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Mi 1.01.2020 00:25

Silvester allein. Niemand, dem ich Rechenschaft schuldig war, keine Party, nicht einmal ein fernes Sehnen nach etwas, das mir den Abend versüßen sollte. Ich ließ die Stunden gehen, gegen Mitternacht spielte ich Birdland auf dem Klavier une ging schlafen.


Do 2.01.2020 11:36 Rauhreif, könnte Schnee geben

ich bin im beten eine koryphäe,
ich bete alles kurz und klein,
und käme gott in meine nähe,
müsste es schon der linke sein.

den rechten ließe ich links liegen,
den großen machte ich mir handgerecht,
den dicken mit den hörnern ließ ich fliegen,
den mit den vielen armen macht ich mir zum knecht.

derweil, als koryphäe immer unterwegs,
hätt' ich schon stunden zugebracht,
mit murmeln, mit kaffee und keks,
meist ohne frau, oft in der nacht.

wofür, fragt sich der eine oder andere beim wein,
macht sich die koryphäe solche mühe,
tja nun, sag ich, ich arbeite bei kerzenschein
seit jahren schon an einer transzendenten brühe.


18:44

Steingrauer Himmel, Rauhreif, der, wenn genügend Licht wäre, reizvoll sein könnte, Enkel, die das Konzept des Zeitschenkens nicht begreifen, aber einen Schokoriegel mit appliziertem Schein jubelnd mit Danke Danke begrüßen, da steht Trotzki in seiner Rolle als Großvater, der Zeit schenkt, wie ein Trottel im Raum, Trotzki, dieser literarische Tausendsassa, der Enkel liebt, aber nichts machen kann. Im Übrigen friert er, obwohl er warm angezogen ist. Ein Freund aus Hamburg, der in Rameshwaran ein Strandhaus besitzt, rät, er solle doch kommen, statt sich im Auftaktspurt des neuen Jahres eine Erkältung einzufangen, während M. im Turm Ost Stock 13 des UKM ihre Lugenentzündung kuriert. Dieses Klinikum ist ein der Genesung abträgliches Monster. Über das Essen dürfe man gar nicht erst nachdenken, seufzt M., und obwohl Trotzki weiß, dass M. etepetete ist, weiß er auch, dass es besser wäre, das Essen aus dem Fenster zu werfen, die aber lassen sich nicht öffnen, weil die Architekten schon damals befürchteten, Patienten würden sich andernfalls wie die Lemminge in die Tiefe stürzen. Licht, mehr Licht, waren Goethes letzte Worte. Mehr Licht also, es geht aufwärts, und alles ist schön.


Fr. 3.01.20 18:45 Rägenrägenrägen

Monate früher als in den Jahren zuvor habe ich mich an die Steuererklärung gemacht. Irgendetwas ist in mich gefahren. Läuft mir die Zeit davon? Nein, das glaube ich nicht. Was aber, wenn doch, wenn ich gleich stürbe, müsste ich dann auch noch Steuern zahlen? Egal. Ich tu's, weil es unangenehm ist und ich es aus dem Weg haben will.

2019 war ich Kutscher und Museumsführer, ich bin Dichter, es geht also um Lohn- und um Einkommenssteuer, ich erhalte Rente aus drei verschiedenen Töpfen, ich zahle nach wie vor in die Künstlersozialkasse ein, um meine Rente in astronomische Höhen zu treiben, das alles, sehr verehrtes Publikum, meine Damen und Herren, will berücksichtigt werden, und da ich die Sprache der Deutschen Finanzbehörden nicht verstehen will und kann, ist es kein Wunder, dass mich schon im Vorfeld das Würgen ankam. Es hält immer noch an. Aber das Zusammentragen der nötigen Daten, das Addieren und Subtrahieren ist getan, morgen wende ich mich der Herkulesaufgabe zu, und fülle das Steuerformular plus Anlage R aus.

22:33

Und, bereust du es?
Nein.
Wirklich nicht?
Nein, was willst du denn hören?
Irgendetwas. Dass du Tango hasst, zum Beispiel.
Das musst du gerade sagen.
Hast du dich also abgemeldet?
Ja, zum Quartalsende gekündigt.
Und?
Jetzt können sie mir den Buckel runterrutschen.


Sa 4.01.20 11:29 steingrau

Seit letzten Samstag habe ich jeden Tag ein bis zwei Stunden im UKM zugebracht, heute pausiere ich. Heute starre ich die Decke an. Heute ist nirgendwo Text, heute ist blankes Entsetzen, Menschen im Schutz von Schirmen, Sternsinger, die mit Kreide Signaturen an Häuser kritzeln, ich niese, ich huste, ich schaue den Vögeln zu und verhalte mich still. Ich bin entsetzlich wirkungslos.


So.5.01.20 7:15

Kaum ein erleuchtetes Fenster im Rund, halbgar erkältet, und man weiß nicht recht, will man sterben oder nur jammern, ist man vielleicht längst tot, und hat es nicht bemerkt, weil man vorgestern in der SZ las, dass die Physiker, die sich mit der Entstehung des Universums befassen und verschiedenste Theoriemodelle hinsichtlich seines Ursprunges, seiner Form, seiner Ausdehnung etc. errechnen, nicht ausschließen wollen und können, dass es Parallelwelten gibt. In einer dieser Parallelwelten säße ich a: quietschfidel, in einer anderen b: stänke ich schon, in wieder einer, c:, möglich, dass es diese ist, diese verrottete, verfluchte, durch Gier und menschlichen Wahn gezeichnete Variante vieler möglicher Welten, hätte ich Kaffee, kalte Füße, ich müsste kacken, könnte es aber noch aufschieben, ich legte mich gleich wieder hin, und wenn ich wieder aufstünde, müsste es eine andere Welt sein, eine quietschfidele, denn in meinem Herzen bin ich quietschfidel. Also, liebe Physiker, rechnet weiter. Ich lege mich nochmal hin.


9:20

Erhabenes Grau. Man möchte es fotografieren, fürchtet aber, dabei zu ertrinken.

22:45

Das Geschäft heißt Showgeschäft und schließt alle Arten der Unterhaltungskunst ein, einschließlich der Dichtkunst, der eitelsten aller Huren. Jeder, der mit ihr zu tun hat, wird bestätigen, dass man sie sich nicht aussuchen kann wie auf dem Strich. Sie ist auch nicht mit Geld zu besänftigen, sondern fordert die Seele des Kunden. Seltsam, werden Sie sagen, das ist doch das letzte, was Huren wollen.

Stimmt. Aber ein Dichter kann sich seine Hure nicht aussuchen. Dumm, denkt er und kratzt sich am Sack, der ungenutzt rumhängt. Während andere Künste zumindest mit Geld honoriert werden, kann ein Dichter schon froh sein, wenn er dann und wann Einkünfte hat, die eine Steuererklärung rechtfertigen, weshalb er voller Hoffnung bleibt und das Dichten nicht aufgibt. Im Gegenteil, je aussichtsloser die Lage, desto eher ist der Dichter geneigt, zu produzieren. Und so ist es im Unterhaltungschäft von Vorteil, wenn man ihn möglichst knapp hält.

Mit diesen erheiternden Worte schicke ich Sie in die Nacht, denn morgen sind die Feiertagen vorbei. Dann ist wieder Krieg und Klima und alles andere, die Kinder müssen in die Kita und die Schule, Sie müssen wieder ran und der Dichter auch.


Mo 6.01.20 18:25 ab Mittag war es überwiegend sonnig

Aufzüge befördern Menschen von unten nach oben und umgekehrt. Sie sollten gut aufgehängt sein, denn wenn sie runterfielen, wäre das nicht schön. Naturgemäß verkehren sie in Gebäuden mit mehreren Stockwerken für Menschen, die zu faul, zu alt oder zu siech sind, um Treppen zu steigen, unabhängig vom Lebensalter. Sie verkehren auf Knopfdruck. Ist also ein Aufzug unten, und oben drückt jemand, sollte es nicht allzu lange dauern, bis der Aufzug oben ankommt. Umgekehrt ist es genauso, denn ein Aufzug, der nur in eine Richtung führe, wäre ja Blödsinn, da könnte man besser Treppen springen. . Der Aufzug, mit dem ich in den letzten Tagen häufiger fahren musste, fährt aus den Tiefen eines dreistöckigen Kellers über die O-Ebene (Ebene4) bis in den 19 Stock. Gute sechzig Höhenmeter legt er zurück.

Obwohl drei nebeneinander verkehren, kann man nicht einfach in jeden einsteigen. Jeder Passagier muss auf einem computergesteuerten Terminal seine gewünschte Ebene drücken und wird zugewiesen. Um, wie ich, auf die Ebene 13 zu gelangen, wies mir das Terminal mehrfach den Aufzug C, einmal aber auch D und B zu. Flexibel, dachte ich zunächst, aber jedesmal musste ich warten. Einmal wartete ich mit der im Rollstuhl sitzenden Praktikantin fünfzehn Minuten. Als ich im Aufzug mit anderen Passagieren sprach, sagte eine Frau, sie habe schon einmal 25 Minuten warten müssen, und die Ärzte, die tagein tagaus von diesem zu jenem Stockwerk eilten, wären längst dazu übergegangen, Wege zu Fuß zurückzulegen. Aber man repariere die Aufzüge doch gerade, deshalb seien sie so unzuverlässig, warf ich ein, das hatte ich auf Aushängen gelesen. Seit Jahren, ja. Es erklang verzweifelt frohes, hämisches Lachen.

Gestern verwies mich das Terminal auf den Aufzug D, erklärte aber gleichzeitig, dass dieser im Augenblick überlastet sei. Vor den drei Aufzügen warteten etwa dreißig Menschen. Ich beschloss, mir etwas Gutes zu tun, und sprintete durch das Treppenhaus in den 13. Stock. Das war einfacher als gedacht. Natürlich war ich außer Atem, als ich oben ankam, aber ich fühlte mich wunderbar.

Ansonsten ist das 1983 eröffnete UKM ein liebloser, Depressionen geradezu herausfordernder Bau. In medizinischer Hinsicht sei es hervorragend, heißt es, aber das kann ich nicht beurteilen. Und noch etwas ist mir aufgefallen: wo sind eigentlich die Pflegekräfte über 40 Jahre? Ich habe nur Menschen in den Zwanzigern und Dreißigern gesehen. Ob die älteren sich in die Aufzugschächte gestürzt haben? Heult es in den Treppenhäusern deshalb so unheimlich?


Di 7.01.20 19:03

Die Praktikantin ist zurück. Ich habe ihr in der Küche eine Schlafecke zurechtgemacht, mehr benötigt sie nicht. Sie ist ein Mädchen aus dem nördlichen Ruhrgebiet, hat ihre Kindheit auf einem Bauernhof verbracht, Jürgen Drews wohnt gleich um die Ecke, wen wundert es da, dass soe zum einem von ihm, zum anderen von den Geschichten ihrer Vorfahren traumatisiert, denn ihre Oma hatte, selbst noch ein pubertierendes Mädchen, ein verstorbenes Geschwisterkind im Koffer von R. nach M. transportiert. Andere Zeiten waren das, die Menschen waren einander zugewandt und pragmatischen Lösungen näher. Jetzt, wie gesagt, ist sie wieder hier, kocht, putzt und wäscht für mich, wenngleich ich sie natürlich schone, ich will ja noch länger etwas von ihr haben. Heute früh habe ich ein Auto gemietet, habe es gleich neben dem Klinikausgang geparkt, bin ins dreizehnte Stockwerk gespurtet, habe ihre Tasche und sonstigen Requisiten nach unten gebracht, ins Auto geladen und bin mit ihr heimgefahren. Sie ist mir sehr dankbar und möchte mich heiraten, aber ich heirate nicht noch einmal. Jetzt ist Abend und ich höre sie in ihrer Schlafecke Lieder singen. Morgen früh wird sie mir Frühstück ans Bett bringen.


Mi 8.01.20 17:20 Sprühregen

Jetzt, wo die Praktikantin wieder auf ihren Gehhilfen herumsaust und mir jeden Wunsch von den Augen abliest, ist mein Leben unerhört leicht. Ich wäre geneigt, allen zu vergeben, aber so weit käme das noch. Da wäre ich womöglich doch Christ, was Gott verhüten möge, denn wir haben eigene Absprachen hinsichtlich unseres lebensfrohen Grundtones, den anzustimmen aber nicht immer leicht ist. Sie sollten sehen, wie sie springt, wie ihre Gehhilfen knarzen und knarren, aber das macht ihr nichts, sie singt die Lieder der Traumatisierten aus dem Radio, dazu feiner Sprühregen, der sanft auf der Haut ist, recht mild, jetzt schon schwarze Nacht, die ich vielleicht später mit in wenig Salsa färbe.


Do 9.01.20 18:45

Man kann dieses Grau erhaben nennen.
Man kann versuchen, es durch ununterbrochene Arbeit zu übersehen. Man kann versuchen, sich mit ihm gut zu stellen, was nicht einfach ist, aber ununterbrochene Arbeit ist auch nicht einfach, gar nichts ist einfach.
I never promised you a rose garden, hieß die hookline eines amerikanischen Liedes, und wir, die durch den amerikanischen Imperialismus Geschädigten, hatten verstanden.
Der Kapitalismus ist gut für uns, wenn wir gut zu ihm sind.
Was sonst haben wir heute geleistet?
Wir habe eine Webseite gebaut.
www.dorfschreiber.com
zwei Klicks für die Navigation,
damit die Doofen sich nicht verlaufen,
die Domain geht demnächst online.
Ansonsten wieder gehadert.
Womit?
Woher sollen wir das wissen?
Warum?
Darum.
Ist denn nicht alles gut, wie es immer heißt?
Türlich, alles supersupergut.


Fr 10.01.20 9:45

Während die Ärzte kurz nach 18 Uhr erste, vage Annahmen formulieren, warte ich im Aufenthaltsraum um die Ecke, in dem ein Vater mit seiner Tochter und zwei Frauen sitzen. Eine hat Oberarme wie ein Gewichtheber, wenn auch nicht muskulös, breite Schultern, Riesenbusen, alles an ihr ist konkav, sie ist schwarz gekleidet, um die vierzig und trägt das ebenso schwarze Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Die andere ist drahtig, blond, Jeans, heller Pullover, Cowboystiefel, hat ein sehr freundliches, offenes Gesicht, blaue Augen und eine von Nikotin gezeichnete Haut. Die beiden nehmen sich ab und an in den Arm oder küssen sich. Gegenüber ist ein Checkin-Schalter. Dahinter ein Mann mit dunkel umrandeten, tief liegenden Augen, kaum 30, ein Black Sabbath Fan, und eine Mittvierzigerin, Profi, die Krankenakten liest. Der junge Mann isst einen Hamburger und trinkt aus einer blauen, schlanken Dose. Eh ich durch Zufall erfahre, dass die Praktikantin längst versorgt ist, werden vier Stunden vergehen, während sie derweil glaubtl, man habe mir ihre Nachricht überbracht, ich bräuchte nicht länger warten. A
ls ich vier Stunden später in die Notaufnahme gehe, um mal nachzufragen, finde ich sie im Bett, versorgt, und darauf wartend, auf eine Station gebracht zu werden.

In diesen vier Stunden tauchten drei junge Türken auf, die einen alten Mann, ihren Vater, nehme ich an, fürsorglich unter den Armen stützend hereinführen. Wenig später kamen drei Afrikaner, eine Mutter mit Tochter und Sohn, die oft und laut lachten. Vier junge Männer brachten eine junge Frau, die nach einer kurzen Untersuchung ratlos mit einem kaum gefüllten Urinbecher zurückkam und nicht wusste, wohin damit, und dann kam noch ein alter Mann, begleitet von einem besorgten Sohn.

Unter der Decke hängt ein Flachbildschirm, Ntv zeigt in Endlosschleifen modernstes Kriegsgerät in digital animierten Posen, der Kaffeeautomat darunter funktioniert nicht, aber es gibt frisches Wasser. Wann wer aufgerufen wird, entzieht sich allgemeiner Kenntnis, man hat keine Nummer, man wartet und wartet. Irgendwann spricht man mit dem oder dem. Das gleichgeschlechtliche Paar wartet seit 15:00 Uhr. Als ich mich auf den Heimweg mache, ist es 23:15. Ein Bus fährt mir vor der Nase weg, den nächsten erreiche ich an der Diekmannstraße.

16:38

Geplant war ein Stadtwochenende in der Wohnung der Praktikantin, wir wollten um die Häuser ziehen, stattdessen liege ich auf dem Sofa, schniefe und huste. Kein Fieber, nichts Ernstes, aber auch nichts, um damit um die Häuser zu ziehen.


Sa 11.01.20 14:30 sonnig

Ich sollte vor die Tür gehen, bin aber zu faul. Es ist schön, faul zu sein.


So 12.01.20 21:21

Natürlich ist es nicht einfach, faul zu sein. Die meisten tun ständig etwas, ich auch. Deshalb ist es um so schöner, wenn man tatsächlich faul ist. Schön wäre auch, man könnte seinen Herzfrequenz von 80, 90 auf 50 herunterfahren. Heute war ich nicht faul. Ich war mit einem meiner Enkel im Figurentheater Stella. Die Geschichte von Petterson, Findus und dem Hahn wird lieblos und ohne Inspiration erzählt, zum Schluss kommt noch ein pädagogischer Aufruf, einander zu lieben, tatsächlich, sie sagen es auch, ich liebe dich, ich liebe dich auch, es ist zum Heulen.


Mo 13.01.20 12:20

Die Praktikantin ist zurück in ihr Land gefahren. Dort herrschen andere Gesetze. Zum Glück habe ich ein permanentes Visum, kann also jederzeit einreisen. Die Wohnung der Praktikantin ist sehr sehr klein, wie häufig in Dritteweltländern, es gibt zwar ein Bad, aber dort hängen Fotos, die ich nicht gern sehe, es gibt auch ein Internet, es gibt zwei kleine Zimmer und eine Küche, aber während hier die Ruhe des flachen Landes herrscht, herrscht dort die Hektik der Stadt. Mal sehn, wie ich mit der neuen Situation umgehe.


Di 14.01.20 15:41

Vor zwanzig Jahren habe ich meine Webseite online gestellt. Damals hatte ich kaum Ahnung von Tuten und Blasen, aber mit Dreamweavers Hilfe habe ich die Seite und ihre Navigation auf eine Art geregelt, mit der ich bei allen Standards, die heute gelten und die meine Seite nicht erfüllt, noch immer mehr als zufrieden bin. Man navigiert unkompliziert durch die verschiedenen Ebenen und von dort wieder zurück.

Vor ein paar Tagen habe ich mir eine Domain www.dorfschreiber.com gekauft, und begonnen, sie einzurichten. Möglichst einfach sollte sie sein, kein One-Pager, aber auch nicht so komplex wie www.hermann-mensing.de. Die Startseite einer Webpräsens heißt immer index.html oder index.htm. Die Dorfschreiberstartseite nannte ich indexdorfschreiber, wahrscheinlich, weil ich dachte, ich hab' ja schon eine index.htm, davon muss sich die zweite absetzen. Als nun alles programmiert war, und ich den Kontent nach einigem Hin- und Her, nach Nachfragen beim Support meines Servers, der übrigens hervorragend ist, schnell, freundlich, kompetent, hochgeladen hatte, erhielt ich, wenn ich Dorfschreiber.com eingab, die Meldung, die Seite befände sich noch im Aufbau, es sein noch kein Inhalt hinterlegt. Das war in der Logik des Html folgerichtig, ich aber verstand das nicht, und erst, als der Support mir sagte, der Server könne meine Webseite nur darstellen, wenn die Startseite index.html heiße, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Natürlich. Meine hieß indexdorschreiber. Ich änderte also entsprechend und wer will, kann mich als Dorfschreiber schon besuchen, wenngleich die Arbeit dort erst am 15. April 2020 beginnt.


Mi 15.01.20 15:17 meistenteils sonnig

Der Mann an der Bushaltestelle war Bergmann, hat Kinder und Brüder, er kommt aus Gelsenkirchen, lebt jetzt hier, trinkt, hat Hautkrebs am Kopf und kaum Zähne, trägt eine Schalkemütze und ein Hakenkreuz auf dem rechten Oberarm. Er sagt, die Reichen würde solche wie ihn verachten. Er hätte eh keine Schnitte. Hast du dir deshalb ein Hakenkreuz auf den Arm stechen lassen? frage ich. Du bist doch kein Nazi, oder? Hatten wir alle, sagt er, und meint wohl, damals, in Gelsenkirchen, aber warum er es trägt, weiß er, glaube ich, selbst nicht. Ich bezweifle sogar, dass er auch nur halbwegs ahnt, was es mit dem Hakenkreuz auf sich hat. Klar, sagt er, die Neonazis, die gucken manchmal doof, aber mehr sagt und weiß er nicht, oder will er nicht wissen, und dann erzählt er noch, dass er jetzt doch erbt, und ich sage, dann kannst du dir das Hakenkreuz ja weglasern lassen.

In der Stadt gibt es ein Modegeschäft, das blutsgeschwister heißt. Wenn ich dort vorbei gehe, frage ich mich, wie man auf so einen Namen kommt. Gestern stand eine Verkäuferin vor der Tür und rauchte. Sie war Mitte fünfzig, ganz im Stil der blutsgeschwister gekleidet, und ich fragte sie, was es mit dem Namen eigentlich auf sich habe, und ob sie nicht auch fände, dass blutsgeschwister zum einen doppelt gemoppelt sei, weil Geschwister immer Blutsgeschwister seien, und zum anderen so einen unangenehmen, braunen Geschmack habe? Nein, sagt sie, das fände sie nicht, darüber hätte sie auch noch nie nachgedacht. Kein Problem, sagte ich, ich kenne nur eine ganze Reihe Menschen, die das ähnlich sehen. Interessant sagte sie und erklärte dann, wieso der Laden heißt wie er heißt, gegründet von Schwestern, die sich irgendwann zerstritten, dann kam ein Mann ins Spiel, seitdem heiße er so. Sie wähle übrigens links.


Do 16.01.20 10:40 sonnig und kalt

Ich folgte gestern Abend dem Navi, das, obwohl es so klein ist und älter als 10 Jahre, deutlich schneller reagiert als die Navis in Mietwagen, die häufig, wenn ich gegen das Navi gerichtete Entscheidungen treffe, fordern, ich solle umkehren oder sehr lange rechnen, eh sie die von mir bevorzugte Strecke akzeptieren. Mein Navi, das ich nur nutze, wenn ich zu Lesungen fahren muss, oder, wie gestern, bei Nacht und Regen in den Außenbezirk einer kleinen Stadt, ist deutlich flexibler. Innerhalb von Sekunden rechnet es neu, vielleicht versucht es noch zwei, dreimal seinen ursprünglichen Streckenverlauf durchzusetzen, aber dann sieht es ein, dass ich eine Wahl getroffen habe. Vor Ort gestern habe ich mich ihm ganz anvertraut, obwohl ich eine andere Idee hatte, es ging links und rechts, geradeaus und wieder links rechts, und sagt es, Sie haben ihr Ziel erreicht. Zweite Planungssitzung für meine Zeit als Dorfschreiber in Everswinkel. Ein kleinen Haus am äußersten Dorfrand, danach nur noch Wiesen, ein großer Tisch, der gedeckt war, Wein aus dem Keller, von dem ich leider nur wenig trinken durfte, ein Wirsingauflauf mit Kartoffeln, Käse, mit Muskat, Salz, Pfeffer und einem Schluck Pernod verfeinert, vom Hausherrn gekocht, der auch zum Kulturkreis gehört und sich schon darauf freut, mal mit jemandem (also mit mir) eine Flasche aufmachen zu können. Nach zwei Stunden waren alle Termine besprochen und ich fuhr heim. Deutlich beschwingt. Es geht voran.


So 19.01.20 12:15 frisch, wechselnd bewölkt

Meine Vögel haben das Gras, das vor drei oder vier Tagen plötzlich aus in den Ritzen zwischen den Balkonplatten zu sprießen begann, ausgezupft. Was sie damit bezwecken, weiß ich nicht, gefressen haben sie es jedenfalls nicht, es liegt auf den Platten und ich werde es wegfegen, aber mit dem Auszupfen haben sie mir Arbeit abgenommen. Sie sind seit gut zehn Wochen meine Gäste. Jeden Tag streue ich Futter aus, morgens und am frühen Nachmittag, je nachdem, wie viele Vögel kommen. Es sind immer dieselben, wahrscheinlich sogar die gleichen, wenngleich ich sie nicht auseinanderhalten kann. Sperlinge, dann und wann eine Heckenbraunelle, Amseln, Hähne und Hennen, und natürlich Else, das Rotkehlchen, das ich an einer weißen Feder am linken Flügel erkenne, ein zweites Rotkehlchen, zahllose Kohl- und Blaumeisen, und seit gut vierzehn Tagen auch Tauben, die ich fern zu halten versuche, sie sind groß genug, die brauchen das, glaube ich, nicht. Die Spatzen tauchen immer als Gruppe auf. Sie sitzen in den Forsythien rings um den Balkon, sie scheinen miteinander zu kommunizieren, einer wagt sich auf die Balkonbrüstung, hockt da, schaut hierhin und dorthin, und dann ist der Tisch, auf dem der Futterteller steht, plötzlich voller Vögel. Wenn ich eine unbedacht schnelle Bewegung mache, sind alle auf und davon, aber ich bilde mir, dass sie langsam begreifen, dass von mir keine Gefahr ausgeht. Am liebsten wäre mir, wenn sie auf Zuruf kämen, das wäre schön.


Mo 20.01.20 14:57 bewölkt, recht kalt

Jetzt habe ich die letzten fünf Jahre nach Gedichten durchsucht, einige gefunden, die werden ich gegen den Strich gebürsten, ausgeschütteln, waschen, frisieren, rasieren, und wenn ich damit fertig bin, an den Verleger schicken.


Di 21.01.20 17:10 wolkenlos, kalt

Als ich mich auf der Eisbahn am Germania Campus in einen doppelten Rittberger schraubte, verließen meinen Körper wichtige Informationen. Offenbar hatte er vergessen, dass ich mit Marika Kilius problemlos solche und ähnliche Figuren lief, wobei ich Marika manchmal zehn, zwanzig Meter weit fort warf, um sie dann, vorher noch Pirouetten drehend, knapp vorm Aufschlagen aufzufangen. Das alles fehlte, es ging auf 15:13, ich weiß das, weil mir just zu dieser Zeit ein später Nachfahr der Annette von Droste zu Hülshoff eine Mail schrieb, in der er vorschlug, ob wir uns nicht einmal treffen könnten. Ping machte das Smartphone, Rumms machte ich. Seitdem trage ich das Ehrenmal aller Schlittschuhläufer auf dem linken Oberschenkel, einen zehn Zentimeter langen, etwa einen Zentimeter tiefen Schnitt, den ich noch vor Ort mit Zwirn, den ich immer bei mir habe, zunähte, um noch ein Stündchen weiter zu laufen.


Do 23.01.20 17:45 es war bewölkt heute, recht mild


Fr 24.01.20 12:54 grau, kalt

Ich werde zum Markt gehen, mehr ist von mir heute nicht zu erwarten. Ich habe zu trinken, ich weiß, was ich essen werde, meine Agenda ist die eines bald 71jährigen Mannes mit zwei Kindern und vier Enkeln, der niemandem etwas beweisen muss. Es gibt solche Tage. Sie sind selten, aber es gibt sie, und an solchen Tagen laufe ich rund. Ich bin unangreifbar. Niemand kann mir irgendetwas sagen, vorschlagen, verbieten, raten. Ich werde still in meiner Sofaecke sitzen, hin und wieder aufstehen und einen Kaffee aufbrühen, ich werde lesen, zwischendurch ein paar Takte Klavier spielen, ansonsten herrscht Ruhe. Draußen soll draußen bleiben, hier will ich es nicht.


Mo 27.01.20 grau, regnerisch

Der Rücken randaliert.


Di 28.01.20 grau, regnerisch

Es war letzte Woche, als ich in meinem Lieblingsgebrauchtwarenladen auf ein Buch von Monika Maron stieß: "Ach Glück". Ein Frauenbuch, dachte ich. Ich hatte ihren Namen gehört, ich wusste, dass sie preisgekrönt ist, ich hatte Fotos gesehen und gedacht, die hat/hatte es schwer, ich wusste, dass sie in der DDR gelebt hat, aber gelesen hatte ich nie etwas von ihr. Das ist jetzt anders. Nach "Stille Zeile Sechs", "Krähengekrächz", "Flugasche", "Zwischenspiele", und den "Berlin-Anmerkungen", die ich innerhalb der letzten Tage begeistert gelesen habe, gehe ich gleich zur Stadtbücherei und besorge mir "Pawels Briefe" und "Endmoränen."


19:54

Heute mittag habe ich in meinem Lieblingskonfektionsgeschäft Herrenschuhe entdeckt, die mir sehr gefielen. Ich nahm einen in die Hand, drehte ihn, schaute mir die Sohlen an und die Nähte, ich fühlte das weiche Leder und stieß ich auf eine Prägung: Prada. Ich habe den rechten Schuh anprobiert. Er war mir zu groß, der Versuchung, die Schuhe dennoch zu kaufen, war nur schwer zu widerstehen.


20:22

Die junge afrikanische Frau ist beleibt, für einen feucht-windig-westfälischen Januartag in erfrischend bunte Tücher gekleidet, Muslima wohl auch, sie sucht sich einen Platz in der Nähe der Mitteltür und beginnt zu telefonieren. Sie telefoniert freudig und laut.

Ich mag Smartphone-Telefonierer nicht, sie nerven mich, ich habe es aber trotz "Bitte hier nicht telefonieren" Schildern im Bus noch nie fertig gebracht (war also zu feige), eine Dauerquatscherin (in der Regel sind es Frauen) zu bitten, endlich aufzuhören, eine Afrikanerin schon gar nicht, um nicht in Rassismus-Verdacht zu geraten. Sie telefoniert also. Ich versuche, Sprachfetzen zu identifizieren. Ist das ein von einheimischer Mundart gefärbtes Kolonialherrenfranzösisch? Hör doch endlich auf, Mädchen. Du gehst allen im Umkreis von fünf Metern auf die Nerven. Die meisten kommen von der Arbeit. Die wollen ihre Ruhe, begreifst du das nicht? Nein, natürlich nicht. Ob sie auch mal in so einem Schlepperboot saß? Oder ist sie hier geboren und spräche eigentlich einwandfrei Deutsch? Man weiß es nicht. Die Welt ist völlig undurchschaubar geworden.


Mi 29.01.20 10:25 grau, könnte blau werden, muss aber nicht

Monika Maron ist eine Ausnahme unter den Schriftstellern. Sie unterhält mich, aber das tun andere auch. Sie unterscheidet sich durch ihre Präsenz. Ihre Sätze treffen mich häufig ins Mark, sie sitzt mir gegenüber, wenn ich sie lese. Ich mag ihre Renitenz, ich mag, dass sie so viele Fragen hat und keine Antworten, und ich mag, dass sie sich nicht hinter Geschichten verschanzt, sondern Geschichten erzählt, die sie offenbaren.

So. Und jetzt heißt es, Wärmflasche ins malträtierte Kreuz, Beine hoch, Decke drüber und lesen.


Do 30.01.20 ferner Frühling heute 18:10

Aufrecht sitzen, möglichst in rechtem Winkel aufrecht, das hält den Schmerz in Schach. Manchmal aber auch nicht, und dann kann ich ihm nicht entkommen. Er sticht. Er nimmt mir den Atem. Er macht mir Angst. Den ganzen Tag habe ich fast schmerzfrei im Bett gesessen, aber als ich mich strecken wollte, um ein wenig Schlaf nachzuholen, der mir von der letzten Nacht fehlte, war er mächtiger als vorher zurück, so dass ich mich wieder aufsetzte. Zur Nacht werde ich Schmerzmittel nehmen und hoffen, dass es morgen schon besser ist als heute. Gestern hatte ich bis Mittag kaum ein Problem, ich dachte, ich hätte das Schlimmste hinter mir, aber dann habe ich mein Bett bezogen und wusste es besser. Heute früh war ich beim Doktor. Der Doktor sagt Wärme. Und wiederkommen, wenn's nächste Woche nicht besser ist. Der Doktor ist eine kleine dicke Frau, die eine Leiter benötigt, um in ihren Benz SUV einzusteigen, der ein Kennzeichen mit ihren Initialen hat, wie mein Mopped mit meinen.


Fr 31.01.20 19:28 wieder frühlingshaft

Die Nacht schmerzte und war voll bitterer Erinnerungen, die sich an mir schadlos hielten. Jetzt weißt du, wie sich Schmerz angefühlt. Lass doch los, hattest du ihr geraten. Idiot. Dein Schweiß auf der Stirn war ihrer. So also würde sich das anfühlen, wenn Nacht wäre, Schmerz überall, und nichts, nichts, ihn zu besänftigen. Nicht einmal ein Mensch. Ich stand auf. Ich ging herum. Ich stellte mich auf die Powerplate, meine Rüttelmaschine. Das half, das machte mich euphorisch, aber dann war der Schmerz schon wieder zurück. Ich nehme fast nie Schmerzmittel, diesmal aber hatte man mir Iboproflam empfohlen, wovon mir latent unwohl wird, aber meinen Schmerz dämpften sie nicht. Ich versuchte die Fötusstellung. Das bracht ein wenig Erleichterung, aber nicht lange. Haschisch half auch nicht und die Nacht hatte es nicht eilig. Im Sitzen wäre sie zu ertragen gewesen, aber ich schlafe auf dem Bauch oder auf rechten Seite. Und was ist, wenn es gar nicht vom Schliffschuhlaufen kommt, wenn sich etwas ganz anderes dahinter verbirgt?

Gegen Mittag habe ich mich auf eine Liege gelegt. Eine Orthopädin hat mich zu sich gerollt wie einen Brotlaib, hat gesagt, verspannen Sie nicht, Herr Mensing, wie, fragte ich, erzählen Sie mir einfach was. Ich erzählte ihr was und sie arbeitete sich meine Wirbelsäule hinauf. Als ich mich auf den Bauch legte,
wusste ich schon, dass der Schmerz auf dem Rückzug war, aber sie hatte noch an den Wirbeln zu tun. Zwei, drei Tage noch würde ich ihn spüren, sagte sie, aber vom Schlaf wird er sie nicht mehr abhalten.