www.hermann-mensing.de

Hermann Mensing

Geisterstadt

Gut, wieviel? fragte der Mann, der kein Unmensch war, jedenfalls sagte er das: ich bin ja kein Unmensch. Amajimmy Yeboah zog eine kleine Blechkiste unterm Bett hervor. Darin war alles, was er besaß. Er öffnete sie und zeigte sie dem, der kein Unmensch war. Der schaute hinein und schüttelte den Kopf. Nein, dafür nicht. Nie im Leben. Nicht bei mir und nicht bei irgendeinem anderen.

Amajimmy Yeboah nahm die Dose, verschloss sie und hielt sie fest vor der Brust. Der, der kein Unmensch war, der, der gesagt hatte, besser wäre, es würden keine Namen genannt, der also, der kein Unmensch war und keinen Namen hatte, verabschiedete sich.

Amajimmy Yeboah trat vor die Hütte und schaute ihm nach. Jeder im Dorf kannte ihn. Jeder wusste, wo man ihn erreichen konnte, wenn man ihn erreichen wollte, aber darüber hinaus hatte er die Fähigkeit, unsichtbar zu sein. Vor allem, wenn Polizisten in der Nähe waren, was nicht oft vorkam, aber immer öfter. Immer häufiger fuhren sie herum, hielten sich in den verkommenen kleinen Häfen auf, in denen die Pirogen lagen.

Amajimmy seufzte und schaute hinaus aufs Meer. Und wenn er nun doch das alte Motorrad reparierte, das hinter der Hütte lag? - Nein. Er würde er sich etwas anderes einfallen lassen müssen, denn eines stand fest: übers Meer wollte er, übers Meer und dann in den Norden hinauf, wo es Arbeit gab, fließend Wasser und Elektrizität, und das alles zu jeder Tages und Nachtzeit.

Amajimmy holte sich Rat beim alten Hulla Adjekin. Der schlachtete ein Huhn, was auch Geld kostete, aber immerhin, er vollzog die alten Riten, er brummte und murmelte und sagte schließlich, er sähe eine Stadt voller Geister. Amajimmy wusste sofort, was das für eine Stadt war, ein gutes Omen also.

Er bedankte sich, trottete quer übers Feld, setzte sich unter den alten Iroko Baum und zündete sich eine Zigarette an. Die Sonne stand schon tief überm Horizont, als er an Bantuu dachte, den Geldverleiher, der allein in einer Hütte am Rande des Dorfes lebte. Niemand mochte ihn.

Die Sonne versank, als Amajimmy beschloss, zu ihm zu gehen. Bantuu war ein Greis mit vielen Gebrechen. Er verlieh Geld, und niemand wusste, woher er es hatte. Er galt aber auch als böser Zauberer, man musste sich vor ihm in acht nehmen, er duldete keinen Verzug, und die, die ihn trotzdem hatten warten lassen, waren oft in seltsame Unfälle verwickelt worden.

Nun, Amajimmy Yeboah, da bist du also, ich dachte schon, dass du kommen würdest! sagte Bantuu, als Amajimmy die Hütte betrat. Amajimmy tat, als wundere ihn das kein bisschen und sagte nur, dann weißt du sicher auch, weshalb ich komme. Bantuu nickte, beschied ihm aber mit dem nächsten Satz, dass er keine Möglichkeit sähe, ihm zu helfen. Amajimmy bot ihm einen Vertrag. Sobald er das Meer überquert habe, sagte er, wolle der ihm jeden Monat Geld schicken, bis seine Schuld getilgt sei. Dafür bürge er mit seiner Seele.

Bantuu lachte. Deine Seele? sagte er. Spar dir deine Seele. Die ist längst verkauft. Ich sehe sie im Schatten hocken und die Hand aufhalten. Deine Seele ist voller Flecken, Amajimmy, wenn sie rein wäre, ja, dann ließe sich drüber reden, aber so, tut mir leid, nein.

Amajimmy wusste, dass das Bantuus letztes Wort gewesen war, Bantuu hatte sich schon abgewendet, Amajimmy stand einen Augenblick unschlüssig im Halbdunkel der Hütte. In der Nähe schrie eine Hyäne laut und frech. Bantuu drehte ich zu ihm um und sagte: Hörst du, sogar die Hyänen lachen über dich. Niemand lacht über mich! brauste es in Amajimmy, niemand, du wirst schon sehen.

Bantuu spuckte ätzenden Schleim auf den gestampften Lehmboden seiner Hütte und begann schallend zu lachen. Bantuu verspottete ihn und die Geisterfahrer, wie er sie nannte, die, die so versessen darauf waren, in den Norden zu gelangen. Bantuu sagte, sie würden schon sehen, was sie davon hätten, da oben, im eiskalten Norden, wo nichts mehr gälte.

Amajimmy hörte nur mit einem Ohr zu. Wie verhext starrte er auf den alten Mann, dann fiel sein Blick auf die Hacke hinter der Tür. Noch eh er denken konnte, hielt er sie in der Hand und schlug zu: einmal, zweimal, dreimal, viele Male.

Bantuu sackte ohne ein Wort zusammen. Ausgestreckt lag er da, sein Gesicht im eigenen Speichel, tot. Geschieht dir recht, dachte Amajimmy, erstaunt über sich, erstaunt und sprachlos über die Ruhe, die plötzlich über ihn und diese Hütte gekommen war, als hätte der alte Bantuu genau das erwartet, genau das gewollt und nur darauf spekuliert, dass es endlich einer täte. Kein bisschen Furcht, keine Panik, kein Entsetzen vor der eigenen Tat.

Amajimmy beugte sich hinunter, ergriff Bantuus Füße und schleifte ihn hinaus ins Dunkel der Nacht, schleifte ihn quer über ein Feld bis zu einer Stelle, an der das Guinea Gras hoch stand, ließ ihn liegen und hoffte, die Hyänen würden ihn holen.

Zurück in der Hütte begann er zu suchen. Wie rasend suchte und suchte er, ohne etwas zu finden, bis ihm auffiel, dass der Lehmboden unterm Bett an einer Stelle lockerer war als ringsum. Wieder nahm er die Hacke, schlug sie mit Wut in den Boden, riss ihn auf, grub sich tief und tiefer, bis es plötzlich metallisch klang. Amajimmy wusste sofort, dass er gefunden hatte, war er suchte.

Einen Tag später hatte er den Namenlosen bezahlt, zwei Tage später saß er in einer Piroge, die in die Nacht hinausfuhr. Mit ihm zwanzig andere junge Männer. Die See war ruhig, ein Monster, das die Einheimischen fürchteten wie einen bösen Zauber, der sie verschlingen will. Niemand konnte schwimmen. Geredet wurde kaum. Die Furcht vor dem Neuen lag allen auf den Gesichtern wie eine Totenmaske.

Das Land war schnell außer Sicht, die Nacht mit ihrem Sternenprospekt blendete die Männer. Die Piroge lief ruhig in nordwestlicher Richtung. Zwei Tage vergingen. Am Morgen des dritten frischte der Wind auf, die Wellen trugen weiße Kronen, und wer Augen hatte, konnte sehen, dass da von Westen etwas heran kam, das nicht gut war.

Am Abend dieses Tages atmeten alle auf, aber sie hatten sich getäuscht. Das Wetter hat nur eine Pause gemacht, denn in der Nacht brach ein Sturm los. Der Mann, der die Piroge steuerte, zog die Stirn in düstere Falten. Sein Boot war ein gutes Boot, viel besser als manches andere, das mit ähnlicher Fracht unterwegs war, aber dieser Sturm, das wusste er gleich, wollte ihn auf die Probe stellen. Er sagte nichts, aber er war bereit.

Am Mittag des nächsten Tages war es so weit. Die Piroge geriet zwischen sich kreuzende Seen, die sich meterhoch aufgetürmt und in rasender Geschwindigkeit auf das Boot zugerollt waren. Der Steuermann hatte keine Chance, denn wohin er sich auch wendete, ringsum war ein einziges Stöhnen und Brausen. Die Piroge richtete sich auf, eine Sturzsee überspülte sie, einen Augenblick schien es, als kränge sie nur und wolle ausweichen, dann aber stieg eine Wasserwand auf.

Und Black.

Amajimmy trieb an einen Kanister geklammert in der wütenden See. Von der Piroge weit und breit keine Spur. Von den Männern - nichts. Nur er, Amajimmy Yeboah, auf dem Weg in die Geisterstadt. Jetzt wusste er, warum Bantuu gelacht hatte., Bantuu steckte mit dem Geistern des Meeres unter einer Decke. Amajimmy verlor jede Zuversicht. Er würde sterben, jeden Augenblick würde die Geistern ihn greifen und hinabzerren.

Stattdessen tauchte, Amajimmy wusste nicht mehr, wieviel Zeit seit der Havarie verstrichen war, ein graues Schiff auf. An der Reeling standen Männer in Uniform. Einer schaute durch ein Fernglas. Die Männer gestikulierten. Amajimmy verlor das Bewusstsein.

Als er erwachte, beugte sich ein Mann über ihn. Amajimmy schaute sich um. Er war auf keinem Schiff mehr, er lag auf einem Bett. Der Mann war ein Arzt. Er sprach beruhigend auf Amajimmy ein. Amajimmy kannte die Sprache nicht, hoffte aber, es sei Spanisch. Der Mann fragte etwas, Amajimmy sagte nur: Arbeit. Der Mann nickte und gab ihm eine Spritze.

Amajimmy bekam zu Essen. Er bekam zu Trinken. Er lief herum in einem orangefarbenen Overall. Er war nicht allein. Andere, ebenso gekleidete Männer wie er liefen herum. Aber sie konnten nicht gehen, wohin sie wollten. Ringsum waren Zäune. Hohe Zäune. Manche der Männer sprachen seine Sprache. Sie sagten, sie seien in Sicherheit. Sicherheit? fragte Amajimmy. Ja, sagten sie, sie werden uns nach Spanien bringen. In ein Lager. Ein Lager? Ja, irgendwo im Süden. Und dann werden wir weitersehen.

Das Lager, in das man sie brachte, war erbärmlich. Aber immerhin, Amajimmy wusste, dass er es geschafft hatte. Er begann, Pläne zu schmieden. Pläne, die unter den anderen Flüchtlingen diskutiert wurden. Man würde fliehen. In der Nacht würde man das Lager verlassen und weiter nach Norden gehen, immer weiter, weiter, bis man Arbeit fände. Und die, sagten die Männer, gäbe es zur Genüge. Sie könnten Tomaten pflücken. Dass man sie halten würde wie Tiere in einem Verschlag, erzählten sie nicht, aber so kam es dann.

Amajimmy pflückte Tomaten. Amajimmy bekam Geld für seine Arbeit, musste aber auch zahlen für Unterkunft und Verpflegung, so dass kaum etwas blieb. Amajimmy litt unter Heimweh. Aber das Heimweh war zu ertragen, denn er wusste nun, wo er war und wie es weitergehen würde. Die Stadt, die große Stadt, von der man ihm erzählt hatte, war ein, zwei Tagesreisen entfernt, je nachdem, wie die Dinge sich entwickelten. Er würde, wie es die anderen gesagt hatten, über Nacht reisen. Er würde versuchen, sich unsichtbar zu machen, wie der Namenlose zuhause

Amajimmy trug eine Jeans, ein T-Shirt, FlipFlops und eine Addidas Jacke, als er sich auf den Weg machte. Er stahl unterwegs, zweimal hätte man ihn fast erwischt, einmal hätte ein Lastwagen ihn fast überfahren, in der Nacht trat er auf eine Viper, war aber geistesgegenwärtig genug, mit einem wilden Satz davon zu springen, eh sie ihre Zähne in seine Waden schlagen konnte. Noch eine Nacht und noch eine, die Männer hatten vielleicht gelogen, die Stadt war wohl doch weiter entfernt, aber es ging nach Norden, so viel konnte Amajimmy sagen.

Und dann war sie da, die Stadt. So groß, wie er noch keine vorher gesehen hatte. Eine Stadt am Meer. Er ging herum. Suchend. Er wusste nicht, an wen er sich wenden könnte, um Arbeit zu finden. Am Hafen jagte man ihn fort. Er ging wieder hin. Wieder jagte man ihn fort, und als er gerade in wilder Hast davon rannte, hielt neben ihm ein Auto, ein Mann öffnete die Tür, zeigte auf ihn, sagte "du, Arbeit?" und Amajimmy nickte. Ich habe es geschafft, dachte er. Man brachte ihn in ein heruntergekommenes Haus. Da waren andere Männer wie er. Sie sahen müde aus.

Am nächsten Abend wusste Amajimmy, wieso. Noch vor Sonnenaufgang hatte man ihn geweckt, und dann hatten man ihn und die anderen in eine Fabrik gefahren. Dort hatten sie Fässer gereinigt. Große und kleine. Waren hineingekrochen, hatten ätzende Luft geatmet, hatten mit Wasserschläuchen gespritzt und mit Hämmern geklopft, den ganzen Tag bis zum Abend. Geld hatte man ihnen keines gegeben. Geld gäbe es, wenn die Arbeit getan sein, sagten sie. Auf die Frage, wann das denn wäre, antwortete man, das würden sie dann schon sehen.

Es gab zu Essen in dem heruntergekommen Haus. Es gab zu Trinken. Manche Männer rauchten Marihuana am Abend. Amajimmy nicht. Amajimmy hatte ja Pläne. Dann aber, eines Nachts, Amajimmy hatte von Bantuu geträumt, vielleicht war es aber auch gar kein Traum gewesen, vielleicht war Bantuus Geist gekommen, um ihn zu strafen, eines Nachts jedenfalls, Amajimmy war jetzt schon eine Weile in dieser Stadt, kamen plötzlich Männer und sagten, sie sollten gehen, sofort, eine Razzia stehe bevor.

Amajimmy wusste, was eine Razzia war. Er sprang vom Bett und rannte davon. Er hatte nur das, was er am Leibe trug. Er rannte. Er rannte, bis er das Gefühl hatte, weit genug fort zu sein. Erschöpft setzte er sich an eine Straßenecke und schlief ein.

Seitdem sitzt er dort. Sitzt dort und kann kaum noch denken, sitzt dort bei Regen und Sonne, sitzt dort und schaut den Menschen fragend nach. Manche dieser Menschen geben ihm ein Almosen. Amajimmy sitzt da und spürt, dass die Geister, von denen Bantuu gesprochen hat, immer näher kommen. Manchmal kann er sie schon sehen. Und dann träumt er sich fort. Sitzt in seiner Hütte und baut das alte Motorrad zusammen. Es fehlt an allem, aber er wird es schaffen. Und dann wird er herumfahren und Geld verdienen mit diesem Motorrad. Ja. Das wird er tun.

zurück