Februar 2016                      www.hermann-mensing.de      

    

mensing literatur
 

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zum letzten eintrag


Mo 1.02.16 11:14

Eines meiner Kissen ist schmal wie ein Brot und reicht von der Hüfte bis zur Schulter. Abends lege ich es neben mich, gebe ihm Namen und schlafe friedlich ein. Vielleicht ist das Autosuggestion, vielleicht Gefahrenprävention, denn man weiß nie, wer neben einem liegt, falls jemand da liegt. Sich selbst kennt man auch kaum, und so ist es wahrscheinlich am Besten, man liegt allein wie im Sarg und bereitet sich vor. Aber an manchen Tagen reicht so ein Kissen nicht.


Di 2.02.16 13:12

Beim Nachbarn blühen die Winterlinge. Ich fühle mich gut. Manchmal schwingt Wehmut mit, aber wenn ich die Erinnerungen weiträumig umfahre, geht es. Außerdem wird es bald Frühling.

17:50

Die Wolken haben Termine. Eh sie nach Osten abdriften, erröten sie.


22:26

Herr H., den ich für einen Türken hielt, dem das Magenta-Businesshemd und der schwarze Schatten seines Dreitagebartes besonders gut stehen, war dem Namen nach eher ein Bayer, der roch. Obwohl uns das Stehpult auf Abstand hielt, roch er. Er roch, während er mir erklärte, dass es keinen Tarif mehr gäbe, der die Flatrate für das IP-Telefon ausklammere. Wahrscheinlich hält die Telekom den Aufwand, Gespräche einzeln abzurechnen, für nicht rentabel. Er lachte und roch, als ich ihm androhte, die Telekom wegzusprengen, weil sie mich, was immer ich bei ihr buche, mit Zweijahresverträgen an sich bindet, obwohl ich doch eine Dienstleistung kaufe und eigentlich König wäre. Er roch immer noch, während er die Papiere ausfüllte, die auszufüllen sind, damit am September 2016 die Pauschale meines jetzigen Tarifs um etwa fünf Euro sinkt. Hätte ich ihm stecken sollen, dass er riecht, und dagegen etwas tun muss?


Mi 3.02.16 1:29



wie schön man doch vermasseln kann
und stunden drüber quasseln dann
die tränen faked und herzanfälle
noch eine ohnmacht auf die schnelle
man schwört, man bittet, bettelt,
und hat sich schon verzettelt
und hat man's schließlich ganz vergeigt
wird sich verneigt.

20:12

Heute war ich zum dritten Mal seit April letzten Jahres an der Kanalüberführung, wo eine temporäre Kanalumgehung gebaut wird, um die alte Kanalüberführung über die Ems abreißen und eine neue Doppeltrogbrücke errichten zu können. Ich hatte gehofft, den Verlauf der Umgehung schon sehen zu können, aber überall war nur Aushub. Am Emsufer ließen zwei haushohe Aufschüttungen von gelbem Sand auf einen möglichen Trassenverlauf schließen. Eine Spaziergängerin wusste nur, dass die durch die Umgehung entstehende Kanalinsel später als Ausflugs- und Erholungsgebiet renaturiert werden soll, aber wo genau die Umgehung beginnt und wie sie verläuft, wusste sie nicht.

Ich sagte, ich sei aus Roxel, sie sagte, sie wohne in Gelmer und habe schon 6 Kilometer hinter sich, "man muss ja in Bewegung bleiben." Ich stimmte zu, fuhr durch Gelmer, durchquerte den Dorbaum, hohes Wasser in Ems und Werse, vorbei an der Havichshorster Mühle Richtung Münster, um auf dem Markt Bratfisch zu essen. Gegenwind und plötzlicher Druckverlust auf dem hinteren Fahrradreifen. Die verbleibenden fünf Kilometer bis nach Hause durch zweimaliges Aufpumpen überbrückt.


Do 4.02.16 12:38

An zwei geschützten Stellen blühende Osterglocken, vor der Haustür Schneeglöckchen, Zuversicht keimt, nicht nur draußen.



Fr 5.02.
21:26

Nein, ich weiß nicht, was Kunst ist.
Ich habe nicht die geringste Ahnung.
Ich fahre aber jedes Jahr zum Rundgang der Akademie.
Da ist Kunst. Da studieren sie die.
Und dann wollen sie die natürlich auch machen.
Aber nicht alle kriegen sie hin. Rundgehn macht dennoch Spaß.
Mein schönster Moment war das Lachen einer Frau,
die einen Saal beaufsichtigte.

22:16

Liebe Herren von der Kapelle The Real Fullmooners,

ich habe gerade anderthalb Stunden Medeski, Martin & Wood gesehen und gehört, und gleich hinterher uns. Tja, und was soll ich sagen: so schlimm war es gar nicht. Bei the moon is shining ist ab 3:57 ne gehörige Tiererei zugange. Also, liebes Kommittee dieser hervorragenden Kapelle, ich wollte mal hören, ob es ab Anfang März nicht mal wieder so weit wäre.


Sa 6.02.16
12:11

Schlaf ist wundervoll. Eh man ihn findet, hat man Stunden herumgesessen, gehadert, hat gefunden, dass die Welt verloren ist und nichts mehr bleibt, als auf der Stelle zu sterben.

So geht man ins Bett, sagt Süße zum großen Kissen, schläft tief und am Morgen ist alles fort. Im Bad ist man freundlich. Man frühstückt und denkt, was für ein feines Leben. Man gießt Kaffee nach. Man spielt "My way" auf dem Klavier, und bleibt jedes Mal beim gleichen Akkord stecken, aber das macht nichts, man lebt.


15:02

Die Linde hat für ihre Samen einen besonderen Trick. Sie versieht sie mit einem Blatt, das auf dem Wind kreist wie ein Rotor. Eine Asiatin hat diese Blätter gesammelt und daraus eine kinetische Wandinstallation gemacht. Auf einer Fläche von schätzungsweise 5mal3 Metern hat sie die Blätter in kurzem Abstand neben- und übereinander angebracht. Sehr fragil, streng, spielerisch dennoch und schön, eine Fleißarbeit, gleich im ersten Raum nach der Cafeteria.

17:20

Das Nachmittagslicht flutet die Wiese unwirklich grün. An der Bachböschung liegen Federn einer weißen Taube. Die Deckfedern außen, die flaumigen mittig um den blutig gefressenen Torso. Ich kann das Brustbein erkennen. Vom Fußballplatz wehen Schreie herüber. Der Ortsverein spielt gegen Emsdetten. Auf dem Nebenplatz Flüchtlinge, Erwachsene, Jugendliche, Kinder, gemeinsam die Tore anrennend, rufend, lachend, fluchend. Ich habe Blickkontakt. Ich nicke lächelnd. Man reckt mir den Daumen. Es ist wundervoll heute.


So 7.02.16 11:59

Tango, sagen sie, sei Rhythmus, Leidenschaft, Melancholie, Sinnlichkeit und Erotik. Ich habe Rhythmus, bin Meister der Melancholie, Leidenschaften hilflos ausgesetzt, Sinnlichkeit ist Voraussetzung für meinen Beruf und Erotik keine Erinnerung an vergangene Tage. Das alles hatte ich also in geballter Form gestern auf der Milonga. Eine Karnevals-Milonga. Dazu spielte ein fünfzehnköpfiges Blasorchester. Aber um Mitternacht war das Fest schon so gut wie vorbei. Kein Wunder, wenn die Tangotänzer ständig dreinschauen, als mache ihnen das Leben keine Freude. Dabei ist Tango ein bewegter Tanz. Das improvisierende Schreiten beherrsche ich, alles Übrige würde ich sicher schnell lernen. Eine Partnerin meinte, ich sei "ein Naturtalent" und müsse "unbedingt" einen Kurs machen.


19:57

Vier Wochen ist es her, seit ich den jüngsten Enkel das letzte Mal sah. Heute kam er mir auf dem Dreirad entgegen, stoppte, schaute mich an und sagte Opa. Und während sein Vater und ich ihm im kalten Wind um die Häuser, auf die Wiese und durch Pfützen folgten, sagte er noch viele Worte, die er vor vier Wochen nicht gesagt hatte. Das tut gut, und es schmerzt, denn er wird Chris nie kennenlernen.

20:32

Ich hatte schon häufig den Eindruck, Sloterdijk sei nicht zu trauen. In seinem Buch, "Die schrecklichen Kinder der Neuzeit" charakterisiert er den Dadaismus als "Schule der Desertion". Wie kann man die Kinder der Neuzeit schrecklich nennen? Die Neuzeit ist schrecklich. Jede Neuzeit. Die Kinder sind schuldlos. Und den Dadaismus zu verunglimpfen, in dem man ihm, unterm Strich, Fahnenflucht vorwirft, ist auch ganz schön dick. Fette Bohéme eben. Ich mag Sie nicht, Herr Sloterdijk.


Mo 8.02.16 18:30

Kaum aufgestanden war der Tag vorüber, und ich hatte nichts getan. An mir liegt das Morden nicht, ich erkläre mich für nicht schuldig, ich habe den ganzen Tag auf den Sturm gewartet, aber der Sturm kam nicht, das Telefon blieb still, einzig der Lehrer kam und brachte Bücher und eine Flasche Whisky. Damit fang ich jetzt an.


Di 9.02.1610:22

Beim Improvisieren tauchte ein Akkord zu Lucy in the sky with diamonds auf. Picture yourself on a boat on a river ... Ich spielte sie wieder und wieder, in der Hoffnung, den Anschluß zu finden, aber das gelang nicht. Beim Klavierspielen tauchen häufig Fragmente von Liedern auf, die ich dann zu fixieren versuchen, bis ich das ganze Lied spielen kann.


Mi 10.02.16 10:46

Der Bus ist voll, und hinter mir quietscht was. Vor mir sitzt eine Frau, die genervt nach hinten Ausschau hält. Ich schaue sie an. Fragend. Schulterzucken. Ein Kind mit Quietscheente? Die Manschette, die Vorder- und Hinterteil des Busses verbindet? Hinter mir spricht èin Mann in sein Telefon. Er spricht über Fussball und Vögel. Wie der seine Vögel verkommen lässt in der Scheiße, sagt er erregt, kein Wunder, wenn die ihre Federn verlieren. Wegnehmen müsste man ihm die. Es quietscht immer noch. Ich drehe mich um. Was quietscht da so? frage ich den Mann, der aufgehört hat zu telefonieren. Meine Vögel, sagt er. Er hat Vögel gekauft, die hat er in einem Karton, der neben ihm steht. Ach so, sage ich und manche den Fehler, nachzufragen. Der Mann erzählt von seinen Zuchterfolgen, von seinem Hund, der kürzlich gestorben sei, kaputte Milz, sagt er, Notoperation nachts um drei, er schwärmt von seinen Vögeln, erzählt, dass eine Freundin Vögel nicht mag und sein Freund schon morgens betrunken sei. Er arbeitet beim Zoll. Zehn Minuten geht das, ununterbrochen. Zwei Stationen vor meiner steigt er aus. Ich atme auf.



Do 11.02.16 20:51

Donnerstag - fast schon vorbei. Sein helles Licht brachte an den Tag, dass ich mit dem Hausputz nicht mehr allzulang warten sollte. Staub, überall sichtbare Zeit, aber das macht nichts. Ich habe mich eingerichtet, hier hat mir niemand etwas zu sagen, hier bin ich Despot, gütiger König, Gourmet, Allesfresser, Erbsenzähler, Philantroph, großer Liebhaber gerade nicht, aber sonst bin ich alles, was der Fall ist, und das muss mir erst einmal einer nachmachen. Beim Tanzen gestern habe ich einen der Grundschritte des Tango in den Salsa überführt, und siehe da, er funktionierte, was eigentlich auch kein Wunder ist, denn bis vier zählen kan jeder. Morgen tanze ich in Osnabrück.


Fr 12.02.16 11:27

Ich habe ein großes Bett und ein kleines. Im Großen komme ich mir oft allein vor, im kleinen nicht, deshalb habe ich mich entschlossen, wieder im kleinen Bett zu schlafen. Da liege ich nah beim Fenster, das ich weit öffne, denn die Träume mögen frische Luft, und mein Oberbett ist dick genug, so dass ich nicht friere.


Sa 13.02.16 1:43

Chris 13.02.1953 - 17.06.2009





18:38

Wenngleich übermüdet, kann ich es nicht lassen, noch Tango zu tanzen, um nachher aufs Rad zu steigen und heimzufahren. Nachts unterwegs am Aasee, das hat was, wenn nur der Wind nicht zu heftig bläst, wenn nur kein Regen fällt, oder - schlimmer noch - Graupel, Griesel, Schnee wäre in Ordnung. Tiefschlaf danach, aber jetzt steht die Klärung der Kleiderfrage im Raum. Schwarzer BH., Stringtanga - wie diese hübsche, noch sehr junge Frau gestern beim Salsa in Osnabrück, wo jeder sich fragte, was sie der Welt eigentlich sagen wollte, so spärlich gekleidet.



So 14.02.16 12:19

Nennen Sie mich Tänzer.
Den Dichter habe ich mir in den Arsch geschoben.
Der Liebende ist abgemeldet, aber aktiv.
Die Welt ist ein Dreckloch.

13:52

Sie reden von Körpermitte und Balance, von hoher Körperspannung, ohne die der Tango nicht getanzt werden könne, von Hingabe und Leidenschaft, aber wieso sie so trostlos dreinschauen und selten lächeln, geschweige denn lachen, wenn sie mit vier, fünf anderen Paaren in einem tristen Raum herumschleichen, den man durch den nach Männerschweiß riechenden Flur eines Rudererheims erreicht, verstehe ich nicht. Man möchte sich auf der Stelle erhängen, wäre man nicht mit einer Tanzpartnerin unterwegs, die so etwas mit Lachen kontert, und so schleichen also auch wir herum und albern, stehen Paaren im Weg, überholen andere, schreiten hierhin und dorthin, drehen uns, wieder albern. Tango gefällt mir, Tango könnte mein Totentanz werden.


Mo 15.02.16 11:58

Viel Schnee ist es nicht, aber korrespondierend zu diesem Aggregatzustand kämpft mein System mit einer Erkältung, von der ich gestern abend glaubte, sie würde sich zu einer Grippe auswachsen. Heute glaube ich das nicht mehr, verbringe den Tag aber dennoch in stiller Abkehr von allem Irdischen im Bett, auf dem Sofa, auf jeden Fall unter dicken Decken.

16:49

Kaltes Nachmittagslicht, Schneereste, Zeitungen, ungespültes Geschirr, warme Decke. Ich brauche Kaffee.

21:58

Es gibt welche, die sagen, hätte ich bloß. Ich sage, ich hatte.



Di 16.02.16 11:11

Als ich mein Fahrrad am Samstagabend aus dem Keller holte, funktionierte das Licht weder hinten noch vorn. Am Vortag hatte ich das Tretlager reparieren lassen, da hatte es noch funktioniert. Ich checkte die Steckverbindungen, die Kabel, nichts. Ich war wütend. Am Montagmorgen rief ich wie Werkstatt an, um den Fall zu schildern. Das müsse er sich ansehen, sagte ein Mechaniker, da habe er auch keine Erklärung. Vorhin stellte ich fest, dass das Licht abgestellt war.

20:47

Den Tag begann, als würde aus meiner Erkältung doch mehr, aber der Himmel strahlte und noch einen Tag unter Decken wollte ich mir nicht antun, also bin ich trotzdem aufs Rad gestiegen. War in der Nachmittagsstadt, habe vorgelesen, Freunde besucht, habe den Abendhimmel gesehen, sein sanftes Orange, Möwen auf dünnem Eis, die Rufe der Canada Gänse und das Schreien der Krähen gehört.


Mi 17.02.16 00:47

Ich lese 89 / 90 von Peter Richter, ein Roman über das Ende der DDR aus Sicht eines Sechzehnjährigen. Anfangs dachte ich, interessantes Land, diese DDR, folgte Hinweisen auf DDR Bands auf YouTube, denn ich lese gern multimedial, schaute mir eine Arte Doku mit Flake an, dem Keyboarder von Rammstein und kehrte zurück zum Roman, wo sich mit der Maueröffnung plötzlich alles ändert. Die, die vorher Kommunisten waren, hatten wohl nur so getan und waren plötzlich Deutschland Deutschland Schreier, die Volkspolizei sympathisierte eher mit den Rechten als mit den Linken, wie bei uns, dachte ich, und da fiel es mir wie Schuppen von den Augen, kein Wunder, dass sie die "Lügenpresse" erfunden haben, dachte ich, sie hatten ja nie etwas anderes, unsere Brüder und Schwestern, und wer nicht in der Gegenwart ankommen will, hält sich an das, was er kennt.

12:00

Kann jemand einem fast 67jährigen Dichter, der aus allen Löchern rotzt, heiße Hühnersuppe bringen?

17:57

Mein Zustand hat sich der Welt angeglichen. Alles tut weh, alles ist schwer, nichts macht Freude. Woher kommt dieser Rotz?


Do 18.02.16 11:57

Schweres Hämmern im Schädel. Jeder tötet jeden. Es ist zum Verrücktwerden.

17:22

Ich glaube nicht, dass Frau Merkel Schuld am Zerbrechen der EU trägt, falls sie zerbricht. Eher sind sind es nationale Egoismen und das Schissertum, etwas zu verlieren. Europa ist eine jämmerliche Inszenierung. Man möchte schreien, sich schämen, bei all dem Reichtum, auf dem die wenigen hocken.


Fr 19.02.16 10:29

Ein, zwei Tage vornehmlich im Bett verbracht sind schön. Gegen Mittag werde ich mich erheben und in die wirkliche Welt zurückkehren. Das Schlimmste scheint vorüber, und wenn mich nicht alles täuscht, hat der Holundersaft, den mein Nachbar G. 2013 aus den Beeren unseres Gartens destilliert hat, einiges zur Wiederherstellung meines Systems beigetragen.

11:09

Da es aber noch grau ist und offenbar kalt, kann sich meine Rückkehr verzögern. Die Süddeutsche liegt neben mir, Kaffee kann jederzeit nachgefüllt werden, an Literatur ist kein Mangel.


14:06

Jetzt regnet es auch noch. In etwa einer Stunde werde ich kurz das Haus verlassen, auf dem Markt Zutaten für eine kräftige Hühnersuppe kaufen, heimkehren, kochen, essen, schlafen. Das muss genug sein für heute.


Sa 20.02.16 13:10

Erwachte grundlos glücklich. Soll einer die Welt verstehen.


So 21.02.16 14:57

Entsetzliches Wetter. Man weiß gar nicht, soll man zurück in den Winterschlafmodus, soll man sich erhängen, oder was wäre jetzt das Richtige?

16:48

Ich glaube, auf dem schwarz-roten Aufnäher auf der Brust seiner Bomberjacke steht: Arbeiterklasse. Auf dem Arm steht auch was, aber das kann ich nicht lesen. Ich will auch nicht noch mehr draufstarren, als ich schon draufgestarrt habe, denn der junge Mann vor mir mit seiner schwarz gekleideten Freundin, er den Kinderwagen schiebend, sieht so absurd rechtsradikal aus, dass ich schreien möchte. Was sind das für Tatoos an seinem Hals? Ich kann die nicht lesen, verdammt, und auch das Symbol, vielleicht ein Y, sagt mir nichts.

In dem aufgewühlten Kontext der Gegenwart, die dominiert wird von widerwärtigen Krakeelern, scheint er genau die Person, der ich jetzt die Meinung sagen sollte. Ich tu das natürlich nicht, erstens, weil ich die Eier nicht habe. Zweitens, weil er so überzeugend freundlich ist, herzlich. Mit einer Kundin vor ihm und mit der Kassiererin. Stattdessen könnte ich fragen, ob er vielleicht ein guter Skin ist, die gibt's ja, aber sind weiße Schuhbänder nicht eher für Rechte? Und das Rechte höflich wären, so höflich die dieser junge Mann, hat das schon mal einer gehört? Also ich nicht. Bei mir trinken die Bier und schlagen immer als Erste, und, ganz wichtig, sie sind nie allein.

19:09

Getrödelt, nachgedacht, überlegt, ob ich will, was ich tue, oder nur so tue, das Wetter verflucht und einiges anderes.



Mo 22.02.16
10:20

Das Kino war bis auf den letzten Platz besetzt. Worum es in dem Film ging, wusste ich nicht. Es war mehr so ein Impuls, den Abend unter Menschen zu verbringen. Alleinsein kann, muss aber nicht schön sein. Ich wusste also nur, dass die Coen Brüder den Film gemacht hatten, und die Coen Brüder machen in der Regel leicht verdrehte, unterhaltsame, auch lustige Filme. Der aktuelle heißt Hail Caesar. George Clooney spielt mit, der als schöner Mann gilt, und mit einer schönen jungen Menschenrechtsanwältin verheiratet ist, mit der er im Rahmen der Berliner Filmfestspiele mit Angela Merkel über Gott und die Welt gesprochen hatte. Mehr wusste ich wirklich nicht, und als die Vorstellung schließlich begann, dachte ich für ein paar Minuten, ich wäre im falschen Film, dieser hohe, pathetische Ton, als Clooney da als Caesar auf Rom marschiert, ich dachte, oh Gott, was ist denn nun, aber dann zeigte sich, dass Hail Caesar im Grunde nichts weiter ist, als ein Film über die Machenschaften und Eitelkeiten des Filmgeschäftes in den 50er Jahren. Er ist amüsant, ich lachte häufig, aber dass er nun ein Ereignis wäre, wie ich das in den Tagen darauf in verschiedenen Zeitungen las, kann ich nicht bestätigen, obwohl Tilda Swindon umwerfend gut aussieht in ihren Kostümen, und Scarlett Johansson sowieso.

17:13

Nachdem ich drei Tage lang Hühnersuppe gegessen habe, die von Aufwärmen zu Aufwärmen leckerer wurde, esse ich gleich Salat und Butterbrote. Mein neuer Lieblingsbäcker steht freitags im Dorf auf dem Markt, die zwei Verkäuferinnen sind Enddreißig, beide dunkelhaarig, eine mollig, mit sehr braunen Augen, Rehaugen, ja, und Grübchen, die andere weniger mollig. Sie schminkt sich manchmal den Mund übern Rand hinaus rot. Dort kaufe ich seit ein paar Wochen, und will seitdem eigentlich nichts anderes mehr. Kein Brot ist überkandidelt, es gibt sie in allen Getreidesorten, und wenn es Vollkorn heißt, heißt es nicht, dass man auf steinharte Körner beißt, sondern in ein saftiges Brot. Ein mittelbraunes Dinkelbrot, das ohne Hefe gebacken wird und "eigentlich Schwarzbrot" wäre, sagte die mit den Rehaugen, schmeckt mit Butter und Salz am Besten.


Di 23.02.16 9:58

Nach fast einwöchiger Regenperiode scheint die Sonne und ich möchte schreien. Als hätte ich ein Leben lang warten müssen, aber nun ist es soweit, ich kann ohne Kiemen atmen, der Rest meiner Erkältung vergeht mit der Sonne. Meine Lungen wollen frische Luft, ich will herumfahren mit dem Kopf nach unten, das All millionen Lichtjahre unter mir, Stratosphärenwind pfeift, manchmal ducke ich vor Meteoriten weg und singe dazu.

21:18

Hermann, das hast du gut vorgelesen, sagt Thomas. Danke, sage ich und lege das Buch beiseite. Es ist zuende. Nächstes Mal beginnen wir ein neues. Aber fragen Sie mich nicht, was ich die letzten zehn Wochen gelesen habe. Ich weiß es nicht. Ich lese einmal die Woche eine geschlagene Stunde, ich gebe mir Mühe, manchmal brauche eine Viertelstunde, eh ich ein Gefühl für den Text entwickele, aber das bleibt technisch und fördert nicht das Gesamtverständnis. Es sind immer nur Worte, die ich zu Sätzen reihe, woraus ich auf die Qualität des Textes schließe, denn ich lese schon seit über einem Jahr vor und habe natürlich Erinnerungen, aber das waren dann wohl Romane von anderem Kaliber als dieser. Einen Satz jedoch habe ich mir gemerkt, heute, kurz vor Schluss, habe ich ihn mir aufgeschrieben: Alles, was sie taten, taten sie einander an. Diesen Satz adoptiere ich. Er gehört jetzt mir und Ihnen und allen, die ihn gebrauchen können.



Do 25.02.16 11:02

Aus der Traum, sagte der Traum, also stand ich auf und ging ins Bad, aber der Traum war mir zuvorgekommen. Er duschte. Er war ein schöner Traum. Er hatte sich an mich gedrängt. Er hatte gesagt, ich habe ein bisschen getrunken. Macht nichts, hatte ich geantwortet, ich träume gern schöne Träume. Aber das hat alles nichts zu bedeuten, hatte der Traum noch gesagt. Verstehe, hatte ich gesagt, und mir geschworen, ihn mit allen Mitteln der Kunst zu erobern, aber als er unter der Dusche stand, wusste ich, dass es zwecklos war, ich musste ihn gehen lassen. Ich stellte also die Dusche ab, der Traum sagte noch, och nööö, aber dann war er fort. Ich schwor mir, nie wieder auf Träume reinzufallen. Wenn man Träumen nachjagt, werden sie Realität, und dann stehen sie da und man will sie, obwohl man weiß, das es Träume sind. Und so sitze ich also an diesem sonnigen Donnerstagmorgen und alle Träume sind ausgeträumt, aber wo etwas aus ist, fängt auch wieder etwas an, man weiß nur nie, was oder wann. Mein schönster Traum ist ein schneller, schmerzloser Tod, aber so weit bin ich noch nicht. Ich werde ein wenig weinen, ich werde manchmal nachts nach dem Traum rufen und er wird nicht kommen, aber eines Tage werde ich aufwachen und mich fragen, wie ich nur so blöd sein konnte, Träumen nachzurennen.

17:28

Im Hausflur standen zwei Kästen Bier, sechs Flaschen Saure- und Beerenschnäpse, Cola und Tupperdosen. Ich dachte, vielleicht muss das nach oben, oben ist eine Party, dann aber kam einer der Friesen herunter, die über mir wohnen und sagte, sie gingen gleich boßeln. Die drei Friesen wohnen seit zwölf Jahren über mir, und ich wusste, dass sie das einmal im Jahr tun, mitgegangen war ich aber noch nie. Also fragte ich, und sie sagten, ja, natürlich. Um drei trafen sich 28 Friesen vor einer Gaststätte, Arbeitsmigranten fast alle. Wir hatten den "Proviant" in zwei Bollerwagen dabei, außerdem zwei an langen Holzstangen befestigte, kreiskrunde Vorrichtungen, mit deren Hilfe man die Boßelkugeln aus Gräben fischen kann. Im Asylantenheim gegenüber ging ein Fenster auf. Ein Mann schaute herüber. Ich glaube, er sorgte sich, weil er nicht wusste, was wir dort machten. Schließlich gingen wir los. An jeder Kreuzung wurde"Kreuzung" gerufen, dann wurde Schnaps getrunken. Die meisten hatten kleine Krüge am Band um den Hals. Es gab vier Mannschaften. Ich war die Nummer 2 - lila, und wenn jemand rief, 2 - lila ist dran, nahm ich eine Boßelkugel und versuchte sie so weit wie möglich zu werfen, aber durch die Unebenheiten der Wege verschwanden die Kugeln oft links oder rechts in der Böschung oder in Gräben. Auf halbem Wege versank eine in tiefem Wasser. Drei Mann suchten zehn Minuten, einer zog sogar die Schuhe aus, krempelte die Hosen hoch und stieg ins Wasser, aber vergeblich. Währenddessen warteten die anderen an der Glühweinstation und machten Witze. Die Tour dauerte drei Stunden. Danach gingen alle zum Grünkohlessen.


23:34

Hätte der Traum zugestimmt, wäre er jede Nacht gekommen, und es hätte nicht lange gedauert, und ich hätte die anderen Träume vermisst, die sich nicht mehr hertrauten. Höchsten, dass mal einer durch ein Ohr rein- und durchs andere rauspfiff, aber dass er sich neben mich, auf oder unter mich gelegt hätte, dass er in mich hineingekrochen wäre, nee, leider nicht, und so ist es gut, dass der Traum aus ist. Alles hat immer so viele Seiten, und alles tut weh, wenn man es wissen will.


Fr 26.02.16 14:27



Aus der Traum, sagte der Traum, ging ins Bad und duschte. Er war ein schöner Traum. Er hatte sich an mich gedrängt. Er hatte gesagt, ich habe ein bisschen getrunken. Macht nichts, hatte ich geantwortet. Macht nichts. Aber das hat nichts zu bedeuten, hatte der Traum gesagt, nichts zu bedeuten, wirklich nichts zu bedeuten. Verstehe, hatte ich geantwortet, und mir geschworen, ihn mit allen Mitteln der Kunst zu erobern. Aber als er unter der Dusche stand, wusste ich, dass es zwecklos war. Ich stellte die Dusche ab, der Traum sagte noch "nööö", dann war er fort, und ich schwor mir, nie wieder auf Träume reinzufallen, nie wieder. Wenn man Träumen nachjagt, werden sie Realität, und dann stehen sie da und man will sie, obwohl man weiß, dass es Träume sind. Und so sitze ich also an diesem sonnigen Donnerstagmorgen und alle Träume sind ausgeträumt. Mein schönster Traum ist ein schneller schmerzloser Tod, aber so weit bin ich noch nicht. Ich werde ein wenig weinen, nachts werde ich den Traum rufen und er wird nicht kommen, doch eines Tages werde ich aufwachen und mich fragen, wie ich so blöd sein konnte, Träumen nachzujagen. Ich werde es wieder tun. Immer wieder.


Sa 27.02.16 13:44

Der Schlagzeug ist eingepackt, jetzt eine Stunde ruhen, dann essen, losfahren und die Nacht um die Ohren hauen.


So 28.02.16 20:25

Die zwanzigste Zusammenkunft der alten Männer seit Herbst 2008 endete um 2:48. Plüffs Tod (ihr Bassist in den Siebzigern) hatte sie damals auf seiner Beerdigung wieder zusammengebracht, die eine schöne Beerdigung war. Es regnete. Falls es nicht regnete, tropfte es aus Buchen, Kiefern und Eichen. Sie folgten einer walking-blues-band über vermooste Wege zu seinem Grab und beschlossen, wieder Musik zu machen wie früher. So ähnlich wird das gewesen sein. Nur bei zwei dieser Zusammenkünfte gab es Zuhörer, vor vier, fünf Jahren den weltberühmten Ur-Sonaten-Lomi, der nur reingelassen wurde, weil er ein Piece hatte und die Band hatte keins, und gestern die Ex des Bassisten, die auf dem Hof lebt.

Die Männer hatten (wie immer, und gestern besonders) vorm ersten Ton geraucht und getrunken, wie häufig zuviel, so dass die ersten zwei Sets nicht erwähnenswert sind. Dann aber klopfte es und die Ex, die Geburtstag hatte, kam mit Sekt. Die Männer stießen auf die an und spielten für sie. Plötzlich waren sie hochkonzentriert, er krachte, viel Freude war unterwegs, und hinterher waren alle sich einig, dass es am Publikum lag. Das Publikum war nämlich begeistert. Als es weg war, wurde lange diskutiert, ob man nicht doch öffentlich werden solle nach diesen acht Jahren. So recht überzeugt war zum Schluß niemand. The Real Fullooners waren unter der Prämisse gegründet worden, dass auf ihren Zusammenkünften nichts heilig, nichts peinlich, nichts, gar nichts verboten sein solle, so lange sich jemand traue, es zu äußern, und dass niemand sonst anwesend sein solle, und so soll es bleiben.


Mo 29.02.16
18:59

Nach 40 Kilometern frostiger Fahrt über Land kann ich den Tag getrost beenden. Er kommt eh erst in vier Jahren wieder. Also, bis dahin.


20:52

Sie waren schon an dem Punkt, wo das Ganze so behaglich geworden war, dass es Mark unbehaglich wurde (...) Wenn ihm das Schlussmachen abgenommen würde, wäre er einfach nur dankbar. (Nick Hornby, Not a Star, in: Small Country, Vier Storys)