längst verkauft. Die Revolutionäre, denen das Haar über den Kragen quoll und die alles taten, Väter und Mütter zu ängstigen, hatten keine Chance.
Links vor der Bühne ( Herr M. wollte das zuerst gar nicht glauben) hatte sich ein freier Platz aufgetan. Außer ihm schien es niemand zu sehen. Links vor der Bühne stand ein kastenähnliches Etwas, vielleicht eine Lautsprecherbox (vergessen, ich habe vergessen, du hast vergessen etc. wie man alles vergisst) und niemand saß drauf. Alles knäulte vor der Bühne. Die Ordnungskräfte hatten sich dort zusammengezogen. Ihr Auftrag: rettet den Saal und die Beatles.

Herr M. sprang vom Stuhl und hastete aus der 27ten Reihe nach vorn. Baby's in Black. Bei Reihe 14 stellte sich ihm ein Ordner in der Weg. Herr M. rannte Zickzack, doch das war nicht nötig. Reihe 13 rüstete zum Sturm. Der Ordner wandte sich ab, Herr M. erreichte den Kasten und kletterte hinauf. Jetzt konnte er George in die Augen sehen und mit Ringo Breaks trommeln. Paul lächelte sein Schweinchen-Schlau-Lächeln und John, außen rechts, winkte ihm zu. "Mensch, schön dich zu sehn. Komm nachher hinter die Bühne. Ich hab' da ein Lied und wüsste gern, ob's dir gefällt." Herr M. nickte. Während um ihn der Sturm tobte (I feel fine), war er der Fels. Er konnte gar nicht anders. Ab und an riss er die Arme hoch, ein Ertrinkender, der in Gitarrenakkorden ersäuft. Und eh er begriff, dass er im Himmel war und da nie wieder weg will, schwenkten die Vier die Arme, verbeugten sich höflich und weg waren sie.

Nur zögernd ließ Herr M. sich von den aus der Halle strömenden Menschen mitziehen. Herr M. heulte. Er dachte nicht, im Himmel denkt niemand, vielleicht ahnte er, dass der Himmel Nichtdenken bedeutet, der Himmel ist frei von diesem Übel und die Hölle ist da, wo das Denken anfängt.
Auf dem Vorplatz der Halle atmete Herr M. auf. Hatte er die Beatles gesehen? Ja. Kein Zweifel. Er hatte sie gesehen. Sie hatten nur für ihn gespielt. Jeder Akkord galt ihm.
"The next song is for our friend from Westfalia, Herman Mensing."

Herr M. blickte zu den verhängten Fenstern der Fassade. Hinter den Fenstern waren Garderoben. Da waren die Beatles. Sie tranken Champagner und die hübschesten Mädchen warteten schon. Da sollte er sein. John hatte doch gesagt, dass er ihm was vorspielen wolle.
"Ich muss zu John Lennon", sagte Herr M. zu einem Ordner am Eingang.
"Das will jeder", antwortete er lachend. Dann sah er sein verheultes Gesicht, schüttelte den Kopf, als sei Herr M. sein Sohn, klopfte ihm auf die Schulter und sagte: "Nimms nicht so tragisch Junge, einmal isses nu ma vorbei."
"Das sagt jeder", sagte Herr M.
Der Ordner sah ihn ratlos an. "Geh ma." sagte er. "Geh ma nach Hause."


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