Januar 2015                        www.hermann-mensing.de      

    

mensing literatur
 

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zum letzten eintrag


Do 1.01.15 16:14

Die Canadagänse liegen schwer in der Luft, jedenfalls sieht es so aus, aber sie fliegen, sie fliegen in kleiner Formation, sie schnattern, offenbar gibt es Gesprächsbedarf, dann lassen sich auf der Wiese hinter dem Rieselwärterhäuschen nieder. Rieselwärter, das wäre mal ein Beruf: die Wasserstände in den kleinen Kanälen regulieren, hier eine Schleuse öffnen, dort eine schließen. So etwas gab es einmal. Herr Mensing, was machen Sie eigentlich? Ich? - Ich bin Rieselwärter. Der Wind ist frisch, wir tanken Vitamin D., wir gehen herum. Das neue Jahr hat in der danteschen Hölle am Domplatz begonnen. Es war so laut, dass nicht einmal die Domglocken zu hören waren, laut, bunt und nicht ungefährlich. Wir saßen abseits und schauten zu. Jetzt ist es ein paar Stunden alt und schon gibt es Dinge, über die man nicht sprechen kann. Also schweigt man. Es war ein schöner Abend. Man hofft auf ein gutes Jahr. Schön, dass es immer etwas zu hoffen gibt. Auch schön, dass man schweigen darf.

18:49

Auch schön, dass ich heute bis kurz vor elf schlief. Normalerweise bin ich spätestens um acht auf den Beinen. Das also (das eine wie das andere) muss Gründe haben. Ich werde mit meinem Psychiater darüber sprechen. Schon seit 66 Jahren bin ich bei ihm in Behandlung. Mein Lieber, sage ich, wenn ich zu ihm komme, heute erklärst mir aber endlich mein Leben, einverstanden? Er lächelt müde, erhebt sich von seinem Stuhl, legt sich aufs Sofa, zieht sich eine Decke über, hält ein Atemloch frei und sagt: besser nicht.


Fr 2.01.15 11:31

Manche Nächte sind wunderbar. Gestern schien die Sonne, heute herrscht tiefes Grau, wenngleich Hoffnung am Himmel hängt. Vorletzte Nacht habe ich herrlich geschlafen. Letzte Nacht nicht. Gesund bin ich auch noch nicht wieder, aber ich mache Fortschritte. Seit Ausbruch dieser Bronchitis sind etwa vierzehn Tage vergangen. Ich habe sie mit Hustensaft, Bronchoforton, mit kalten Wickeln und Tee und schließlich mit dem Saft ausgekochter Zwiebel bekämpft, geholfen hat nichts wirklich. Man kann so etwas offenbar nur begleiten. Fieber hatte ich nie in den letzten zwei Wochen, deshalb war ich zuversichtlich, aber lästig war das schon, dieser tief sitzende Husten, an so einen Husten kann ich mich kaum erinnern.

Merkwürdiger Traum heute früh. Ich gehe über eine breite Straße, ein Platz vielleicht, den ich jetzt mit meiner Heimatstadt abgleiche, wenngleich es dort keinen solchen Platz gibt. Neben mir geht eine Frau in einem leichten, blauen Baumwollkleid. Ich glaube, dass es geblümt ist. Der Rock schwingt. Die Frau ist schlank. Wir gehen nebeneinander her. Plötzlich beugt sie sich zu mir und schiebt mir ihre Zunge in den Mund und ich schiebe meine in ihren. Das wirkt stark erotisierend. Der Merkwürdigste ist, dass es sich um die Frau eines Jugendfreundes handelt. Einer, mit dem ich ums Eck Fußball spielte. Die Frau und er waren schon ein Paar, als in der Concordia noch Beatbands spielten, die Swinging Blue Jeans, Casey Jones & The Governors oder die Liverbirds. Ich fand die Frau immer langweilig, wie ich auch den Freund langweilig fand und finde, aber die beiden gehören zu dem kleinen Repertoire von Menschen, die einen von Kindesbeinen auf gekannt haben und auf ein Leben lang mit seiner Heimatstadt verbinden. Und dann sowas.

12:33

sie sagen nichts
drehen sie sich
gut
bitte so bleiben
sagen sie danke
gut
stellen sie sich auf ein bein
hervorragend
und mit den armen schwingen
wunderbar ja
danke
und hüpfen
auf einem bein hüpfen
und mit den armen schwingen
sehen sie geht doch
und mit den augen rollen
zunge raus
gut so
das zweite bein auch noch heben
danke das war's


Sa 3.01.15 12:31

Der Mann geht über den Rasen vor den Häusern am Bohlweg. Er ist Mitte Dreißig. Wir gehen aufeinander zu. Ich auf dem Bürgersteig, unterwegs zum Aldi. Der Mann hat dunkles, zurückgekämmtes Haar. Er schaut mich an. Er lächelt. Ich nicke und sage Frohes Neues. Er bleibt stehen. Sein Steppanorak ist schmuddelig. In der linken Tasche steckt eine Flasche Rotwein. Ich wünsche auch alles Gute, sagt er und gibt mir die rechte Hand. Wir sind nicht getrennt, sagt er. Auch wenn wir Sünder sind. Stimmt, sage ich. Er sagt, dass er die Kraft mit mir teilt und legt seine linke Hand auf unsere beiden Hände. Auch wenn ich trinke, alles wird irgendwann besser.


So 4.01.15
20:15

Der erste Anruf kam gegen Mittag. Man sei unterwegs, Ankunft ca. 16:00 Uhr, ob ich etwas vorhabe. Nein. Könne ich ihn abholen? Ja. Gut. Ich melde mich später. Gegen 15:15 ging das Telefon erneut. Man sei im Landeanflug. 16:00 etwa, vorm Hauptbahnhof. Ist das okay? Ich nickte. Ich ging aufs Klo, ich zog mir Schuhe und Mantel an, ich ging zur Garage, programmierte das Navi, aber es funktionierte nicht. Ich fände auch ohne zum Hauptbahnhof. Statt der offiziellen Autobahnauffahrt leistete ich mir die Raststätte um die Ecke. Würde sicher etwas kosten, aber das Risiko trug ich gern. Entspanntes Rollen. Von der Autobahn noch knapp 10 Kilometer bis ins Zentrum der hässlichen Stadt, zum Bahnhof. Um 16:08 komme ich um die Ecke, und sehe ihn, wie er gerade aus dem Auto steigt, das sie und ihn aus dem Süden hergebracht hat. Ich schnalze mit der Zunge. Timing ist wundervoll.


Mo 5.01.14
23:28

als ich mich grad erinnern wollte,
so gegen mittag, kurz nach eins,
war es, als ich's vom schreibtisch holte,
schon lange nicht mehr meins.


9:50

Münster fühlt sich gut heute. 10000 waren unterwegs, um einer Selbstverständlichkeit Ausdruck zu verleihen. Wichtiger als dieses Zusammentreffen mit Kerzen und guten Worten aber ist ein Alltag, der Tür an Tür mit den gemeinten Menschen so solidarisch wie nur eben möglich funktioniert, aber da sieht es oft doch anders aus. Man lebt aneinander vorbei. Man kennt sich nicht. Ich bin bei großen Menschenansammlungen, die für einen unzweifelhaft guten Zweck zusammenkommen, zurückhaltend. Ich mag weder die Masse noch die großen Worte. Leider leben wir in einem Land, das sich von Anfang an mit einem stimmigen Einwanderungsgesetz schwer getan an. Man hatte Gründe, unter keinen Umständen wollte man auch nur den Anschein von Fremdenfeindlichkeit erwecken, man hätte Beispiele studieren können, die Gesetzgebung von Ländern, die als klassische Einwandererländer galten, aber das hat man verabsäumt. Man hätte klare Regeln von Anfang an gebraucht, lebte aber noch immer mit der Scham, die dieses Land nach Ende des 2. Weltkrieges geprägt hat und noch immer prägt. Nun steht man ratlos da und muss nachbessern, obwohl die, die unseren Schutz, unsere Soldiarität und Hilfe benötigen, längst da sind und manchmal auf Jahre vertröstet werden, eh der Apparat zu Entscheidungen fähig ist. Das ist das eigentliche Problem, glaube ich.

Di 6.01.15 20:46

Der tiefsitzende Husten ist abgeklungen. Stattdessen allgemeines Unwohlsein. Mattheit. Allerdings kein Fieber. Bestimmt gibt es Schöneres, als Tage auf dem Sofa liegend zu verbringen, aber diese Erkältung, die mich nun in der dritten Woche belästigt, lässt mir keine andere Wahl. Nachher werde ich sie mit warmem Bier bekämpfen. Ich habe nämlich die Nase voll. Komisch, dass ich mir jetzt, wo ich nicht mehr rauche, so eine bescheuerte Bronchitis einfange.

Drüben beim Nachbarn spielt die Weihnachtsdekoration verrückt. Eine Weile leuchten viele kleine Lichter, dann lässt eine elektronische Schaltung das Licht flackern, als wär jemand auf Speed, dann faden sie, um wie verrückt wieder aufzuglühen.


Mi 7.01.15 11:58

Die Hälfte dessen, was tatsächlich passiert, bildet man sich ein, und so ist es kein Wunder, dass ich einen Frühlingshimmel ahne.
Offenbar bin ich auf dem Wege der Besserung.


Do 8.01.15 22:07

Seit fast 34 Jahren spiele ich Schlagzeug. Allerdings gebe ich zu, ich spiele, ich übe nie. So ist es kein Wunder, dass ich den Single Stroke Roll nie hingekriegt habe. Ich kriege alles mögliche hin, ich bin auch kein schlechter Trommler, im Gegenteil, ich bin ein guter Trommler, und angenommen, ich hätte in den letzten 34 Jahren geübt, ich wäre eine Nummer, aber das wollten wir Herr M. und ich nicht, wir entschieden uns für das Wort. Aber da das Wort seit gut einem dreiviertel Jahr eher stagniert, entschlossen wir vor etwa fünf Tagen, jeden Tag etwa eine Stunde Schlagzeug zu spielen. Der Single Stroke Roll wird stündlich besser. Also, geht doch. Weitermachen.


Fr 9.01.15 18:18

Zum ersten Mal betritt man das Gebäude in Begleitung. Man kommentiert, man hört, was der andere denkt, man geht herum. Man ist sich einig: dieses Gebäude ist mehr als gelungen. Über die Kunst, die darin hängt, kann man vieles sagen, da reicht der Platz nicht. Vielleicht reicht, wenn man sagt, dass sie dort gut hängt. Und dass einiges dabei ist, was einem gefallen hat und anderes nicht, wie einem immer etwas ge- und missfällt.

Vier Wochen später betritt man das gleiche Gebäude allein. Jetzt macht es kaum Eindruck. Und auch die Kunst interessiert einen kaum. Man geht nur herum und fragt sich, wieso man allein herum geht, man war doch verabredet. Offenbar war in der Zwischenzeit etwas passiert, wie immer etwas passiert, wenn Mann und Frau sich verabreden. So vergeht ein Nachmittag in einem zeitlos schönen Gebäude recht fad und endet vor einer wagenradgroßen Pizza.


Sa 10.01.15 12:46

Alles schreit Grauenhaft Furchtbar Massaker. Dass aber wir täglich Einsätze fliegen, in Irak, in Syrien, dass wir töten und wieder töten, wird nicht so genannt. Und auch, dass es natürlich einen direkten Zusammenhang gibt, wird nur ungern und eher leise betont.


So 11.01.15 14:47

Wie jeder Unternehmer muss auch der Dichter einmal im Jahr Inventur machen, damit die Steuer weiß, wo noch etwas abzugreifen wäre. Bei mir ist nichts mehr zu holen. Mein Blatt ist ausgereizt. Dennoch weise ich mit Stolz darauf hin, dass ich in den vergangen dreißig Jahren 15 Romane, 12 Kurzgeschichten in Anthologien, einen Gedichtband, 9 Radioerzählungen, 13 Hörspiele, 3 Theaterstücke, 2 CDs und zehn Essays im Web veröffentlicht und 13 Romane geschrieben habe, die noch auf Verleger warten. Hinzu kommen etwa 450 Lesungen. Und - kann ich davon leben? Nein.

Nicht zu vergessen, zwei Kinder, mittlerweile drei Enkel.


15:02

stechendes licht
wind schiebt
blaues grau heran
gleich wird es regnen
und die lust auf bewegung vereiteln



Mo 12.01.15 10:44

Noch Restschnupfen, ansonsten scheint die Erkältung besiegt, ein hartnäckiges Ärgernis seit dem 18. Dezember. Ich hoffe, der Verzicht auf Antibiotika hat meinem Körper geholfen, eigene Abwehrkräfte zu entwickeln, damit er beim nächsten Mal besser gerüstet ist.
Um mein System wieder in Schwung zu bringen, werde ich gleich nach Münster laufen, ich muss in die Stadtbibliothek.

21:42

Was treibt einen Angler bei tristem Wetter an einen See, dessen Wasser so voller Nitrate und Rückstände aus der Landwirtschaft ist, dass er, falls er etwas fängt, es nicht essen sollte, was treibt ihn mutterseelenallein auf einen Campinghocker, gekleidet in regenfeste Hose und Jacke, halbschräg sitzend, die Beine übereinander geschlagen, keine Handbreit vom Ufer des vom vielen Regen angeschwollenen Sees, den Wind kriegt er von links, der Schwimmer hebt und senkt sich in den Wellen.


Di 13.01.1512:37

Wind pfeift übern Prinzipalmarkt, Schirmen verbiegt er Gestänge. Ich stehe an der Bushaltestelle. Mein Bus kommt in sieben Minuten. Gegenüber spielt eine Russenkapelle: großer, dreieckiger Bass auf spitzem, langen Dorn, Akkordeon, Klarinette. Hinter mir Passanten im Schutz der Arkaden. Im Fokus: Mann und Frau, Anfang Fünfzig, Modegeschäft Eingang. Sie: Du, ich schau da mal rein, Schatz, kommst du .... Er: Ach.... Sie ist schon verschwunden. Er murmelt. Er dreht sich ratlos. Besser wäre gewesen, mitzugehen, aber es macht ihm nun mal keinen Spaß. Es hat ihm noch nie Spaß gemacht, er versteht seine Frau nicht. Irgendetwas ist anders bei Frauen, was bloß, sie hat doch alles, wozu benötigt sie ständig neue Kleidung, aber jetzt ist es zu spät. Fünf bis fünfzehn Minuten dauert das, wenn er Glück hat. Also steht er da und langweilt sich. Ich überlege, ob ich mit ihm eine Grundsatzdiskussion unter Männern anzetteln soll, lasse es aber. Der Buss fährt vor, die Türen öffnen, es muffelt, die Welt ist feucht und voller Keime. Kein Wunder, dass ich meine Erkältung nur mühsam los werde. Dazu tägliche Temperaturwechsel, mal halbgarer Winter, mal zaghafter Frühling, dann wieder November. Das macht müde. Ich lasse mich auf einen Sitz sinken und lese Murakami. Eine junge Frau kann nicht schlafen.

19:54

Die ersten Lesungen für 2015 sind gebucht. Vorübergehende Mitbewohner für zwei Wochen ab 1. Februar avisiert. Das lässt sich gut an. Frage ist, können zwei israelische Choreographen, deren Zwillinge (ein halbe Jahr alt), eine Kinderfrau und ich auf 93 Quadratmetern leben? Wir werden sehen.


Mi 14.01.15 13:06

Neuer Tag, neue Geschichten. Die von gestern zählen nicht mehr. Israelische Choreographen hätte ich gern untergebracht, aber 6 Monate alte Zwillinge mit Kinderfrau? - Ich hab's überschlafen und meine Entscheidung zurückgezogen. Schade wegen der Miete, 800 Euro, auf die ich verzichte, aber jetzt, wo's entschieden ist, freue ich mich auf den ersten Februar, dann steht mir meine Wohnung wieder ganz allein zur Verfügung. Drüben beim Nachbar ahne ich schon die Winterlinge. Aber mehr als eine Ahnung ist das nicht. Auch die Meisen ahnen dann und wann was und machen pitüüt pitüüt.

18:23

Mein temporärer Mitbewohner hat mir Zugang zu seinem Netflix Account verschafft. Ich schaue mir Breaking Bad an, eine hochgerühmte amerikanische Serie. Ich las davon im Feuilleton, letztlich nichts weiter als eine clever gekochte Soap, wie wir sie damals im Pumpenhaus auch gemacht haben. Die Gesetze dafür sind weltweit die gleichen. Bringe deinen/deine Protagonisten in eine Situation, die Entscheidungen fordert. Immer geht es um den Kampf zwischen Gut und Böse. Es geht um Moral oder Verzicht auf Moral. Mit so einfachen Tricks kann man hundert Folgen drehen.


Do 15.01.15 13:43

Prächtigstes Wetter, das wird mir die Zuhörer heute abend in Scharen an die Eintrittskasse treiben. Ich werde um mein Leben lesen, und falls ich das tue, was ich mir immer vornehme, nämlich so langsam zu lesen, dass selbst ich verstehen kann, was ich geschrieben habe, kann dieses Unternehmen gut ausgehen. Dennoch garantiere ich für nichts. Aber ich freue mich auf Sie. Und auf Sie. Auf Sie auch. Aber ob ich Sie sehen will, weiß ich nicht. Sie tanzen immer so komisch. Und Sie riechen auch nicht gut.

15:54

Der Dichter braucht etwas zu essen, bevor er aufs Hochseil steigt, richtig? Und - soll er das etwa selbst zubereiten? Ihm bleibt wohl nichts anderes. Im nächsten Leben aber soll das alles anders werden.


Fr 16.01.15 11:43

Habe gestern vor aberhundert vornehmlich weiblichen, mir auf die ein oder andere Art bekannten Zuhörern gelesen. Die meisten waren zum Veranstaltungsort geschwommen, andere kamen mit dem Boot. Weitere aberhundert kriegten ihren Arsch trotz der hohen Qualität des Gelesenen nicht hoch. Ich hatte dennoch einen guten Abend und würde es glatt nochmal machen, allerdings gern bei besserem Wetter. So ein Riesenstadion ist einfach ungemütlich, wenn's Katzen und Hunde regnet. Ein wenig beunruhigt war ich zu Beginn, denn in Sichtweite saßen fünf Männer zwischen 50 und 60, die ich nicht kannte. Später stellte sich heraus, dass es ein Männerklub war, der einmal im Monat wahlweise Karten spielt oder Kultur konsumiert. Schade, ich hatte für Augenblicke gedacht, es handele sich ums Nobelkomitee.

19:56

Wir sind so gelassen im Augenblick. Wir wissen gar nicht, wieso. Aber wieso sollten wir das auch wissen müssen.


Sa 17.01.15 11:54

Schleierlicht, aber immerhin, Sonne. Ich könnte hinaus gehen, herum gehen, fort gehen, könnte aus- oder eingehen, könnte hierhin und dorthin gehen, keinesfalls fremd gehen, hochgehen oder im Wasser stehen, ich könnte mich umsehen, was absehen, mich umdrehen und meinen Mann stehen, stattdessen werde ich rumstehen, am Abend dann aufstehn und mich beim Tanz drehen.


So 18.01.15 13:44

Feinstes Tanzen. Gut aussehende Partnerinnen. Literweise Schweiß.


Mo 19.01.15 12:39

Manchmal schließen sich Kreise. Als ich gestern in eine Wohnung kam, für dessen Bewohner ich als Vorleser gebucht war, stellte ich fest, dass diese Wohnung genau gegenüber der Wohnung lag, in der ich mit meiner Frau 1978/80 gelebt hatte. Wir bewohnten einen kleinen Anbau zum Garten hin, mit einer Küche auf Höhe der Grasnarbe, eine Art Gartenhaus, wenn man so will, eines mit allen Freiheiten und Mäusen, eines, das man sich als Mieter, der unbehelligt sein will, nur wünschen kann. Unsere Vermieter war kunst- und kulturinteressiert, ihre Kinder waren Schauspieler und Musiker. Oft wurden Feste gefeiert, es wurde musiziert, getrunken, und es war laut. Schön war es dort, stadtnah, und der kleine verwunschene Garten war ein Paradies. Und natürlich waren wir jung.

Mein Kunde ist ein Mann meines Alters. Ab jetzt werde ich einmal pro Woche dort eine Stunde vorlesen. Er bat mich, mit "Die Stimmen von Marrakesch" von Canetti zu beginnen. Mir macht das Spaß, meinem Kunden gefällt es sehr, und die Bezahlung garantiert mir, dass ich mein Auto volltanken, oder die überregionale Tageszeitung weiterhin beziehen kann, alles Posten meiner monatlichen Rechnungen, die zur Disposition standen. Mein Kunde ist vermögend. Seine Wohnung hat weit über 200 Quadratmeter, alles ist für einen in seiner Bewegung eingeschränkten Menschen angepasst und umgebaut, bestes Material, Handarbeit wohin man schaut, und irgendwo ist immer eine polnische Hilfskraft, die 24 Stunden nach dem Patienten schaut. Manchmal steht sie auf dem Balkon und raucht.


Di 20.01.15
00:20

Manchmal ist alles schön. Dann kommt es vor, dass einer sagt, der Soundso habe gesagt, so, wie der Hermann Schlagzeug spielt, da steh ich drauf. Echt? Ja, das hat er gesagt, letztens. Ach, geil. Grüß ihn. Mach ich. Dann ist einer weg. Ich bin noch eine Weile im Klub. Als die Jungspunde anfangen, ihre Lieder zu spielen, fahre ich auch heim, fahre noch bei jemand vorbei, schau, ob jemand wach ist, aber jemand ist schon im Bett, und da will ich nicht reinschneien, das hab ich einmal gemacht, und das war nicht gut, also fahre ich heim und guck breaking bad und dann geh ich ins Bett. Vielleicht morgen, wer weiß.


13:13

Das ist ja autobiographisch, sagt jemand. Nein, sage ich, aber ich sage das nur, weil so oder so kaum jemand begreift, dass alles, was wir tun, autobiographisch ist, dass keine unserer
Äußerungen und Taten von unserem Leben abgekoppelt werden kann. Alles ist autobiographisch.

"Das ist aber autobiographisch", sagte jemand in der Domsingschule Aachen, an diesem etwas zu frischen Sommerabend im Innenhof, wo ich mir alle Mühe gegeben hatte, aus meinem Roman vorzulesen, "das ist aber autobiographisch". Ja, natürlich, was sollte es sonst sein, dumme Kuh? Geh und heul in deinen tuaregblauen Schal, aber lass mich in Frieden mit deinen Einwänden. Schmälert das die Qualität meiner Arbeit, den Grad seiner Ernsthaftigkeit? Soll das heißen, dass das gar kein Roman sein kann, wo doch das Leben, könnte es man es tatsächlich abbilden, der größte Roman aller Zeiten ist? Worüber sonst könnte man ernsthaft schreiben, als über das Leben? Ach ja - man darf das gar nicht ernst nehmen. Am Besten, man spricht nicht mit Lesern. Man möchte gar nicht wissen, wer sein Publikum ist. Am Besten, man hat so wenig Publikum wie möglich, dann hat man seine Ruhe. Bleibt nur zu klären, wie man mit dem Gefühl verletzter Eitelkeit umgeht, aber das kriegt man dann auch noch hin. Oder?

16:23

Liebe Dschihadisten,

sicher habt ihr verpennt, dass Allah, Gott, dass die hinduistischen Götter und was es sonst an himmlischen Herrschern gibt/gab und geben wird, nichts weiter sind als die Hirngespinste der noch im tiefen Dunkel der Vorzeit nach Sinn herum tappenden Menschen.

Dass ihr - hirnverbrannt wie ihr euch benehmt - Allahuh Akbar schreit, wenn ihr tötet, würde Gott (den es ja, wie berichtet, nicht gibt) zutiefst betrüben. Selbst die Idee Gott ist größer als ihr euch euren Allahuh Akbar ausmalen könnt.

Geht doch bitte nach Hause, kümmert euch um eure Familien, kümmert euch darum, dass eure in den Grundfesten verroteten Staatssysteme endlich den Arsch hochkriegen, kümmert euch um Soziales, vor allem um Bildung, und lasst bitte bitte diese dumme Geschrei und Geschieße, ihr seid ja nicht bei Trost. Nicht, dass ich euch das besonders übel nähme, nein, es verstehe es sogar, ihr seid verzweifelt und wir sind Schuld, aber glaubt mir, eines Tages werdet ihr euch dafür schämen. In diesem Sinne. Gott ist groß und Auge um Auge, Zahn um Zahn ist ein veraltetes Konzept.


Mi 21.01.15 18:13

noch schnell zum supermarkt
klopapier dann zum begräbnis
ein starkes getränk
ja immer noch weihnachtswhisky
begraben werden die die dran glauben
und nicht ohne die große illusion leben mögen
ganz profan heute hier
dankbar verabschieden wir uns
womwermaseenoppdatnichgeht
jetzt wo bald wieda frühling kommt
nehmwerdienächste
machmerdienächsteunglücklich

bleimwerallein


Do 22.01.1513:59

ein schneehimmel
kein schnee
ein autobus
keine gäste
drei mann geburtstag
keine party
ein mist
diese welt
ich mittendrin
als gaukler
kein hut
aber kaffee
kein gedicht
nur buchstaben
aneinander gereiht
mehr nicht


23:09

Vielleicht Breaking Bad noch zuende sehen, drei Staffeln, die müssten bis Ende Januar zu schaffen sein, dann ist der Zugang zu Netflix für mich nicht mehr möglich, mein Gast nimmt ihn mit und die Wohnung gehört wieder mir. Dann fange ich an.



Fr. 23.01.15 14:03

Einheitsgrau. Meine Katze schaut durchs Fenster hinein, aber ich mache nicht auf, ich sitze hier, brühe mir einen Kaffee und frage mich, wann das endlich vorbei ist mit dieser brutalen Erkältung. Bis jetzt habe ich noch nicht gehustet, aber das war in den letzten Tagen fast immer so. Schnupfen und Husten fingen immer erst am Nachmittag an, morgens hatte ich das Gefühl, ich sei gesund. Das hört auf, wenn's Wetter besser wird, sagte T. gestern, der Mann, dem ich einmal die Woche vorlese. Er ist Arzt. Hoffen wir, dass er recht hat. Also Kaffee und dann eine Runde spazieren gehen. Anschließend auf den Markt. Die Welt ist ein Geschenk. Arm sein kann jeder, reich sein muss man lernen, und ich lerne gerade, dass nichts zu tun noch schwieriger ist als reich sein.


So 25.01.15
20:26

Ein Junge und ein Mädchen schleifen Schlitten hinter sich her, aber weit und breit ist nicht die kleinste Erhöhung. Also fragen wir uns, ob sie zu einer unterwegs sind oder von einer kommen. Schließlich fragt M. das Mädchen, wo sie rodeln waren oder ob sie noch rodeln gehen. Das Mädchen sagt keinen Pieps. Wahrscheinlich haben seine Eltern ihm eingebläut, niemals
mit Fremden zu sprechen.


Mo 26.01.15 10:06

Jemand sagt, die Vögel machten schon wieder Rabbatz. Ich höre nichts. Ich sehe nur silbrig graue Tropfen an Ästen. Das sieht schön aus, täuscht aber über den Rest der Inszenierung hinweg. Der Regisseur will Tristesse. Er will, dass ich mit gesenktem Kopf einher gehe und jammere, aber da scheiß ich ihm was. Soll es noch so grau sein, ich mach' da nicht mit. Ich singe. Ich schaue mir die nächsten Folgen von Breaking Bad an. Viertel Staffel: Episode 10.

14:44

Ich habe keine Zeit. Ich muss das alles gucken. Ich muss wissen, wer wen um die Ecke bringt und wie. Ich weiß schon fast alles, und da will ich natürlich auch das Ende wissen, das mich, wenn ich nichts mehr überschlage und auslasse, ungefähr 45,3 Stunden meines Lebens gekostet haben wird. Kein Wunder, dass mich abgrundtiefe Unlust anspringt, wenn ich meinen letzten Roman aufschlage, um zu korrigieren. Korrigieren, schreit die Schere im Kopf. Wozu denn? Alles Mist. Wegschmeißen. Nicht hinsehen. Vergessen. Du bist jetzt Rentner. Feierabend, kapiert?

23:29

halber mond
in silbergrauem bett
bei nacht
heute bewohnt
von meister m.
er lacht


Di 27.01.15
12:19

Eh Herr M. heute nachmittag wieder als Vorleser agiert, legt er sich noch ein Stündchen hin. Das wird ihm gut tun.



Mi 28.01.15 10:19

Als wir damals hier einzogen, zwei Erwachsene, ein Kind, eine Zukunft, gab es einen vernachlässigten Sandkasten hinterm Haus. Wir haben ihn im Laufe der Zeit schöner gemacht, dort wurde Schlachten geschlagen und Löcher zum Mittelpunkt der Erde gegraben. Heute früh hörte ich Stimmen im Garten. Ich schaute hinaus und sah, dass man die hölzerne Einfassung des Sandkastens heraus riss und den Sandkasten mit Mutterboden zuschüttete. Das Ende kommt näher.


Do 29.01.15 1:07

ich schließe aus
dass dies ein gedicht wird
dies ist ein text nach dem tanz
kein text vor dem sex
drogen sind nicht involviert
es ist nacht
die meisten schlafen
ich gehe auch gleich ins bett
dachte aber
ich schreibe noch einen text
der kein gedicht wird
nur ein text nach dem tanz
vor dem sex
drogen sind involviert
es ist nacht
die meisten schlafen
ich nicht
ich dachte
ich schreibe jetzt ein gedicht
für den tanz und den sex
und das gute heimische gras
schließlich ist nacht
die meisten schlafen
nur ich nicht
ich dachte

12:28

Bedeutet, dass ich bis jetzt nicht gehustet habe, Genesung? Schön wäre das, aber ich war noch nicht draußen. Oft war es in der letzten Woche nämlich so, dass der Husten erst anfing, wenn ich nach draußen kam. Aber irgendwann muss das ja vorbei sein, irgendwann ist es verdammt nochmal genug. Als ich gestern hoch oben auf dem Wehrturm der Burg Bentheim stand und der Wind pfiff, dachte ich, das hört nie wieder auf. Ich war mit meinem chilenischen Untermieter dorthin gefahren. Die Burg Bentheim ist die Burg meiner Kindheit und ich dachte, sie könne ihm auch gefallen. Er war begeistert.

Gesten abend beim Tanzen dachte ich, jetzt pruste ich mir den letzten Rotz aus den Lungen. So fühlte sich das an, es wäre also nur logisch, wenn ich heute gesund wäre und es dabei bliebe. Es ist nämlich schön, gesund zu sein. Vor allem, wenn ein Husten so lange gedauert hat. Er hat ganz oben im Hals mit einem leichten Kratzen begonnen, dann hing er plötzlich fast überm Zwerchfell, so dass ich Muskelkater bekam, abzuhusten, und von dort unten ist er ganz langsam wieder nach oben gewandert. Sechs Wochen lang. Mein Ex-Zahnarzt, den ich letzte Woche traf, riet, ich solle auf den Auswurf achten. Wie der denn aussähe? Normal, sagte ich, nichts außergewöhnliches. Gut, sagte er. Fieber? Nein, nie. Hmmm, sowas dauert halt manchmal, sagte er, und als ich ihm sagte, dass ich seit fünf Monaten nicht mehr rauche, meinte er, das Immunsystem müsse sich neu konfigurieren, das könne schon sein. Also, was jetzt, noch immer nicht gehustet. Bin ich gesund?

14:45

Einmal kurz, aber nur, um auszutesten, ob es tatsächlich besser ist. Allerdings noch nicht draußen gewesen. Schneegriesel, warum auch, das braucht niemand. Allerdings muss ich noch einkaufen. Hilft nichts.



Fr 30.01.15
10:10

Schnee fällt auf unsere verwahrlosten Seelen. Wir verhalten uns ruhig. Wir ruhen, um zu gesunden. Wir sehnen uns nach dem Frühling.

16:24

Hände weg von Doktor Google. Sie stoßen dort auf Krankheiten, von denen Sie lieber nichts wissen wollen. Selbst, wenn Sie, wie ich, so simple Dinge wie einen über Gebühr lang andauernden Husten googlen, steht da plötzlich Bronchialkarzinom. Nach so etwas schläft man schlecht, und eh man sich erholt hat, ist die Nacht vorüber. Schnee liegt und man geht nun doch zum Arzt, der genau das verschreibt, was man hatte vermeiden wollen, eine Drei-Tage-Antibiotika-Kur. Die ganze Welt sei krank, erfährt man, alle klagten, dass sie ihren Husten nicht los würden, das beruhigt, aber wie gesagt, Hände weg.


Sa 31.01.14
10:08

Ab heute lebe ich wieder allein. Mein Untermieter zieht nach Gremmendorf. Der Abschied von ihm fällt mir nicht leicht. Ich mochte ihn sehr, freue mich andererseits aber kindisch auf mein Zen-Zimmer, das ich ihm überlassen hatte und ab sofort wieder für mich in Beschlag nehme.
Dort werde ich diagonal schlafen, werde meine Arme links und rechts ausstrecken können und die Beine spreizen, ohne Gefahr zu laufen, von der Matratze zu rollen.

Das Antibiotikum wirkt. Noch spüre ich eine ferne Erinnerung an den Husten, aber es scheint, die Chemie siegt. Was für wunderbare Erfindungen wir Menschen hinkriegen, wenn wir nur wollen. Was wir alles tun können. Wenn wir jetzt noch vieles von dem, was wir tun können, sein ließen, wäre es noch besser.

16:42

wir haben welt,
bürger haben wir auch,
wir haben köpfe
und die schönen gedanken
wir besitzen allerlei unsinn,
von dem wir uns gerne trennten,
wäre wir halbwegs bei sinnen.

16:44

Der Dichter M., sich intensivst auf den Frühling vorbereitend...