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Hermann Mensing

Under the boardwalk

Ich war siebzehneinhalb, meine Lieblingsfarbe war blau, mein Lieblingsbaum die Kastanie (vielleicht, weil meine Mutter mir einmal erzählte, an meinem Geburtstag hätten Kastanien geblüht), ich aß noch immer am liebsten weiße Bohnen in saurer Sauce mit Bratwurst, ich fühlte mich anders als andere, aber ich hätte nicht sagen können, was mich unterschied.
Ich machte meine Arbeit ordentlich, aber es war nicht die Arbeit, die ich tun wollte. Ich würde danach suchen, soviel stand fest. Irgendwo gab es eine Arbeit, die nur mir zustand. Eine Arbeit, die mich mit der Welt versöhnte, falls das überhaupt möglich war.
Ich mochte die Welt nicht.
Sie war falsch, und bis jetzt hatte mir noch niemand das Gegenteil beweisen können.
Ich suchte Sinn. Ich würde alles anders machen, als meine Eltern.
Aber wie? - Oft saß ich in meinem Zimmer, hörte Musik oder schrieb Briefe.
Viele meiner alten Kontakte waren eingeschlafen, neue waren hinzugekommen, aber wichtig waren nur die Briefe von Linda . Sie lebte in London und war Jüdin. Sie wollte wissen, wie man sich fühlt, wenn man Deutsch ist. Ich hatte noch nie einen Juden getroffen. Die Bilder von Juden in meinem Kopf waren die Bilder meiner Eltern: Männer in Kaftanen. Männer mit großen Nasen. Geschäftstüchtig bis gerissen. Bilder von Frauen hatte ich nicht. Trotzdem war ich erstaunt, dass Linda blond war.

Ich wusste, was man Juden angetan hatte.
Ich wusste, dass ich Erbe dieser Katastrophe war.
Am liebsten wäre ich Holländer geworden.

Die Tatsache, dass Linda Jüdin war, unterschied unsere Korrespondenz von anderen. Aber noch wichtiger war, dass sie in London wohnte. Im Sommer würde ich sie besuchen. Heinz wollte auch mitfahren. Wir hatten alles geplant. Als am 24. Juni 1967 zum ersten Mal in der Geschichte des Fernsehens eine Sendung weltweit live übertragen wurden, saßen Heinz und ich vor dem Apparat. Heinz hatte seine Pentax auf ein Stativ montiert. Der Raum war verdunkelt. Wir waren aufgeregt, denn dies war keine gewöhnliche Sendung.
Die Beatles schickten die Losung der kommenden Jahre über den Äther.
All you need is love.

Ich konnte nur zustimmen. Ich hoffte, dass meine Eltern es sehen würden. Dann hätten sie den Beweis. Wenn es nach den Beatles und mir ginge, sähe die Welt anders aus. Wenn es nach den Beatles und mir ginge, gäbe es all diese grässlichen Verwicklungen nicht. Die Beatles und ich würden die Welt verändern. Ich hatte Tränen in den Augen, als ich sah, dass sogar Mick Jagger im Studio war.
Ich hatte ihn immer für den Erzfeind der Beatles gehalten.
Aber das stimmte gar nicht.

All you need is love. Irgendwer spielte Trompete auf dieser Platte. Die Tatsache, dass es eine Bach Trompete war, musste jeden Kritiker verstummen lassen. Die Beatles waren auf dem Höhepunkt ihres Ruhms. London war der Mittelpunkt der Welt. Linda lebte in London und wir würden bald dort sein.
Wenig später erhielt Heinz seinen Einberufungsbescheid.

Am Morgen des 3. August 1967 (es war viertel vor eins) stand ich mutterseelenallein an einer Autobahnauffahrt. Ich fürchtete mich ein wenig. Heinz war Soldat, also war ich auf eigene Faust allein losgetrampt.Ich stellte meinen Rucksack hinter die Leitplanke und kramte ein Butterbrot aus der Seitentasche. Gent lag hinter mir: Lichter in ein paar mittelalterlich anmutenden Straßen und Leuchtreklamen, auf denen Stella Artois stand. Die Nacht war kühl und ein wenig feucht. Bis Ostende war es nicht mehr weit, aber es war wenig Verkehr. Während ich mein Brot aß, überlegte ich, ob ich unter einen Busch kriechen sollte, um den Morgen abzuwarten.

Nein. Ich durfte jetzt nicht den Mut verlieren. Die Reise hatte ja gerade erst begonnen. Ich stopfte meine Pfeife, zündete sie an, paffte dicken Rauch in die Nacht und starrte in die Richtung, aus der die Autos kommen mussten, die mich nach Ostende bringen sollten. Ich hatte schon oft an Straßen gestanden, auch nachts, aber das hier war etwas anderes. Das hier war Belgien und ich wusste nicht einmal, was Stella Artois bedeutet. Belgien hatte einen König. Er hieß Baudoin und seine Frau hieß Fabiola, das wusste ich. In den Illustrierten, die meine Mutter las, stand viel über die beiden. Man sagte, sie wären ein glückliches Paar.

Die Peitschenleuchten entlang der Autobahn verbreiteten orangefarbenes Licht. Es war ein bisschen unheimlich, vor allem, weil weit und breit kein Auto zu sehen war. Um mich abzulenken, zog ich mein Tagebuch hervor (mein erstes Tagebuch) und überlegte, wie ich anfangen sollte. Sicher war der erste Satz wichtig. Vielleicht würde ich später einmal darüber lachen, aber hier, mitten zwischen Wiesen und der im Dunkel versinkenden Stadt, würde der erste Satz mich beruhigen, davon war ich überzeugt. Es sollte kein gewöhnlicher Satz sein. Es sollte so etwas sein wie das Programm dieses Sommers. Ein Satz, der jedem klar machte, dass hier einer unterwegs war, der sich etwas vorgenommen hatte.
I' coming! dachte ich.
Es kam mir vor wie ein ein Zauberspruch, der die bösen Mächte davon überzeugte, dassich mich nicht überrumpeln lassen würde, ganz gleich, was kam.
I'm coming.
Eigentlich zeichnete ich diesen Satz. Seit Rubber Soul hatte sich eine Schrift eingebürgert, die aus jedem Buchstaben ein aufgeblasenes kleines Kunstwerk machte.


Kaum war die Beschwörung fertig, tauchten die Lichtkegel eines Autos auf. Mein Herz machte einen Sprung. Ich reckte mich und blickte dem Auto entgegen, entschlossen, es zum Anhalten zu zwingen. Meine Gedanken ließen keinen Ausweg mehr zu.
Der Wagen hielt. Ich schulterte meinen Rucksack und rannte los. Am Steuer saß ein übermüdeter Mann Mitte Fünfzig. Er nickte mir freundlich zu. Ich komme ihm gerade recht, dachte ich. Ich würde ihn bis Ostende wachhalten müssen. Dass er betrunken war, merkte ich erst, als die Wagentür schon geschlossen war. Sein Geruch erinnerte mich an unser Betriebsfest. Er gab Gas, die Reifen quietschen, der Citroen ging in die Knie, aber er lachte nur. "So?" sagte er. "Nach Ostende willst du. da liegst du bei mir gerade richtig."

Wir sprachen Holländisch miteinander. Die Peitschenleuchten schlugen über mir zusammen. Der Mann summte. Den linken Ellenbogen hatte er ins geöffnete Fenster gelegt. Er steuerte mit zwei Fingern der rechten Hand. Ich starrte auf den Tachometer. Hundert war schon längst keine magische Grenze mehr. Der Mann fuhr 150 und wenn er sich eine Zigarette anzündete, ließ er das Steuer los. Ich versuchte zu beten, aber nach einiger Zeit verlor ich meine Furcht. Die Straße war eben. Der Wagen lag gut in der Spur. Außerdem schien es mir, dass der Mann mit jedem Kilometer, den wir zurücklegten, nüchterner wurde. Kurz vorm Ziel legte er mir seinen Arm auf die Schulter.
"Wie alt bist du?" sagte er.
"Siebzehn", sagte ich.
"Siebzehn!" sagte er. "das ist jung. - Hast du eine Freundin?"
"Nein."
"Gut", sagte er. "Aber ich habe eine. Ich komme gerade von ihr. Weißt du, was passiert, wenn ich gleich nach Hause komme?"
"Nein."
"Ich kriege Krach!" sagte er lachend. "Wo musst du hin?"
"Zur Fähre."
"Oh!" sagte er. "Dann komme ich mit. Da trinken wir zusammen noch einen Kaffee."
Es ging auf halb drei. Das nächste Schiff fuhr am frühen Morgen. Der Mann spendierte mir einen Kaffee und einen Croissant. Dann verabschiedete er sich. Ich ging in den Warteraum, rollte mich in meinen Schlafsack und versuchte zu schlafen. Aber ich konnte kein Auge zutun. Ich war zu aufgeregt. Durch ein geöffnetes Fenster zog Seeluft herein. Sie roch so gut, dass ich dachte, ich hätte vielleicht schon die halbe Welt umrundet. Ja, ganz bestimmt. Alle Unrast fiel von mir ab. Zum ersten Mal seit siebzehn Jahren fühlte ich rundum wohl. Die Welt gehörte mir. Die Beatles und ich hatten das geschafft. So wohl konnte man sich nur fühlen, wenn man frei war und ich war frei.
Jemand rüttelte mich unsanft. Ich schlug die Augen auf. Ein Mann in Uniform sagte, ich solle aufstehen.
"Wie bitte?" sagte ich.
Der Mann machte ein unfreundliches Gesicht. "Aufstehen!"knurrte er.

Ich kroch aus dem Schlafsack. Am Pier lag ein großes Schiff. Der Morgen dämmerte. Motoren tuckerten und Möwen kreischten. Ich packte meine Sachen, löste ein Ticket und ging an Bord. Ich fühlte mich plötzlich zerschlagen. So etwas wie Heimweh kroch in mir hoch, aber ich dachte, mit einem guten Frühstück würde sich das schnell ändern. Das Schiff roch nach übernächtigten Menschen, kaltem Rauch und schalem Bier. Mir wurde fast schlecht. Die Bedienung in der Lounge war unfreundlich. Ich verzog mich mit einem Teller scrambled eggs an einen Tisch unter einem Bullauge, aß und versuchte meine Umgebung zu ignorieren.
Als das Schiff auslief, kroch die Sonne durch den Dunst. Ich fasste wieder Mut. Ich dachte an den Mann, der mir Kaffee spendiert hatte und übersah die griesgrämigen Gesichter der Kellner. Das Schiff vibrierte. Ich ging an Deck, suchte mir einen windgeschützten Platz, kuschelte mich in meinen Schlafsack und träumte da weiter, wo ich vor einer Stunde aufgehört hatte.
Ich war auf dem Weg um die Welt. Vielleicht war es das, was ich tun sollte.

Zwei Stunden später tauchten die weißen Felsen von Dover aus dem Dunst.
Ich musste an Griesberge denken, die das Schlaraffenland einschlossen. Die Leute an Bord wurden aufgeregt. Ich bat jemanden, ein Foto von mir zu machen. Das Schiff lief in den Hafen. Ich fühlte ich mich wie ein König. Die Welt gehörte mir. Wie im Traum lief ich durch Dover.
An der Ausfallstraáe standen Tramper wie an einer Schnur aufgereiht.
Jeder grüßte.
Ich stellte mich ans Ende. Jeder Tramper wusste, dass der, der zuerst an der Straße stand, ein Recht auf den ersten Platz hatte. Sie kamen aus allen Teilen Europas. Wie ich wollten die meisten nach London. Alle waren angesteckt von diesem Virus. Alle glaubten, London sei das Zentrum der Welt.
Ich war stolz.

Seit knapp vierundzwanzig Stunden war ich unterwegs, und schon in England. Das sollte mir erst einmal einer nachmachen. Ich ging in ein kleines Geschäft, kaufte Brot, Milch und einen Riegel Schokolade.
"Thank you luv", sagte die Verkäuferin, als ich ihr Geld gab. Sie erinnerte mich an meine Mutter.
"Don't mention it", antwortete ich, aber ob das die richtige Wendung war, wer weiß. Sie lächelte und gab mir raus. Ich besaß 46 Pfund, 15 Schilling und 7 Pence, die komplizierte Arithmetik der Briten machte mir etwas zu schaffen, aber ich würde es lernen. Ich hatte ja drei Wochen Zeit.
"Are you goin' to London?" sagte die Verkäuferin.
"Yes", sagte ich. "But first to Brighton."
"O lovely!" sagte sie. "It's splendid there." -
Splendid? dachte ich. Splendid, splendid ... und dann begriff ich.

Ich nahm mir vor, Englisch zu denken. Ich wusste nicht, ob das ging, aber versuchen würde ich es, dann fiele das lästige Übersetzen weg. Wenn ich in Holland war, brauchte ich nichts übersetzen. Holländisch war meine zweite Haut. Englisch war meine Liebe. Das war ich den Beatles schuldig. Den Beatles und ihres Liedern.

Fünf Stunden später lag ich vor meinem Zelt. Ich trug eine Sonnenbrille mit runden Gläsern. Der Himmel war hoch. Ich trank Milch, aß einen Apfel und fühlte mich wie damals in Zandvoort. Das Meer war ein mächtiger Zauberer. Ich konnte es hören. Ich musste nur aufstehen, über die Straße gehen, einen kleinen Park durchqueren und schon lag es vor mir.
Ich nahm meine Mundharmonika und spielte ein Lied. Zuerst klang es so, als hätte ich Heimweh, aber dann wurde es fröhlich. Es war Freitag, meine Stadt lag in einer anderen Welt und ich empfand meine Reise wie eine Initiation. Ich gehörte jetzt dazu. Ich war eingeweiht. Nur die Eingeweihten wussten. Ich stellte mir das so ähnlich vor, wie es im Glasperlenspiel beschrieben war.
Mir machte man jetzt nichts mehr vor.

Im Nebenzelt wohnten Schweden. Ein Zelt weiter wohnten Franzosen. Noch ein Zelt weiter wohnte ein holländisches Mädchen. Sie war mit dem Moped unterwegs. Ich weiß nicht, ob mein Lied sie angelockt hatte, jedenfalls saßen sie plötzlich vor meinem Zelt und hörten zu.
Dabei konnte ich gar nicht Mundharmonika spielen.
Das einzige, was ich wirklich konnte, war Schreibmaschine schreiben.
Ich blies Rotz und Wasser. Die Lieder, die dabei rauskamen, waren eingebildete Lieder. Hätte jemand gesagt, spiel mal ‚Girl', wäre ich aufgeschmissen gewesen. Ich sah auf, nickte und spielte weiter.
Das holländische Mädchen gefiel mir.

Als ich aufhörte, machte sie uns Kaffee. Danach gingen wir zur Pier. Es war Flut. Vom Kieselstrand war so gut wie nichts mehr zu sehen. Im Ballroom spielte eine Band. Der Sänger sah aus wie Charles Aznavour, aber er gefiel uns nicht. Das heißt, den Franzosen gefiel er, den Schweden auch, aber Marion (so hieß die Holländerin) und ich fanden ihn blöd. Es war noch früh, knapp nach Sonnenuntergang und Marion hatte Hunger.
Wir aßen Fish & Chips. Fish & Chips aus einer zusammengerollten Zeitung. Sie waren billig und schmeckten gut.

Unter der Pier hatten sich Hippies versammelt. Einer spielte Gitarre.
Marion und ich setzten uns zu ihnen. Marion sagte, in Amsterdam gäbe es auch Hippies.
In meinem Kaff gab es keine, und ich beschloss, der erste zu sein. Aber ich wusste nicht genau, was Hippies eigentlich waren. Deshalb passte ich auf. Einer trug einen indischen Kaftan und hatte Holzketten um. Ein anderer trug eine etwas abgetragene, früher sicher prachtvolle Uniformjacke irgendeiner Armee. Viele hatten Armreifen und Ringe. Lange Haare hatten alle. Die Mädchen trugen weite indische Kleider. Ich kam mir ein bisschen hinterwäldlerisch vor, aber Marion sagte, ich sähe doch gut aus, besser als die.
Das freute mich.

Als es dunkelte, holte Marion ihr Moped.
Wir fuhren die Uferstraße entlang, ließen Brighton hinter uns, bogen in einen schmalen Weg und setzten uns an die Steilküste. Ich war nicht schwindelfrei, aber Marion machte das überhaupt nichts. Sie stellte sich auf ein Bein und tat so, als könne sie fliegen. Am Horizont zogen Schiffe vorbei. Wenn ich Schiffe sehe oder auch nur von fern tuten höre, wird mein Fernweh unerträglich. Dann kann ich gar nicht weit genug fort sein von zu Haus. Ich kniff die Augen zusammen und sah die einsame Palme, die in Brighton vor einem Hotel stand.
Eine richtige Palme.
Irgendwann wollte ich dahin, wo es Palmenwälder gibt.

Am nächsten Morgen packte Marion ihre Sachen. Sie wollte nach Cornwall. Das war die erste Überraschung. Ich fand das schade. Wir waren am Abend noch in den Tudor Club gegangen. Flower Power und Tudor Club waren ein und dasselbe, zumindest in Brighton.

Die zweite Überraschung kam über den Zeltplatzlautsprecher.
Alle jugendlichen Reisenden sollten bis Mittag den Platz räumen. Die Lautsprecher schnarrten. Ich verstand nicht, warum ich mein Zelt abbauen sollte. In der Rezeption sagte man es mir. Vor zwei Jahren hatten sich Rocker und Mods in Brighton eine Schlacht geliefert. Ich erinnerte mich. In ‚rave' hatte ich davon gelesen. Rocker und Mods hassten sich. Sie schlugen aufeinander ein, zerstörten Fensterscheiben, plünderten und steckten Telefonzellen in Brand. Ich warf ein, ich sei weder Rocker noch Mod, aber der Zeltplatzleiter, ein hagerer Mann mit einer Nase, gegen die Prinz Charles Nase klein war, sagte, die Regel gälte für alle.
"Sorry mate, but that's how it is."
"Und wo soll ich schlafen?" fragte ich.
Er zuckte die Achseln.

Ich stand da und kratze mich am Kopf. Zweifellos hatte ich ein Problem. Ich nahm mir Zeit mit dem Zelt. Die Schweden waren schon fort. Nach einer Stunde marschierte ich durch den Park hinunter zur Promenade. Ich hatte noch keine Ahnung, wo ich hin sollte. Zum Glück lernte ich den Verkäufer einer Fish & Chips Bude am Strand kennen, ein untersetzter, rothaariger Mann mit Fleischerhänden. Ich hatte ihm gesagt, wie gut seine Fritten schmecken, und er schloss mich in sein Herz. Als ich ihm von meinem Problem erzählte, sagte er, ich könne mein Gepäck bei ihm unterstellen.
Die Nacht von Samstag auf Sonntag verbrachte ich auf einer Bank in den Anlagen der Strandpromenade. Ich war nicht der einzige. Sie lagen überall.

Sonntag kurz nach Sonnenaufgang erlebte ich meine dritte Überraschung.
Ich hatte mich mit einem Waliser angefreundet. Später waren noch Schweden zu uns gestoßen. Am Abend hatten wir ein Strandfest gefeiert. Schwedinnen waren dabei, Brighton wimmelte von Schwedinnen, eine Französin, und Joyce, ein Hühnchen aus Salisbury. Wir hatten Wein, Sherry und Cola getrunken und nackt gebadet.
Wir waren richtige Hippies.

Jemand rüttelte mich an der Schulter. Ich öffnete schläfrig die Augen. Ein Bobby stand vor mir. Ich fuhr hoch. Der Bobby lächelte. Ich wollte etwas sagen, aber der Bobby nickte, sagte "come on, it's time to get up" und ging weiter. Das machte Eindruck auf mich. So etwas traute ich deutschen Polizisten nicht zu. Meine Abneigung gegen deutsche Uniformierte saß tief. Ich kroch aus dem Schlafsack. Die Schweden sahen dem Bobby verdattert nach. John, der Waliser, rieb sich die Augen, zündete sich eine Zigarette an, wand sich aus dem Schlafsack und baute seinen Spirituskocher auf.
"Tea?" fragte er.
Alle nickten begeistert. Eine Viertelstunde später kam der Bobby zurück, blieb stehen, sah in den Himmel und sagte: "It's gonna be a fine day, don't you think so?"
"Yes", murmelte ich.
Überm Wasser hingen Nebelschwaden. Die Sonne war noch fahl. Jonathan bot dem Bobby Tee an.
"Had breakfast already", sagte er. "Nevertheless, thank's a lot." Dann verabschiedete er sich und ging pfeifend davon. Ich sah ihm nach.

Irgendetwas war dran an diesen Engländern. Ihre Autos waren altmodisch, manche hatten drei Räder und sahen trotzdem aus, als hätten sie vier. Ihre Busse, zweistöckige Monstren, fuhren dicken Rauch spuckend durch Brighton, Motorräder mit überdachten Beiwagen knatterten herum, ein Pfund hatte zwanzig Schilling und jeder Schilling zwölf Pence, in einer Flasche Milch war ein Pint und kein Liter, eine Apfelsine, ein Baguette, ein Becher Joghurt und ein Riegel Schokolade (meine Tagesration) kostete 4 Schilling 6 Pence, "four and six, luv", das sollte jemand begreifen. Und dann fuhren sie auch noch links, diese Briten.
Ich schlürfte meinen Tee und war sehr zufrieden.
Deutschland konnte mir gestohlen bleiben.
Deutsche waren verbohrt und liebten die Ordnung um ihrer selbst Willen.
Das kotzte mich an. Und doch liebte ich dieses Land.

Gegen neun zockelten John, die Schweden und ich zum Hauptbadestrand.
Under the boardwalk.
Unter der Pier gab es öffentliche Toiletten und Duschen.
Ich duschte und ging zur Fish & Chips Bude. Patrick putzte gerade die Theke.
"Morning", sagte er.
"Morning", sagte ich.
"Had a nice sleep?"
"Yeah. Could have been worse."
Patrick hievte meinen Rucksack über die Theke. Ich bedankte mich. "Never mind." sagte Patrick.

Sonntagmorgen in Großbritannien. Sonntagmorgen an einem Strand, den niemand sonst Strand nennen würde. Es ist ein Berg Kiesel, der mit jeder Welle geschliffen wird. Kiesel, die nur glänzen, solange sie feucht sind, Kiesel, die mit jedem Brecher klickernd und klackernd durcheinandergeworfen werden.
Während die kleine Stadt an der Grenze noch wie ausgestorben wirkt, strümen immer mehr Menschen zu diesem Strand. Die Sonne scheint, Fahnen knattern an Masten, die Pennyfalls auf der Pier schieben Berge Münzen übereinander, Kinder zerren an ihren Müttern, um einmal Karussell fahren zu dürfen und Patrick schmiert Sandwiches.
Ich hatte ein Frotteetuch ausgebreitet, saß an meinen Rucksack gelehnt und überschlug meine Barschaft. Auf Reisen war ich sparsam, da schlug Tante Titas Geiz durch. Schließlich kaufte ich mir ein Stückchen Kuchen und biss herzhaft hinein.

Das war der Moment, wo ich zum vierten Mal überrascht wurde.
Das, was wie Kuchen aussah, war Kidney-Pie, eine Blätterteigtasche mit warmer, pürierter Niere.
"What's wrong?" sagte John, als er mein Gesicht sah.
"Nothing really..." antwortet ich und verschlang tapfer den letzten Bissen.
Der Pie schmeckte nach Urin.
Man musste diesen Briten das nachsehen. Wenn man vom Kontinent kam, durfte man nicht meckern. Schließlich hatten sie die Beatles hervorgebracht. Um den Geschmack von der Zunge zu tilgen, kaufte ich mir gleich darauf ein Flake 99, Soft-Ice mit Krokant.

Bald war der Strand überfüllt.
Rosige Ladies in abenteuerlichen Badeanzügen schmorten in der britischen Sonne.
Ich nahm mein Tagebuch, und machte an ernstes Gesicht.
"Are you writing poems?" sagte John.
"No", sagte ich.
Von hinten traf mich ein Kiesel am Ohr. Ich drehte mich um. Ein kleine Rotznase grinste. Seine kleine Hand war voller Kiesel. Seine Mutter schnappte ihn (oder sie) und haute ihm mit Schwung eins auf den Hintern. Die Rotznase brüllte wie eine Sirene.
Ich lächelte. Jetzt hatte ich vergessen, was ich schreiben wollte - ein Familienidyll, dieser Strand? - nein, es war etwas anderes. Es hatte etwas mit dem Zustand der Deutschen zu tun. Ja. Jetzt erinnerte ich mich wieder. Ich wollte schreiben, dass ich mich, wann immer ich im Ausland war, tarnte.
Das war gar nichts Ungewöhnliches.
Ich hatte das Gefühl, ganz Deutschland lebte in Tarnung.
Von einem Tag auf den anderen was aus Nazi-Deutschland die fortschrittlichste Demokratie mit der am besten funktionierenden Wirtschaftsordnung geworden.
Alles Tarnung.
Unsere Politiker umjubelten den Europäischen Gedanken.
Tarnung!!!
Nur ein oder zweimal waren meine Leute aus dem Schatten getreten: 1954 in Bern bei der Weltmeisterschaft, und dann erst wieder, als Armin Harry Olympiasieger wurde.
Ich tat alles, um andere glauben zu machen, ich sei nicht Deutsch.
Den Holländer konnte am besten verkaufen. Sogar Marion hatte mir zu Anfang geglaubt.

Genau das wollte ich schreiben, als mich der zweite Kiesel traf. Die Rotznase hatte sich wohl erholt. Dieses Mal hatte seine Mutter es nicht bemerkt. Ich nahm einen Kiesel und warf zurück. Leider traf ich das Kind am Kopf. Es rannte brüllend davon. Einen Augenblick später stand ein bulliger Mann vor mir. Er schnaufte. Sein Oberkörper war krebsrot, seine Nase pellte und sein Blick funkelte.
"You did that?" sagte er.
Ich war ratlos. John stemmte sich von seiner Decke hoch. "Sir", sagte er. "Your boy has been throwing pebbles at us for the last fifteen minutes."
Der Mann sah seine Rotznase an. Seine Frau tauchte aus dem Gewühl der Liegestühle auf, riss den Knirps herum, knallte ihm eine, kreischte "you did it again, he!!" und zog ihn mit sich fort. Der bullige Mann biss sich auf die Unterlippe und verschwand.

Am Nachmittag tauchte ein Trupp Hippies auf.
Sie bauten sich vor Patricks Fish & Chips Bude auf. Ein hagerer Langer in einer nachtblaue Uniformjacke mit Orden und einem schwarzen Zylinder mit Blumen dran trug ein Gedicht vor. Einer mit einer glitzernden Brokatjacke mit Troddeln und Epauletten schlug ein Tambourin und einer in einer Blümchenhose mit weißem Rüschenhemd tanzte herum wie in Trance.
Ich kam aus dem Staunen nicht raus.
Ich hatte so ein Gefühl, dass Flower Power etwas mit meiner Sehnsucht zu tun haben könnte.
Als jedoch gegen Abend zwei Hippies in Abfallkörben nach Nahrung suchten, war ich mir nicht mehr so sicher.
Der Wind frischte auf. Schwere Wellen mischten den Kieselstrand auf.
"It's going to rain", sagte Patrick, als ich ihm meine Sachen brachte. Schlafsack und Zelt wollte ich mitnehmen. "Why don't you sleep under the boardwalk?"
"That's a good idea", sagte ich.

Am Ende der Promenade war eine in die Strandmauer eingelassene Art Laube mit einem Denkmal. Links und rechts davon standen Bänke. Ich beschloss, die Nacht dort zu verbringen. Jonathan kam auch mit. Joyce, das Hühnchen aus Salisbury, blieb noch eine Weile bei mir. Sie teilte sich ein Ferienappartment mit Jane und June. Ich hatte sie gefragt, ob ich nicht bei ihr übernachten kann, aber sie wusste nicht recht.
"Our landlady wouldn't like it", sagte sie.
Am Nachmittag hatte ich sie geküsst. Ringsum saßen die Ladies, hinter uns ein Glatzkopf mit verspiegelter Sonnenbrille, in einem rotweiß gestreiften Liegestuhl schlief ein selbstzufrieden schnarchender Mittvierziger.
Keine guten Bedingungen für Petting.
Möglich, dass es daran lag, aber ich hatte das Gefühl, englische Mädchen seien anders als Holländerinnen. Ihre Küsse waren verschlossener. Sie schmeckten längst nicht so gut und waren keine Herausforderung. Deshalb war ich ganz froh, als Joyce schließlich ging. Ich würde sie morgen sehen. Ob ich sie überreden sollte, mit ins Zelt zu kommen? Kein schlechter Gedanke. Einerseits. Andererseits: war Joyce nicht zu knochig? Zu britisch? Zu kantig für das, was mich interessierte? -
"Bye Joyce."

Aus dem Wind wurde ein Sturm.
Er fegte den Regen in unsere Laube. Um Mitternacht war mein Schlafsack von außen naß. Um eins auch von innen. Jonathan und ich beschlossen, uns nach einem besseren Platz umzusehen. Wir liefen ortsauswärts. Wir stiegen über einen Zaun. Hinterm Zaun war ein Rasen. Da vorn stießen zwei Hecken aneinander, das war eine gute Ecke. Es war nicht leicht, bei diesem Wind ein Zelt aufzubauen, aber schließlich war es geschafft. Jonathan und ich krochen hinein. Jonathan hatte eine Decke, die musste reichen. Das Zelt wollte gern fliegen, aber die Heringe hielten. Es dauerte eine Weile, bis ich einschlief.

Am Morgen erlebte ich meine fünfte Überraschung.
Es war sonnig. Als ich meinen Kopf aus dem Zelt streckte, wurde ich freundlich begrüßt. Nicht weit vom Zelt war Loch 5. Wir hatten auf einem Goldplatz übernachtet. Man fragte uns nach dem Woher und Wohin und als ich erzählte, man dürfe (aus den genannten Gründen) nicht auf dem Zeltplatz bleiben, schüttelte man missbilligend den Kopf und meinte, es müsse doch aber differenziert werden.
Das fand ich auch.

Nach dieser Nacht brauchte ich Ruhe. Ich holte meine Sachen, ging zum Zeltplatz, baute mein Zelt auf, hängte meine feuchten Sachen auf eine Leine und schlief bis Mittag. Als ich erwachte, zog dicker Rauch über den Platz. An einem angrenzenden Hang wurde ein Stoppelfeld geflämmt. Ich streckte mich. Und dann sah ich dieses Moped. Kein Zweifel, es war Marions Moped. Ich hielt nach ihren Zelt Ausschau, konnte es aber nicht finden. Ich suchte den ganzen Nachmittag, aber sie war nirgendwo.
Am Abend war ihr Moped wieder fort, und danach sah ich es nicht mehr.

Es wurde eine sonnige Woche. Ich tat nichts als schwimmen. Zwischendurch half ich Patrick in der Fish & Chips Bude. Es waren so viele Leute am Strand, dass er die Arbeit nicht allein schaffen konnte. Abends ging ich aus. Ich musste eine Menge neuer Tänze lernen.
Ich flirtete viel, aber gegen die Franzosen kam ich nicht an.
Die Franzosen waren unverschämt. Sie sprachen die Mädchen einfach an. Ich wusste nicht, was sie ihnen sagten, ich beobachtete nur immer wieder, dass sie sie zum Lachen brachten. Irgendwie.

Gegen Ende der Woche telefonierte ich mit Linda . Sie sagte, ich könne kommen, wann ich wollte. Ich war gespannt. Ich hatte Linda noch nie gesehen. Schön war sie nicht, diese Linda , die mir so viele Briefe geschrieben hatte, nein, schön ganz bestimmt nicht, das wusste ich von den Fotos. Aber sie wohnte in London. Nirgendwo sonst (außer in San Franzisco) war die Welt so aufregend.
Und vergessen Sie eins nicht: wir schreiben das Jahr Neunzehnhundertsiebenundsechzig.
Der Sommer der Liebe.

Israel hatte Ägypten in sechs Tagen besiegt.
Ich hatte das beklatscht. Als reuiger Sünder hatte ich mich über die Witze gefreut, die man sich über ägyptische Soldaten erzählte. Wie sie auf der Flucht in ihre eigenen Minen gerannt waren. Dieser rasante kleine Krieg hatte mich nicht davon abgehalten, weiter im Prinzip gegen den Krieg zu sein. Juden jedoch konnten nur gerechte Kriege führen, soviel stand fest.

Aber davon wollte ich eigentlich gar nicht erzählen.
Lassen Sie mich überlegen - ich glaube, ich wollte sagen, wie Linda aussieht. Sie hat ein ovales Gesicht und hüftlanges, blondes Haar. Sie ist kräftig. Sie ist, wenn man will, drei Twiggies in einer Person.
Nach meinem Telefonat packte mich die Reiselust.
Morgen oder übermorgen würde ich zur ihr nach London fahren.
Linda hatte begonnen, Deutsch zu lernen und ihr letzter Brief war in Deutsch. Ich trug ihn als Beweis ihrer Existenz in meinem Brustbeutel. Ich glaube, ich tat das, um mir Mut zu machen. Ohne Linda wäre London doch noch eine Nummer zu groß für mich gewesen.

Linda schrieb:
"London ist voll von Fremden Leute von Frankreich, Deutschland, USA etc. etc. Man weiss nicht wer Land man darauf ist. Der Bahnhof, wo ich liebe, ist Manor House. Mein Telefon beim Arbeit ist 018000192."

Ich fieberte, wenn ich an all die wunderbaren Ausgeburten dieser Stadt dachte.
Aber in ein paar Tagen würde ich selbst dort sein.
Die Welt war wunderbar und aufregend.
Paul McCartney nahm LSD und sagte, dass er seitdem nicht mehr lügen könne.
Mick Jagger wurde wegen Drogenbesitz verurteilt.
Die BBC weigerte sich, A day in the life von Sgt. Pepper zu spielen, The Move zertrümmerten bei einem Auftritt eine Wachspuppe mit Äxten.
London war die Welt und gleich werden wir mittendrin sein.

Wenn Sie wollen, kommen Sie mit.
Ich lade Sie ein, ich, Ihr ergebener Diener, your humble servant, wie Laurence Sterne sagen würde.
Eh ich's vergessen: bitte legen Sie Sgt. Pepper auf und bewegen den Tonarm zum Ende der zweiten Seite.
Legen Sie die Nadel in die letzten Rillen. Nachdem A day in the life verklungen ist, werden sie Stimmen hören, unverständliche Stimmen. Drehen Sie die Platte rückwarts, denn McCartney hat dort eine geheime Nachricht für sie hinterlassen.
Sie lautet: "We'll fuck you like superman."

Während ich auf den Bus wartete, der mich aus Brighton heraus bringen sollte, hatte ich einen Traum. Meine Mutter stand vorm Küchentisch und quirlte einen Berg Traumcreme. Ausnahmsweise nahm sie den Drei-Mix, den ich ihr zu Weihnachten geschenkt hatte. "
Soviel kann man nicht mit der Hand rühren", sagte sie.
"Ist es meine Lieblingssorte?" fragte ich.
"Natürlich. Du mußt stark sein in London."
"Schütt ein bißchen Sahne dazu", sagte ich.
"Quatsch!" sagte sie. "Ist doch alles drin."
Mein Bus hielt. Ich stieg ein.
"Komm Junge. Iss, eh es schlecht wird!" sagte meine Mutter.
Ich nahm einen großen Löffel. Mayala Caramel war der Himmel auf Erden. Wie gut sie hinter die gerafften Stores dieser englischen Häuser paßte. Sie quoll aus allen Türen und überflutete den weiten englischen Rasen. Alles war voll von naturidentischen Aromastoffen. Sie hatten abenteuerliche Namen. Einer hieß E 104. Ein anderer E 110. "Modifizierte Stärke!" sagte meine Mutter stolz. "Das ist genau das, was du brauchst. Ich meine, in deinem Alter muß man schon was verdrücken."
Als ich meinen Rucksack aus dem Bus hievte, spürte ich, dass die Creme meine Muskeln schwellen ließ. Meine Mutter winkte.
"War doch ne gute Idee mit dem Drei-Mix!" rief sie.
"Hab ich ja immer gesagt", sagte ich.


Da vorn war eine gute Stelle zum Trampen. Ich hatte mittlerweile ein Auge für so etwas. Kaum hatte ich den Arm ausgestreckt, hielt auch schon ein Morris. Die Fahrerin hielt mir die Tür auf. Ich bückte mich.
"Wo soll's denn hingehn?" fragte sie.
Ich wischte mir die letzten Reste Creme von den Lippen und sagte: "London."
"Crawley", antwortete sie.
"Ist auf dem halben Weg, oder?"
Sie nickte.

Eine Stunde später saß ich in einem LKW, der nach London fuhr. Der Fahrer hatte behaarte Unterarme: rötliches, krauses Haar. Auf jeden Fingerrücken seiner linken Hand war ein Buchstabe tätowiert.
E.L.V.I.S.
Das erinnerte mich an die Zeit, als ich klein war.
Während der LKW über die Straße rumpelte, sah ich eine Kirmes Bude. Sie stand vor dem Garten der Heißmangel. Eine Frau mit langem Rock schlug eine Trommel. Der stärkste Mann der Welt zeigte seine Muskeln. Ein Hypnotiseur versprach, jeden in ein Schwein zu verwandeln. Ein Ansager fragte, ob jemand auf die Bühne kommen wolle. Elvis kam rauf, der mit dem Blutschwamm. Seine Tolle war gut geölt, seine Koteletten reichten bis zur Kinnlade. Er grinste breit.
"Wenn du unserem Publikum etwas vortanzt, kriegst du freien Eintritt", sagte der Ansager.
Elvis nickte. Der Ansager ging zum Kassenhäuschen und sprach mit einer Blondine. Sie legte "Let's dance" von Chris Montez auf. Elvis beugte sich vornüber, ging ein wenig in die Knie, winkelte die Arme, und begann in den Hüften zu schwingen. Seine Knie flatterten, seine Arme ruderten, er sah aus wie ein angeschossener Vogel.
Das Publikum pfiff. Elvis Tolle verrutschte. Er hörte mitten im Tanz auf, zog einen Stilkamm und kämmte sich.
Der LKW-Fahrer trommelte aufs Lenkrad.
"Aus Deutschland kommst du? - Hm. Siehst hungrig aus. Gibts dassnicht genug zu essen?" Dann lachte er und kramte ein Butterbrot aus einer Dose. "Eat that! It's good for you."

Auf der Waterloo Bridge stieg ich aus. Mein Rucksack drückte, es war warm, aber ich war glücklich. London war laut, roch nach Abgasen und Fluß. Ab und an fragte ich nach dem Weg. Jeder antwortete höflich. Ein Mann in dunklem Anzug mit Schirm und Melone überquerte die Straße. Hier muss es sein! dachte ich. Hier irgendwo muss die Fleet Street sein. Der Mann winkte ein Taxi heran, stieg ein und fuhr davon.
Er sah aus, wie die Männer in meinen Englischbüchern.
Ich schüttelte mich.
"Du bist in London!" sagte ich. "London, Mann! Dies ist London. Die Fleet Street. Und hinter irgendeinem dieser Fenster sitzt Linda." Jetzt mußte ich sie nur noch anrufen, dann hatte ich ein Bett und konnte so tun, als hätte ich schon immer in London gelebt.

Ich verließ die Telefonzelle, lehnte meinen Rucksack gegen eine Hauswand, setzte mich und streckte die Beine aus. Linda hatte gesagt, sie würde gleich kommen. Der Druck auf meinen Darm nahm gefährliche Ausmaße an. Ob ich sie erkennen würde? - Mich zu erkennen war sicher kein Problem. Außer mir gab es niemand mit Rucksack in dieser Straße, aber junge Frauen, die geschäftig von einem Gebäude zum anderen liefen, gab es genug.
Und wenn sie jetzt wirklich häßlich war? - Ich meine, so häßlich, dass es zum Himmel schrie? Es hätte ja sein können, ich hatte ja nur ein Foto von ihr, und wer weiß, wie alt das war.
Mein Darm gab zischende, übelriechende Warnungen.
Nein. So häßlich würde sie nicht sein.
Jemand, der so gute Briefe schrieb, konnte nicht wirklich häßlich sein.

Aus der Tür des gegenüberliegenden Gebäudes kamen vier junge Frauen. Eh ich ihr Lächeln sah, das sie über die Straße schickte, wußte ich, die zweite ist Linda . Sie trug einen schwarzen Lackmantel, darunter einen grasgrünen gerippten Pulli und einen grasgrünen Minirock. Ihre Oberschenkel waren kräftig und ihre Beine recht kurz. Ihr Gesicht war oval und sie hatte überall Babyspeck. Häßlich war sie nicht. Aber schön war auch etwas anderes. Linda sah freundlich aus. Sie kicherte. Ihre Freundinnen kicherten auch. Ich stand auf und winkte. Linda winkte zurück und lief auf die Straße. Reifen quietschen. Linda blieb wie angewurzelt stehen, aber ihre Freundinnen zerrten sie weiter, direkt vor meine Füße, und umringten mich. Ich konnte gar nichts sagen. Ich sah nur, dass sie mich bestaunten, als käme ich vom Mond.
Alle sagten "Hello Herman!"
"Hello!" sagte ich und wurde rot wie eine Tomate.

Die Mädchen sahen so aus, als wollten sie mich anfassen, um zu prüfen, ob ich auch echt bin. Langsam wich die Röte aus meinem Gesicht. Ich sagte etwas, aber mir ist entfallen, was es war. Ich nehme an, dass es etwas mit der Reise zu tun hatte. Oder etwas mit dem überwältigenden Gefühl, plötzlich in London zu sein. Jedenfalls sagte ich irgendetwas, und aus allen Kehlen drang ein spitzes OH.
"You speak very good English", sagte eine, und sah mich an, als wolle sie es nicht glauben. Vor ihr stand ein richtiger Deutscher. Ich war braungebrannt, sah abgerissen und hungrig aus, mein Haar war strohblond, es fiel bis auf den Kragen, und meine Augen waren so blau, dass sie alle miteinander reinspringen würden, wenn sie dürften.
Dachte ich. Stellte ich mir so vor.
"How do you like London?" sagte eine andere.
"Hm", machte ich. "It's a nice town."
Das fanden die anderen auch, und ich freute mich, dass ich in der Lage war, mit einem Satz Wohlwollen zu ernten. Schließlich hätte ich es auch mit "a bloody fuckin rathole" versuchen können, denn die Fäkal-Sprache der Engländer faszinierte mich. Vor allem der Gebrauch von "fucking" in allen Situationen. Er ging durch alle Schichten, und bezog sich auf Dinge, die überhaupt nichts mit "fucking" zu tun hatten.

"James, please bring me another bloody fuckin cup of tea!" sagte die Königin.

Lindas Kolleginnen verabschiedeten sich.
In den nächsten Tagen lud Linda all ihre Freundinnen ein, und alle bestaunten mich. Das war komisch. Es gab sogar eine, die sich in mich verliebte. Sie hieß Sarah, war dunkelhäutig und wohnte in der Nachbarschaft. Leider war sie tabu. So leid es mir tat, aber es hätte keinen guten Eindruck gemacht, Sarah abends in mein Zimmer zu schmuggeln, das schließlich Lindas Zimmer war.

Linda schlief auf dem Sofa im Wohnzimmer. Linda tat alles, damit ich mich wohlfühlte.
Nur einmal bestand die Chance, Sarah näher zu kommen. Linda , Janette, Sarah und ich waren ins Kino gegangen. Sarah saß neben mir. Ich hätte nur .... aber ich habe nicht. Ich wollte Linda nicht kränken.

Linda hakte sich bei mir ein, und so gingen wir zur nächsten U-Bahn Station.
Wie tief diese knarrenden hölzernen Rolltreppen uns unter die Erde beförderten.
Was für ein Labyrinth dort unten, eine Stadt unter der Stadt.
Wenn ich mich recht erinnere, fuhren wir mit der Picadilly Line bis Manor House.
In den Schächten der U-Bahn setzte sich London aus verschiedenfarbigen Linien zusammen, Linien mit Punkten, die Haltestellen markierten. Manche hatten klingende Namen. Oxford Street. Picadilly Circus. Nelson Square.

Mein natürliches Ortungssystem mußte sich umstellen. Für ein paar Tage mußte ich mich an Namen orientieren, Himmel gab es da unten ja nicht. Aber wenn ich dann aus so einem Schacht aufstieg, als hätte ich mich zu lang in der Unterwelt umgetrieben, galt mein erster Blick wieder dem Himmel. Dem Himmel und seinen natürlichen Zeichen. Aus nichts anderem setzt sich die Welt zusammen, auch in einer Stadt wie London.
Nach zwei Tagen hatte ich das begriffen.
Nach zwei Tagen bewegte ich mich in London, als sei ich dort geboren.

"Wir sind da", sagte Linda. "It's not far from here."
Linda , the one and only.
Ich sah sie an und lächelte.
Da drüben war ein Park, an der Ecke das Finsbury Park Astoria, ein Theater, in dem wenige Tage später Sam & Dave, Otis Redding und Percy Sledge auftraten, aber nirgendwo war ein Blumenladen.
Ich wollte Blumen kaufen.
Ich hatte eine sichere Hand mit älteren Frauen, vor allem mit Müttern.
"It's not necessary", sagte Linda .
Natürlich nicht! Aber gerade die kleinen Nebensächlichkeiten machten Mütter weich, und deshalb bestand ich darauf. Wir gingen zurück zur U-Bahn, fuhren eine Station stadteinwärts, stiegen aus, und gleich um die Ecke war ein Blumenladen.
Ich kaufte einen Strauß.
"So this will help", sagte ich und Linda sagte: "O luvely."
Lindas Mutter hatte ein Hähnchen in die Bratröhre geschoben und Nescafe gekocht. Sie war mindestens so aufgeregt wie ihre Tochter.
"This is Herman", sagte Linda .
"Hello Herman", sagte Lindas Mutter.
"Hello Miss Newman", sagte ich, nicht ganz sicher, ob es jetzt Miss oder Misses hieß? Aber dann schwang ich meine Linke hinterm Rücken vor und streckte Miss Newman die Blumen entgegen, Spinnen mit Grünzeugs, schönere hatte ich nicht bekommen.
"Jesus!" rief sie. "Look at these beautiful flowers. Oh, Herman, you shouldn't have done that ..."
Ich verwandelte mich auf der Stelle wieder in eine Tomate. Ich konnte gar nicht anders, aber ich wußte ganz genau, dass Mütter auch so etwas lieben. Schüchterne junge Männer wie ich könnten jede Menge Mütter haben. Sie würden sich darum reißen, mich an ihre faltig gewordenen Brüste ziehen, seufzen, an ihre Jugend denken, und an all die unerfüllten Träume, die Mütter bis ans Ende ihrer Tage mit sich herumtragen.
"Come on", sagte sie und zeigte mir, wo ich mein Gepäck abstellen konnte, führte mich in Lindas Zimmer, ins Bad und dann in die Küche.
"You must be hungry!" sagte sie.
Ich nickte. Natürlich war ich hungrig. Ich hatte in Brighton von nichts anderem als Weißbrot, Schokolade, Milch und Fish & Chips gelebt. Außerdem war ich gespannt, was englische Mütter kochen.
Es gab gebratenes Hähnchen, Kartoffeln und unnatürlich grünen Erbsen.
Ich langte ordentlich zu, aber ich tat das nur, weil ich wußte, was Mütter von schüchternen jungen Männern erwarten. Ich wußte auch, was sie anschließend hören wollen. Ich errötete nicht mal, denn schließlich war ich wirklich sehr hungrig.

London lag mir zu Füßen. Genauso hatte ich mir das vorgestellt. Schon nach einem Tag hatte ich mich in einen Hippie verwandelt. Das ging ganz einfach: ich kaufte einen Kaftan, eine Kette, und bekam von Linda Glöckchen geschenkt.
Lindas Mutter sah mich schräg von der Seite an, dann lachte sie. Sie ließ sich von meiner Verkleidung nicht täuschen. Sie sah einfach durch mich hindurch und wünschte mir viel Vergnügen.
Da Linda für ein Teenager-Magazin (rave) arbeitete, kannte sie alle Clubs.
Vom Whiskey a Go Go zu Samanthas, vom Ram Jam Club zum Marquee stampfte ich die Tanzböden dieser Stadt noch ein wenig fester und hielt Ausschau nach dem neuesten Tanz.
Linda stampfte kräftig mit.
London war der Himmel auf Erden. Nie, nie wollte ich hier wieder fort. Ich puppte mich ein in die Welt langer, schlafloser Nächte. Wenn ich erst wieder zurück war, konnte ich immer noch so tun, als interessiere mich die Verzollung von zehn Waggons Fischmehl. Wenn ich erst wieder zurück war, konnte ich zum Endspurt starten, die letzten Monate bis zur Prüfung. Danach würde ich sehn, wie es weitergeht.

"Komm!" sagte Linda. "Ich zeig dir Soho."
Es war Nacht. Tiefe Nacht eigentlich, aber das Leben kreiste um den Picadilly Circus, als sei heller Tag. Lichtreklamen flammten auf, Menschen strömten vorüber.
Die Welt gehörte mir.
Flower Power und Dope, die Beatles, mein Kaftan und Speakers Corner, Madame Tussaud und die Kronjuwelen, die Abbey Road Studios und der Buckingham Palace, das alles verschmolz in diesen Tagen zu einem Bild.
Manchmal verlief ich mich, aber das machte nichts. Dafür war eine Stadt da: man verlief sich und entdeckte an einer Ecke etwas, für das sich niemand sonst interessiert.

Was zum Beispiel bedeutete Eno Fruit Salt, ein Aufschrift auf einer hohen, braunroten Brandmauer. Reklame, natürlich, aber Fruchtsalz, davon hatte ich noch nie gehört.
Und warum gerade die Greenwich Zeit für alle verbindlich war, verstand ich auch nicht.
Ich verstand überhaupt sehr wenig und bildete mir viel darauf ein.

Am Revers meiner Jacke war ein Anti-Vietnam Button.
Ich hatte ihn zusammen mit einer Mao-Fibel an Speakers Corner gekauft.
Aber auch das war nur Dekoration. All you need is love!
Ich war nichts als Dekoration für die Geschäfte derjenigen, die man nicht sah. Vielleicht saßen sie in klimatisierten Büros, vielleicht fuhren sie im Rolls Royce durch die Stadt, vielleicht machten sie alles per Telefon, aber eines war sicher: sie brauchten uns als Dekoration.
Wir sollten Geld ausgeben.

Es machte mir Spaß, Geld auszugeben.
Ich fraß London wie ein Sandwich mit Ei und Saltat. Dass es fad schmeckt und den Hunger nicht stillt, ignorierte ich. London war nicht fad. Es konnte gar nicht fad sein, sonst wäre ich nie hierher gekommen.
"Let's go", sagte Linda .
Als wir um eine Ecke bogen, kamen uns drei Schwarze entgegen. Die Straße machte einen ungemütlichen Eindruck, und die Schwarzen blickten unfreundlich. Linda zog mich auf die andere Straßenseite. Die Schwarzen folgten uns.
"Run!" sagte Linda, machte kehrt, und rannte mit mir davon. Aber die Schwarzen hatten gar keine schlechte Laune. Ich nehme an, sie wollten nur Weiße erschrecken, mehr nicht. Einer pfiff auf den Fingern hinter uns her.
"He white Pussy!"
"Assholes!" schrie Linda .
Wir rannten an Schaufenstern mit plattgeklopften, kandierten Enten vorbei, passierten eine stinkende, kleine Bar, wichen den rudernden Armen eines Schleppers aus und standen wieder am Picadilly Circus.
"So that was Soho", sagte Linda .
"Exciting!" sagte ich.
Das Repertoire nichtssagender, aber gut klingender Floskeln der englischen Sprache gefiel mir. Sie machten mir das Sprechen leicht. Ich war nicht aufs Maul gefallen, aber ich hatte oft gespürt, dass mich die Leute für wortkarg hielten.
In England war ich nie wortkarg.
In England grub ich einfach im Fundus der flinken Floskeln und war gerettet.
Wieder einmal fühlte ich mich in einem fremden Land besser, als in meinem eigenen.

Ein kurzer, um so heftigerer Schmerz fuhr mir in die Glieder, als Linda , Lindas Mutter und ich am folgenden Nachmittag Lindas Bruder besuchten. John war zweiunddreißig und arbeitete als Kürschner. Er hatte sich vor zwei Monaten verlobt und wollte zum Ende des Jahres heiraten.
Der Fernseher lief, als wir ins Wohnzimmer kamen.
Ich erstarrte. Pop-Star, Hippie und guter Mensch mit Blume im Knopfloch zerfielen zu Staub wie der Vampir bei Sonnenaufgang.
"Hello Herman!" sagte John.
John war ein hagerer Kerl mit ernstem Gesicht.
"Hello", sagte ich, aber ich konnte den Blick nicht vom Bildschirm lassen. Da war ein Tor, ein Lager mit elektrischem Stacheldraht, da war ein Schild überm Tor und darauf stand ARBEIT MACHT FREI.
Das war Deutsch, und die hinterm Zaun, das waren Leichen. Jüdische Leichen und Zigeunerleichen, irgendwelche Leichen.
"Nie werde ich arbeiten. Nie, nie, nie!" schrie ich in Gedanken meinem Vater zu.
Lindas Mutter sprach mit John.
Niemand kümmerte sich um die Bilder, nur Linda .
Sie hatte mein Gesicht gesehen und schaltete ab.
"Come on, have some coffee", sagte sie.
Da war er wieder, der lange Schatten, der immer schon vor mir da ist. Ich wollte ihn nicht, aber er hing an mir.
Zwei Tage später sprach ich mit Linda darüber. Sie konnte mich verstehen. Trost hatte sie nicht.
"Du bist doch jung", sagte sie, "du hast damit doch überhaupt nichts zu tun.".
Und wenn ich jetzt alt wäre?
So alt wie mein Vater?

Es war ein schönes Haus, eines dieser englischen Reihenhäuser mit Treppenaufgang, zwei kleinen Säulen, einem halbrunden Erker und einem Balkon, aber es war herunter gekommen, und das beunruhigte Linda . Noch beunruhigender fand sie, dass es in einer von Schwarzen bewohnten Gegend stand. Man hatte mich an diese Adresse verwiesen. Ich hatte Straßenmusikern zugehört, schwarzen Straßenmusikern auf dem Portobello Market. Einer von ihnen spielte Steeldrums. Ich wollte wissen, wo man so etwas kaufen konnte.
"Lass uns gehn", bat Linda . "Ich will da nicht rein."
"Die tun uns nichts", sagte ich. "Wir haben ihnen doch auch nichts getan."
"Trotzdem", sagte sie, aber dann ging sie doch mit.
Die Tür quietschte in den Angeln. Im Flur roch es merkwürdig süß. Ich rümpfte die Nase.
"Pot!" sagte Linda .
"Pot?" fragte ich.
"Pot", sagte sie.
"Hello?" rief ich. Es war dämmrig im Flur, aber ich hörte Stimmen.
"Who is it?" rief jemand. Die Stimme klang ungehalten. Ich öffnete eine schwarz, grün und gelb gestrichene Tür und trat ein. Der Geruch wurde stärker. An einem Couchtisch saßen drei Männer. Sie blickten auf, zeigten aber nicht viel Interesse. Flinke Floskeln! dachte ich, aber mir fiel keine ein. Linda hielt sich in meinem Schatten. Nach einer langen Erklärung brachte ich heraus, weshalb ich gekommen war.
"Steeldrums, hm? - What would you want with steeldrums?"
"Play them", sagte ich.
Der Schwarze musterte mich, lächelte und sagte: "I don't think, you could pay them. Steeldrums take a lot of work, you know. Want to sit down for a smoke?"
"Yes!" sagte ich.
"No!" sagte Linda und zog mich fort.

Zwei Stunden später waren wir im St. James Park.
In einem Pavillion saß die Kapelle eines Königlich Schottischen Grenadierregiments, dreißig Männer in Kilts, beeindruckenden Jacken mit Epauletten und Troddeln, Pauken, Trompeten und Dudelsäcke griffbereit. Der Dirigent hob seinen Stock und mit militärischer Präzision brach ein höllischer Lärm los. Mit einiger Mühe gelang es mir, die Kapelle auf den höchsten Berg Schottlands zu verpflanzen, und siehe da, der Lärm entpuppte sich als Musik.
Und dann tanzten vier Männer den Säbeltanz, wie ich ihn nur von kirgisischen Reitern erwartet hätte.
Linda kicherte. Sie fand Männerbeine in Röcken zum Schießen, aber ich konnte nicht einsehen, wieso sie witziger aussehen sollten als Frauenbeine.
"Come on", sagte Linda . "You don't mean that."
Flinke Floskel: "Yes, I bloody well doooo!"
Linda , beeindruckt von meiner Unbeugsamkeit, diskutierte nicht weiter. Sie drängte zum Aufbruch. Sie wollte mir zeigen, wo die Königin wohnt, aber das wußte ich längst.
Sie wohnte in einer kleinen Zweizimmerwohnung mit Außentoilette und ging einmal die Woche ins Hallenbad, um zu duschen.

Am folgenden Tag fuhren wir zu den EMI-Aufnahmestudios. Linda war sicher, dass die Beatles zur Zeit produzierten, sie hatte das von ihrem Chef, und der mußte es wissen. Irgendwann würden sie kommen.
Linda machte ein Foto von mir.
Ich trug meinen Kaftan, die Glöckchen an meinem Hals bimmelten bei jeder Bewegung.
"A bit more to the left!" rief Linda , denn sie wollte den Eingang dieses berühmten Studios mit im Bild. Ich vergaß meine vorherige Existenz, stemmte meine Arme in die Hüften und sah aus, als würde ich mich jeden Augenblick umdrehen und zu John Lennon hineingehen, der in einem der abgedunkelten Studios saß und ein Lied ausbrütete.
"Hi John!" würde ich sagen. "Sorry I couldn't see you in Essen, but the guards wouldn't let me through."
"Stupid idiots", würde John sagen und dann würde er mir einen Passierschein für alle Bühnen der Welt geben und mich bitten, auf seiner neuesten Nummer Bongos zu spielen.
Oder Mundharmonika. Er würde mir freie Hand lassen.
Wir warteten. Und warteteten.
"Maybe my boss was wrong", sagte Linda irgendwann.
"Maybe", sagte ich enttäuscht, denn ich hatte mir vorgenommen, London nicht zu verlassen, ohne mit den Beatles Kontakt aufzunehmen.
"Let's go then", sagte sie.
Ich folgte ihr nur widerwillig, obwohl sie sagte, sie wisse, wo Paul McCartney wohne.

Sein Haus war von einem hohen Zaun umgeben. Er war mit Botschaften vollgepinnt. Alle liebten ihn, und ich fragte mich, wie einer mit so viel Liebe leben kann.
Hinterm Zaun lag ein weiter, englischer Garten. Es war still an diesem Morgen, die Fans waren noch nicht auf den Beinen. Linda und ich hockten uns auf eine Mauer, und gerade, als uns ein Bobby höflich bat, weiterzugehen, öffnete sich eine Tür.
Linda riss mich hinter sich her. Die Himmelsschleusen öffneten sich. Manna stürzte herab.
"I don't believe it!" kreischte Linda und wurde rot im Gesicht. Paul McCartney stieg in ein Auto. Ein Gartentor öffnete sich. Linda stand schussbereit. Paul fuhr über den knirschenden Kiesweg auf das Gartentor zu. Es öffnete sich. Linda stellte sich in die Einfahrt.
Paul würde das Grundstück nur über ihre Leiche verlassen. Das wollte er nicht. Er sah sich um. Linda und ich waren die einzigen gottverdammten Fans weit und breit. Einen Augenblick sah er so aus, wie jemand, der sich fragt, ob sein Stern schon verblasst, dann schüttelte er den unangenehmen Gedanken ab und tat, was er tun musste. Er kritzelte mir ein Autogramm ins Tagebuch, sagte "have a nice time in London" und fuhr davon.
Überflüssig zu sagen, dass ich den Höhepunkt der Reise erreicht hatte.

Doch dann passierte das mit Brian Epstein. Linda hatte uns Karten für das Hendrix Konzert im Saville Theatre besorgt. Eigentlich war es seit Wochen ausverkauft, aber sie hatte Beziehungen. Arthur Brown eröffnete das Konzert. Er hatte ein Gestell mit Kerzen auf dem Kopf, und sah aus wie eine schwedischen Lichtkönigin. Aber statt God Jul schrie er Fire! und drohte damit, alles anzustecken.
Ich fand das ganz nett, aber ich wollte Hendrix sehen.
Er war gerade erst am Pop-Himmel aufgetaucht, und man sagte, niemand könne Gitarre spielen wie er.
"Ladies & Gentlemen, please welcome The Jimi Hendrix Experience!" brüllte ein Ansager.
Das Licht ging an, Jimi riß seine Gitarre hoch und schüttelte einen verzerrten Akkord aus dem Handgelenk.
I don't live today. Foxy Lady. Manic Depressions. Can you see me. Fire.
Ich spürte, dass der da oben nicht log. Nicht ein Ton war gelogen, und ein schöneres Lied als May this be love hatte ich schon lange nicht mehr gehört.
Nach dem Konzert würde ich zu Jimi gehen und sagen, komm mit zu John, ihr beiden werdet euch gut verstehen.
Nach der dritten Zugabe kam ein Ansager kam auf die Bühne und bat um Aufmerksamkeit.
Und dann sagte er: Brian Epstein ist tot.
Ich war fertig.
Linda weinte.
Wir fuhren nach Hause.

Drei Tage später saß ich am Bahnsteig und wartet auf den Zug nach Maidstone. Von Maidstone trampte ich nach Dover. Dover war in dichtem Nebel verschwunden, als hätte es diese Stadt nie gegeben. Die Fähre arbeitete sich langsam aus dem Hafen. Kaum auf See teilte die Sonne den Nebel.
In der Nacht war ich in Brüssel.
Die Polizei hielt mich an. Sie wollte wissen, woher ich kam und wohin ich ging.
"Aus England!" antwortete ich. "Nach Hause."
Die Polizei ließ mich gehen.
Ich kaufte mir Pommes und dann lief ich und lief, bis die Stadt ausdünnte. Ein Wagen brachte mich nach Leuven. Dort schlief unter einem Busch auf einer Wiese.

Am Mittag griff man mich am Kamener Kreuz auf. Die Polizisten stellten mir die gleichen Fragen, wie die Polizisten in Brüssel, und bekamen die gleichen Antworten. Dann nahmen sie mir das letzte Geld ab. Ich protestierte.
"Gesetz ist Gesetz!" sagten sie und schickten mich zu Fuß über Feldwege zurück nach Kamen.

Drei Stunden später lief ich durch die Neustraße.
Es war Freitagnachmittag. Ich trug den goldgelben Kaftan mit Paisley Muster, eine Kette aus Holzperlen und ein Glöckchen am Band. Ich war aus London zurück und alle sollten es sehen. Dies war meine Stadt. Die Metzgersgattin, eine kleine Frau mit schwarzem, hochtoupierten Haar und hochmütigem Gesicht starrte mich an wie einen Geist. Der bucklige Uhrmacher rieb sich verstört die Nase, als ich ihn grüßte. Ich war immun. London hatte das fertiggebracht. Ich summte ein Lied. Auf meiner Brust waren Buttons. MAKE LOVE NOT WAR stand auf einem, FUCK FOR PEACE auf dem anderen.
Vor der katholischen Kirche stand Heinz. Ich verpaßte ihm die Stationen der Reise. Heinz war beeindruckt. Wir beschlossen, am Abend auf seinem Moped nach Enschede zu fahren.
Als ich mich der Bismarckstraße näherte, fiel der gute Hippie in mir zusammen. Ich atmete durch und schellte. Meine Mutter öffnete erfreut, aber kühl.
Den Kuss, den ich ihr gab, erwiderte sie nicht.
Mein Vater streckte den Kopf aus der Wohnzimmertür und sagte: "Ach du lieber Himmel! Wie siehst du denn aus?"
Und dann, nach kurzem Schweigen: "Na, 'ne gute Reise gehabt?"
Ich nickte erleichtert. Das ließ sich besser an, als ich erwartet hatte. Ich stellte meinen Rucksack in den Flur und ging ins Wohnzimmer.
"Bist du hungrig?" fragte meine Mutter.
Ich nickte und wünschte mir drei Spiegeleier auf Brot. Meine Mutter verschwand in der Küche.
Ich erzählte meinem Vater von der Reise und meinem Schlafplatz in Leuven. dass ich lange nach Mitternacht schweißnass hochgefahren war, weil etwas versucht hatte, an meinem Ohr zu knabbern, erzählte ich nicht.
"Die Eier sind fertig!"
Ich ging in die Küche und aß.
Kurz darauf kam meine Schwester. Ihr Sohn hatte sich vollgesabbert und mußte gebadet werden. Wir wechselten ein paar Worte, aber wir waren nicht sonderlich interessiert aneinander.
"Hast du dir einen Anzug gekauft?" fragte mein Vater.
Ich nickte, ging nach oben, öffnete mein Zimmerfenster, sah über mein ehemaliges Revier bis zur Dortmunder Bahn und begann, meinen Rucksack auszupacken. Der Anzug war ein wenig zerknittert. Nachdem ich von Brian Epsteins Tod erfahren hatte, war ich einen Tag lang von Boutique zu Boutique gezogen, um diesen Anzug zu finden.
Ich zog ihn an.
Als ich in die Küche kam, stritten meine Eltern um irgendetwas. Es fühlte sich an wie: "ach, wieder zu Hause?" Mein Anzug lenkte sie ab. Sie bewunderten mich und fanden, so gut hätte ich seit meiner Konfirmation nicht mehr ausgesehen. Im Fernsehen lief Hier und Heute. Ich drehte noch eine Runde um den Küchentisch und verließ wenig später im Kaftan das Haus.

Im Irene spielte eine Band aus Amsterdam.
The Outsiders.
Sie waren schmutzig und hatten die längsten Haare der Welt. Als der Schlagzeuger gegen Ende des Konzerts sein Instrument umwarf, der Gitarrist samt Verstärker umkippte, als sich der Sänger am Boden wand und nur der Bassist mit unbeweglicher Mine das immer gleiche Riff spielte, war ich überzeugt: die Revolution, wie immer sie auch aussehen mochte, konnte nicht weit sein.
Die Toten häuften sich. Von Napalm verstümmelte Kinder.
Im Juni hatten sie Benno Ohnesorg erschossen.
Ich wußte nicht, ob er einer von uns war, aber einer von denen war er mit Sicherheit nicht.
Die Outsiders wälzten sich am Boden, wir bildeten Kreise, tanzende, wilde Wirbel, aus denen ab und an jemand ausbrach, um mit einem Satz in die Mitte zu springen und sich zu wälzen, vorwärts zu wälzen, wo immer es auch hingehen mochte.
Ich wollte die Welt ohne Sturmgepäck.
Wenn es ging wollte ich sie ohne Arbeit, die frei macht.
Ich wollte die Welt vom Mond aus besehen, die Welt hinter der Grenze, die Welt, die sich langsam öffnet und die Welt, die ich umrunden konnte.
Alles andere ängstigte mich. Ich brauchte Aufschub.
Die Welt, die als vages Bild in mir spukte, mußte erst noch verwirklicht werden. Niemand außer mir würde das tun können. Zu Hause war kein Trost. Niemand hörte dem anderen zu. Wäre jemand gekommen, der mir zugehört hätte, ich hätte mich auf seine Seite geschlagen.
So hörte ich den Beatles zu, den Beatles und all den anderen Bands.
Ein Glück, denn es hätte viel schlimmer kommen können.
Ich hätte alles werden können: Pimpf, Christ, Präsident, Mörder.
Aber es hörte ja niemand zu.

(aus: Hermann Mensing: Einer bleibt gleicher, Roman: als PDF hier oder zum Download hier.


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