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2.02.02 6:50 -  9 Grad Celsius - Regen.

Ich flöte gegen die Verzweiflung des frühen Morgens. Aber jeder sieht, dass ich nur flöte, weil ich nicht jeden Tag, jede Woche, jeden Monat, jedes Jahr um dies Zeit unterwegs sein muss. Ich enttarne mich. Meine gute Laune ist die gute Laune der Ausnahme, nicht die des Alltags. Aus allen Richtungen kommen sie, mit kurzen Blicken gelingt den meisten die Navigation, niemand rempelt den anderen an, nur als als ich Straße überquere, wird spürbar, wie gern die wartenden PKW Fahrer jetzt auf die Tube drückten, um störende Fußgänger zu Brei zu fahren. 

Ich bin unterwegs.
Zwei Lesungen in Hattingen an der Ruhr.
Vierte Klassen. "Sackgasse 13"  Lebendige Menschen.

7:08

Zum Trost singt die Bahnhofsamsel, die (ich habe es selbst schon gehört) auch im tiefsten Winter nicht verstummt. 

9:08

Zwischen Essen Kray und Hauptbahnhof werfe ich einen Blick auf den Sokrates Grill. Alle sind da, haben ihre Tuniken gerafft, jemand mit der Leier steht neben der Fritteuse und spielt früh-griechischen Sirtaki, während die Herren beraten, ob das Sein dem Nichtsein vorzuziehen sei, oder man besser doch erst eine Dose Bier zischen sollte. 
Das Folkwang Museum kündigt eine Max Beckmann Ausstellung an. Aquarelle, Zeichnungen und Grafiken werden gezeigt. Titel: "Spektakel des Lebens." Das passt. Ich befinde mich mittendrin. 

12:20

Hattingen - Einkaufsstraße "Euphrat - Döner". Der jammernde Gesang des Orients begleitet die Zubereitung eines Döners, den ich gleich essen werde. Alle Gassen der Altstadt streben zum Talgrund. Fachwerk und Schiefer. Der Geruch alten Fetts und geschliffenen Metalls.

Eine Eule ziert den Eingang eines Fachwerkhauses von 1728 in der Johannistraße. Frau Palkin wohnt hier, eine alte Dame, die auch im Kirchenrat ist. Jedenfalls sagt das ein Passant, den ich frage, ob er wisse, was es mit der Eule neben der Tür auf sich habe. Er sagt, jetzt, wo Sie es sagen, sehe ich sie zum ersten Mal. Aber ich kenne die Dame. Wir könnten schellen und fragen. Ach nein, wiegle ich ab.

Im Restaurant "Odeon" an der Eschstraße gibt es frischen Zander, Wels, Lachs und Steinbeißer. Bis auf den Lachs könnten diese Fische Bewohner der Ruhr sein. - Entschuldigen Sie, stammen Sie aus der Ruhr?

Das 'Haus der evangelischen Kirche' ist bis zum Kragen mit Schiefer verschindelt und hat giftgrüne Fensterläden. Der Kirchturm der gegenüberliegenden Kirche ist fast so schief wie der Turm von Pisa. Hinter der Kirche sind ein paar Gräber. Hinrich Arnold liegt da, am 3. September 1744 gestorben. Wilhelmine Blumroth auch. 

Und aus diesen Häusern treten sie dekoriert, die Orden wechseln, aber sie liegen immer stolz auf der Brust, Orden von diesen und jenen  Herrschern, ich dachte an braunes Gebrüll, das sich in dieser von einer Stadtmauer geschützten, heimeligen ur-deutschen Stadt vielleicht besondern gut machte, damals, wer weiß.

Die Familie Hildebrand hat hier ihren Stammsitz, was zunächst nichts weiter sagt, wenn aber aus Hildebrand Hill wird, bin ich schnell bei dem ersten Supermarkt meiner Kindheit. Er war auf der Neustraße, die auch in meiner Stadt einmal Adolf Sie Wissen Schon Straße geheißen hat. 
Alkoholiker mögen nicht, dass man sieht, wie sie saufen. So lange es geht, wahren sie die Fassade. Und so steht dieser im Eingang des Mediterrano Internet-Cafés neben der Woolworth, steht mit dem Gesicht zur Wand, links durch vorspringende Mauern gedeckt, holt ein Fläschchen Magenbitter aus seiner Manteltasche und kippt den Inhalt in sich hinein. 


Liebe Freunde der Anarchie, Verfechter der Improvisationskunst, Steigbügelhalter des Proletariats, liebe Bulimisten, Nagelkauer und Pelzmantelträger, wie ihr wisst, musste Herr M. heute früh in den Ring, um vor Schülern einer Grundschule zu lesen. Weltweit per pay-tv übertragen brachte ihm das Einnahmen von satten 30 Millionen Dollar. - Nicht schlecht, oder?

Eh er aber einen Satz las, testete er die Fantasie seiner Zuhörer. Fragte, ob er ihnen in die Tasche greife dürfe. Er könne zaubern. Wenn er zustimmende Antwort bekam, griff er dem Angesprochenen in die Jackentasche und zog eine Hand Nichts heraus, das er stolz präsentierte. Aus diesem Nichts setzten die Kinder und er nach und nach die unverzichtbaren Zutaten eines Indianerlagers zusammen: ein Tipi, ein Lagerfeuer, ein Indianer, ein Pferd.
Das Feuer ließ er von einem Schüler anzünden, und erst, als das imaginierte Feuer loderte, das imaginierte Tipi auf dem Pult stand, der imaginierte Indianer in eine Decke gehüllt zum Horizont schaute und sein Pferd noch abseits stehend auf seinen Einsatz wartete, begann der große Verfechter all der oben genannten Künste und schlechten Angewohnheiten zu lesen.

Zuhörer waren Kinder 1ster und 3ter Klassen einer Grundschule in Hattingen. Und wie es so geht, nicht ein Kind gleicht dem anderen. Die erste Gruppe war zappelig. Meister M. musste Spiele einschieben und mit Trick 17 und 18 arbeiten. Die zweite Gruppe war erstaunlich anders. M. hat es sich schon lange zur Regel gemacht, die Regeln seines Auftritts im Vorfeld zu verkünden und einzufordern. Er sagt zum Beispiel, dass seine Zuhörer ihm das Reden für die nächsten 45 Minuten zu überlassen hätten. Was sie aber gern tun dürften, wäre die Augen zu schließen und zuzuhören. Nur schnarchen sollten sie nicht. Und was sieht M., als er zu lesen beginnt: gut die Hälfte aller Kinder sitzt da mit geschlossenen Augen. Wie schön! dachte M. und gab sich allergrößte Mühe. Und als er nachher so durch die Schule streifte und die an den Wänden hängenden Fotos von Kindern mit ihren Kuscheltieren sah, ging ihm auf, worum es sich in einem seiner nächsten Romane drehen könnte. Aber das behält er natürlich für sich.

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