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Hermann Mensing: Große Liebe Nr. 1

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Hm mmm, hatte ich gesagt.
Okay, ja. Is gut, mach ich, ja, ich pass auf, ciao.
Und war eingestiegen. Beckentasche, Reisetasche, Snare. Linke Hand, rechte Hand, Rücken. Ich kam mir vor wie ein Esel, aber ich fühlte mich gut. Ich war sechzehn, mein Haar war rattenkurz und auf meinem T-Shirt stand I smoked a joint and became a genius.
Freunde nannten mich Steff.
Ich spielte Schlagzeug in zwei Bands und Mädchen gingen mir am Arsch vorbei. Das heißt, mir wäre es lieb gewesen, wenn sie mich kalt gelassen hätten, aber ich dachte eigentlich an nichts anderes. Ganz schön anstrengend sowas. Ab sofort war ich zum ersten Mal in meinem Leben allein unterwegs, allein auf dem Weg nach Polen, Polen auch noch, da wo alle klauen und nix tun.
Das Abteil roch muffig, die Sitze waren abgewetzt, typisch Bimmelbahn bis zum Anschluß an den ICE.
Papa klopfte gegen das Fenster.
Zum Glück ließ es sich nur eine Hand breit aufschieben, aber das war weit genug, um noch einmal hören zu müssen, was ich alles tun und nicht tun sollte, wenn ich in Polen wäre.
Ja, ja, sagte ich und dann fuhr der Zug los. 8 Uhr 05. Rumpeln und Poltern wie bei einer Rhythmusmaschine. Nicht schlecht eigentlich, müsste ich Ben mal vorschlagen.
Der Zug nahm Fahrt auf, ich verlor den Bahnsteig aus den Augen und dann wurde mir mulmig.
Ich schüttelte mich wie ein Hund, aber es half nicht. Irgendetwas war dabei, mein Blut aufzumischen. Hundsgemein kroch das näher und wurde größer und größer. Wäre es plötzlich gekommen, hätte ich es als Schreck weggesteckt, aber so!!! Während der Zug über Weichen polterte und die Stadt sich im grünen Umland verlor, wurde der Mulm so schlimm, daß ich für Augenblicke befürchtete, ich könne ihn nicht mehr aushalten. Ich würde schreien, wegrennen, ausflippen. Mein Herz begann zu rasen. Schweiß trat mir auf die Stirn, und dann wußte ich nur noch eine Rettung: Mama und Papa anrufen! Als ich mein Handy rausgekramt hatte, wurde mir besser. Ich atmete auf, starrte es an, als wäre es ein Zauberstab, schob es zurück in die Tasche und schlug
mein Tagebuch auf.
Papas Rat, dieses Tagebuch! Er meinte, ich solle es einfach mal versuchen. Ich müsse ja nix reinschreiben, aber manchmal wäre ein Tagebuch hilfreich. Wie ein Freund!
Ich wußte natürlich sofort, woher der Wind weht. Schließlich stehen in Papas Regal Tagebücher aus drei Jahrzehnten. Fast jeden Tag seines Lebens könne er damit rekonstruieren, sagt er. Mal angenommen, jemand käme.... Und was sollte ich schreiben? - Daß das Wetter gut ist, daß ich genug Geld hatte, oder eher, daß ich säuisch fand, daß Marie sich plötzlich für achtzehnjährige Jungen interessierte. - Meine Marie!!! - Mit der ich seit Pamperszeiten alles gemeinsam gemacht hatte? - Meine beste Freundin!!! - Und dann von einem Tag auf den anderen plötzlich so etwas. Sie grüßte nicht einmal mehr!
Hinterhältige Ziege!
Ich hasse dich. Auf immer und ewig.
Vielleicht wäre es besser gewesen, etwas anderes zu denken, aber sie ging mir nicht aus dem Kopf. Ich hatte sie gestern noch gesehen und es hatte weh getan. Ich hätte schreien können, so ungerecht war das.
Papa sagt, Mädchen in meinem Alter würden nun mal auf ältere Jungs stehn, daran müsste ich mich gewöhnen.
Tun sie das? -
He ihr blöden Ziegen steht ihr auf ältere Jungs?
Und worauf sollen sechszehnjährige Jungs stehen??? -
Auf zwölfjährige?
Marie soll in der Hölle verdorren.
Schluß. Aus jetzt.
Die nächsten zwei Wochen gehören mir.
Mir und diesem Jazz-Workshop in Polen!
Zinkedink, zinkedink, zinkedink.
Ben hatte mir davon erzählt. Ist ein ziemlich schräger Typ dieser Ben, groß wie eine Bohnenstange, trägt schicke Anzüge und abgetretene Schuhe, spielt in einer Band, die mit Samples arbeitet, trommelt die Hölle und in seinem Proberaum riecht es häufig nach Grass.
Ben findet Hiphop gut und Tags Scheisse, Ben hört Klassik und spielt für Geld in einer Top 40 Band, und was immer ich wissen will, er weiß es und trommelt's mir vor.
"Fahr da hin, Steff!" hatte er gesagt und ich hatte eins und eins zusammengezählt.
Ich bin weg.
Hätte ich geahnt, was ich in den nächsten vierzehn Tagen in mein Tagebuch schreiben würde, wer weiss, ob ich je gefahren wäre.
Aber ich hatte ja keine Ahnung. Ich war ja noch grün hinter den Ohren. Alles, was Papa in den letzten Wochen gesagt hatte, stimmte, obwohl ich es unverschämt gefunden hatte.
Bei einem unserer schlimmsten Kräche hatte ich die Nerven verloren.
"Leck mich am Arsch!" hatte ich geschrien.
Und: "Du bist doch schon fast tot!"
Mama war kreidebleich geworden. Papa hatte sich hingesetzt und mit glasigen Augen aus dem Fenster geschaut. Mir hatte es sofort leid getan, aber gesagt war gesagt.
Drei Tage waren wir uns aus dem Weg gegangen, drei lange Tage hatte absolute Funkstille geherrscht, drei lange Tage wie ein Leben so lang, nie hatte ich mich so hundeelend gefühlt, und obwohl wir uns danach wieder vertragen hatten, schämte ich mich immer noch.
Trotzdem hatten sich die Dinge seitdem auf bemerkenswerte Weise verändert. Papa schien klarer zu sehen, daß ich nicht mehr sein kleiner Steff war, sondern schon ein großer, wenn auch noch nicht erwachsener Sohn. Als hätte es nur dieser blöden Schreierei bedurft, um ihm die Augen zu öffnen.
Aber das alles war Schnee von gestern.

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