www.hermann-mensing.de


Hermann Mensing

Das Geheimnis des schwarzen Buches

Roman

 


1

Gustav macht eine Entdeckung

Gustav Lingemann öffnete sein schwarzes Buch, in das er alles Wichtige eintrug, zeichnete eine Wolke, klappte das Buch wieder zu und legte sie unter sein Kopfkissen. Zwei Wolken, fünf Sterne. Nicht schlecht, dachte er. In der letzten Woche hatte ich nur drei Sterne.

Gustav war klein. Kleiner als die meisten. Kein Wunder, dass es Spötter gab. Sie nannten ihn Furz, Kurzer, Floh oder Fliegenschiss. Das war hart. Aber Gustav würde sich wehren. Irgendwann, da war er sicher.

Dass es diese Wolken und Sterne gab, ahnte niemand. Nicht einmal Lars. Lars war auch größer als er, aber kein Idiot. Lars war sein Freund. Er spielte Sturm beim FC und Gustav Linksaußen. Die beiden verstanden sich blind.

Eines nachts wachte Gustav auf. Komisch. Wo er doch sonst schlief wie ein Bär im Winterschlaf. Ihm war schwindlig, sein Kopf brauste und in seinem linken Ohr war ein seltsames Puckern. Er schlich ins Bad, machte Licht an und schaute in den Spiegel.

Sein linkes Ohr war feuerrot.

Gustav dachte, gleich fällt es ab, ging zurück ins Bett, zog sein schwarzes Buch unterm Kopfkissen vor und schrieb:

Bin ich krank?

Am Morgen sah das Ohr wieder normal aus. Gustav war froh und sagte Mama nichts. Als er den Schulhof betrat, standen alle herum wie immer, und natürlich war es Schulz, der Gustav zurief:
"Na Furz, wieder nicht gewachsen?"
Komisch war, dass Gustav sich antworten hörte.
Er sagte: "Schulz, du hast geklaut. Ich hätte nicht so'n großes Maul wie du."
Schulz Kinnlade klappte herunter. Dann wurde er rot.
Gustav erschrak, wusste aber nicht, wieso.
In sein schwarzes Buch schrieb er: Schulz ist bescheuert.

In der zweiten Stunde stellte Frau Giesshuber Gustav eine vertrackte Rechenaufgabe. Gustav war kein großer Rechner. Er hätte das zwar rauskriegen können, aber wenn man ihn so direkt fragte, brummte und brauste es normalerweise in seinem Kopf und alles schwirrte durcheinander.
Diesmal aber ging er an die Tafel und rechnete alles vor.
Frau Giesshuber nickte zufrieden und sagte: "Siehste Gustav, du kannst es doch, wenn du willst."
Gustav nickte. Er verschwieg, dass er die Antwort nur deshalb so schnell gewusst hatte, weil er in dem Moment, als Frau Giesshuber gefragt hatte, die Antwort gehört hatte, so, als hätte sie sie vielleicht mitgedacht oder leise für sich gesprochen.
In sein Buch schrieb er: Ich habe einen Verdacht.


2

Gustav weiß etwas, das niemand weiß

Wenig später knackte der Lautsprecher und der Direktor sagte, alle Schüler sollten sich in der Pausenhalle versammeln, er müsse etwas sagen. Frau Giesshuber schaute erstaunt, Gustavs Klassenkameraden redeten durcheinander und freuten sich, dass die Stunde unterbrochen wurde.

Direktor Kortmann war ein kleiner dicker Mann. Gustav mochte ihn. Als er in die Pausenhalle kam, wusste Gustav sofort, was Herr Kortmann sagen würde. Es hatte mit Schulz zu tun, aber natürlich wusste Herr Kortmann das nicht. Er wusste nur, dass jemand etwas gestohlen hatte und wollte den Kindern sagen, dass der oder diejenige, die geklaut hatte, besser zu ihm käme und alles zugäbe, weil er den Dieb früher oder später sowieso fassen würde.

Dann war Pause. Auf dem Schulhof standen Grüppchen und redeten durcheinander. Gustav ging herum. Er wusste, wovon sie redeten, er wusste, dass Schulz Maries Geldbörse geklaut hatte und war gespannt, wie es weitergehen würde. Gustav wunderte sich kein bisschen, dass er das alles wusste. Es schien ihm völlig normal. Er fing erst einen Tag später an, sich zu wundern.

Schulz stand in der hintersten Ecke. Schulz (alle sagten Schulz zu ihm, als wäre er sowas wie ein großer Chef, dabei hieß er Kevin) Schulz hatte seine Truppe um sich. Seine Bande. Modena auch, schon ein Größerer, eine
Klasse über Gustav. Sein Urgroßvater kam aus Italien.

Gustav tat so, als sähe er sie nicht und schlenderte genau auf Schulz zu. Als sie voreinander standen, sagte Gustav: "Mist was, Schulz, du hast dir für Maries Geld doch schon zehn Pakete WM Bilder gekauft. Was denn jetzt?"
Schulz sagte: "Du spinnst ja wohl!", aber er hatte etwas anderes gedacht. Er hatte gedacht, verdammt, woher weiß der Kerl das, ich muss ihm das Maul stopfen, ich verkloppe ihn heute mittag, soll er mal sehn, ich schnappe ihn mir hinter der Turnhalle, da, wo er auf dem Nachhauseweg immer hergeht.

Als die Schule aus war, ging Gustav woanders her. Nachmittags rief Schulz ihn an. Er sagte, er kriege ihn schon noch, aber Gustav wusste, dass das nicht passieren würde. Er wusste, dass Schulz Angst hatte. Es war, als könne Gustav das durchs Telefon riechen, so wie Hunde riechen können, ob jemand Angst hat oder nicht.

Nachdem Schulz angerufen hatte, hatte Mama Gustav zum Einkaufen geschickt, und da hatte er eine Frau gesehen und sich erschrocken. Er hatte nämlich gehört, dass sie sich vorstellte, der Kassiererin die Tüte Milch auf den Kopf zu hauen, weil sie so unfreundlich war.

Da fing Gustav an, sich zu wundern. Aber mehr auch noch nicht. Er dachte immer noch, dass das alles Zufall sein könnte.

In sein schwarzes Buch schrieb er: Es passieren seltsame Dinge.


3

Gustav hat keinen Beweis


Am Morgen wartete Schulz vorm Schulhof auf Gustav. Schulz nickte, als Gustav vorbeikam. Er nickte und sagte: "Hör zu Gustav, ich muss dich sprechen."
Gustav schaute auf. Immerhin. Schulz hatte nicht Furz gesagt oder sowas. "Wieso denn?"
"Ich will dir einen Vorschlag machen. Ich will, dass du niemandem etwas sagst."
"Was?", fragte Gustav.
"Das weißt du schon", sagte Schulz.
Gustav sagte, das täte er nicht, keine Bange, aber er hätte es getan, wenn er Beweise gehabt hätte. Liebend gern hätte er Schulz in die Pfanne gehauen, schließlich war er ein Dieb, aber man braucht Beweise, um einen Dieb zu überführen, und die hatte Gustav nicht. Er hatte einen Verdacht, ja, aber ein Verdacht ist nicht genug. Verdächtigen kann man alle möglichen Leute.

Was hätte Gustav denn tun sollen?

Hätte er sagen sollen: "Alle mal herhören, ich kann Gedanken lesen?"