Juni 2020                     www.hermann-mensing.de      

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Bücher von Hermann Herr M. bei: Amazon.de  

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Mo 1.06.20 10:00 / Krise Tag 79 / sonnig

Die Schwalben fliegen hoch wie selten. Nachts ist es frisch, tagsüber erträglich warm, seit Wochen regnet es kaum. Das Leben fühlt sich falsch an, aber die Menschen erobern sich den öffentlichen Raum langsam zurück. In den Geschäften und Supermärkten trägt man Masken, und es scheint, dass sie zu einem modischen Accessoire werden.
Beckett, Godot, Herr M. und Trotzki waren seit Ausbruch der Seuche verschwunden.
Jetzt sind zurück.
Und - wie war's? frage ich.
Wir haben uns still verhalten, wie alle, sagt Trotzki. Keine Frauen, kein öffentlicher Alkohol, nix. Aber ob wir Erhellendes zu sagen haben, wird man sehen.
Ich fürchte nicht, sagt Beckett.
Natürlich nicht, sagt Godot. Es ist doch alles gesagt, alles gedreht und gewendet. Allerdings kann Erleuchtung jederzeit einschlagen.
Ich bin längst erleuchtet, sagt Herr M.
Hatte ich nicht bemerkt, sagt Godot.
Beckett steckt sich eine Zigarette anm hüstelt und grinst.
Ich dachte, du wolltest aufhören, sage ich.
Godot lacht. Becket inhaliert. Was soll man denn machen, wenn man nirgendwohin kann, sagt er,
Und wenn du mehr als dreimal niest, denkst du, du hast es, sagt Trotzki.
Schönes Scheißleben, sagt Godot. Aber ich bin nicht Schuld, ich schwör's.



Di 2.06.20 15:55 /Krise Tag 80 / sommerlich warm

Der Mann ist klein. Er trägt eine graue Hose und ein kariertes Hemd, unter dem sich ein Bauch wölbt. Sein Haar ist im Begriff, grau zu werden, es ist zurückgekämmt. Neben ihm läuft eine asiatische Frau. Sie ist deutlich jünger als er. Schau, die hat er aus dem Katalog, und hübsch ist sie auch, denke ich. Ob sie wirklich hübsch ist, weiß ich nicht, denn Asiatinnen wirken durch ihr tiefschwarzes Haar oft attraktiv, aber ob das unter anderen Asiatinnen auch gälte?

16:40

seit wochen
versuche ich
nicht kreativ zu sein
das zerrt an meinen nerven

21:28

Am Sentmaringer Weg blühen am Rande eines Gerstefeldes Kornblumen und Mohn. Ich sah es heute mittag, als ich mit dem Rad in die Stadt fuhr, und dachte, das fotografiere ich später. Vor einer halben Stunde fuhr ich hin, stellte meinen Roller ab, und stellte fest, dass keine Mohnblumen mehr da waren. Ich dachte zuerst, die am Feldrand herumkriechenden Blumenpfücker (vier, als ich kam) hätte sie weggepflückt, aber es war ganz anders, die Mohnblumen hatten schon Feierabend und ihre Blütenläden dichtgemacht.


Mi 3.06.20 18:25 / Krise 81 / sommerlich

Als die Real Fullmooners im September 2008 zum ersten Mal seit über einem Jahrzehnt wieder Musik machten, war der Anlass der Tod ihres ehemaligen Bassisten. Sie hatten das auf seiner Beerdigung beschlossen. Heute früh um 3:10 ist wieder ein alter Mann gestorben, unser Gitarrist. Seit er pensioniert ist, fährt er nachts Zeitungen in den Bauerschaften rings um seine Heimatstadt aus. Aus einer Bauerschaft kommend wollte er eine Hauptstraße überqueren, und hat jemanden übersehen. Die beiden Wagen sind kollidiert. Der alte Mann war eingeklemmt, und ist noch an der Unfallstelle gestorben. Bei mir sind heute nacht drei Bilder von der Wand gefallen. Wir haben fast fünfzig Jahre Musik miteinander gemacht und waren uns dabei manchmal sehr nah.

21:52

Mehr als zwanzig Jahre ist er jede Nacht vom Land an den südöstlichen Rand des Reviers gefahren, um von 22:00 bis 6 als Lagerist zu arbeiten. Als er pensioniert wurde, begann er, Zeitungen auszufahren. Erst in einem alten Civic, später mit einem kaum jüngeren Citroen. Gegen zwei fuhr er los, und war in der Regel um sechs fertig. Nachts zu arbeiten war nie sein Problem. Er war nachts wacher als tags. Zwischen 2 und 6 ist da, wo er Zeitung austrägt, niemand unterwegs. Ich schätze, er hat - aus einer Bauerschaft über die Hauptstraße in die gegenüberliegende Bauerschaft wechselnd wie ein Reh am Morgen, nicht im Traum erwartet, dass jemand unterwegs ist. Es war noch nie jemand unterwegs gewesen. Dieses Mal schon.
Ruhe, mein Freund, sie wird dir gut tun, und danke, dass ich fünfzig Jahre mit dir Musik machen konnte.
Gut, du hast Recht, 45, und auch nicht ununterbrochen, das hätte keiner von uns ausgehalten.


Fr 5.06.20 23:00 / Krise 83 / sehr frisch, regnerisch

Sie riet, ich solle Brötchen mitnehmen, als ich mit dem Rad losfahren wollte. Der Bäcker hätte keine Minute Umweg bedeutet, aber ich war zu faul und kaufte mir an der Tankstelle stattdessen Zigarillos. Der Sprit kostet zehn bis zwölf Cent mehr, als vor vier Wochen.

In der Stadt, die Schulstraße war nur noch um die Ecke, sah ich ein, dass sie Recht gehabt hatte. In der blauen Taverne, eine Tankstelle an der Steinfurter, gibt es Brötchen vom Bäcker. Brötchen waren ein guter Einstand, und ich war mir sicher, dass W. und M. im Salz lägen, am Abend zuvor hatten sie sich im Garten getroffen.

Wir wollten gemeinsam mit K. und T. nach 12 Jahren den Proberaum in Ostbevern räumen wollten. Das Ende einer Ära. Jemand hat den Hof gekauft und redet davon, dort ein Jagdhaus zu bauen. W., der auch mithelfen wollte, war am Tag vorher bei einem Autounfall gestorben. Wir waren entsetzt, aber die Arbeit vertrieb das eine gegen ein anderes Entsetzten. Im Proberaum hatte nie jemand sauber gemacht, und falls, hatten die anderen sofort wieder mit seiner Verwüstung begonnen. Schlimmer konnte es nicht kommen. Ein Toter, dieser vermüllte Raum, zwei Männer, die schon nach kurzen Gängen zu schnaufen beginnen. Immer saß einer, immer hielt einer einen Schwatz. Immer rauchte einer einen. Trotzdem ging die Arbeit voran.

Die Vergangenheit des Raum trat, als die ersten Moltontücher von der Wand kamen, immer deutlicher zutage. In diesem Schweinestall mit zerbrochenen Fliesen und nackem Beton hatten wir viele Nächte verbracht. Meist bei ohrenbetäubendem Radau. Wir hatten nie nicht gekifft und nie nicht getrunken. Und es war häufig sehr schön und gemütlich.

Der Raum wurde zügig leerer. Und dann war das Kapitel vorbei. Berge Sperrmüll vorm Haus, ein Transporter voll hochwertigem Equipment, ein Anhänger voller Müll für die Deponie. Dumm nur, dass weder die Bremsleuchten noch die Winker des Hängers funktionieren wollten, obwohl Fachmänner sie vorher begutachtet hatten, so dass T. uns mit seinem Wagen hinten abschirmte, während wir mit ihm ständig über Telefon Kontakt hatten. Kost ja nix, sagte T.

Um sechs waren wir mit fertig. W., fanden wir, hatte zwar einen furchtbaren Tod, aber er war schnell, und jetzt war er auf der sicheren Seite.

 

Sa 6.06.20 16:05 / Krise Tag 84 / frisch, windig, ab und an Regen

geholchtes haizeck
rangomierter tradelback
verlatzter tramteck
vneckelhack


Di 9.06.20 15:15 / Krise Tag 87 / wechselnd bewölkt, mild

Ich habe angefangen, einen etwa 40 Jahre alten Bürostuhl der Firma Sedus, die heute noch hochwertige Büromöbel herstellt, zu restaurieren. Ich weiß nicht mehr, woher ich ihn habe, wahrscheinlich vom Sperrmüll. Als ich ihn auseinanderschraubt hatte, schaute ich mir ein Tutorial an, in dem jemand erklärt, wie man Schrauben entrostet. Der Anleitung folgend hätte ich 60%ige Essigsäure kaufen müssen, die es jedoch nur in Fünfliterbehältern gibt. Das schien mir für eine Hand voll Schrauben zu aufwändig. Ein Freund riet mir, einfach neue Schrauben zu kaufen. Also fuhr ich heute zu einer Firma, die Berliner Schrauben heißt und im Industriegebiet Nord liegt. Ein schmuckloser Plattenbau, von dem Farbe bröckelt. Ein Mann um die Vierzig bediente mich. Ich legte ihm die Schrauben vor, er benötigte nur einen Blick, um zu sagen, welche er habe, und welche nicht mehr erhältlich seien. Wie lange er studiert habe, um das so schnell sagen zu können. Na ja, studiert nicht, sagte er lachend, aber er arbeite seit fünfundzwanzig Jahren in diesem Geschäft.


Fr 12.06.20 8:45 /Krise Tag 90 / bewölkt, feucht

Man könnte glauben, die Welt sei in Ordnung, wenn die Menschen nicht Masken trügen. Auf den Straßen ist es wieder eng, nur in der Luft herrscht nach wie vor pandemische, himmlische Ruhe. Von mir aus könnte das bleiben. Die Menschen scheinen gefasst. Es gibt zwar ein Murren, aber die Vernunft ist stärker. Aluhutträger allerdings setzen nach wie vor abenteuerliche Thesen in die Welt. Wussten Sie, dass man uns durch Zwangsimpfungen Nanotechnologie implantieren will, die uns mit einer Cloud verbinden und unsterblich machen? Ich wusste das nicht, könnte aber auch Geschichten erzählen.
Etwa, wie schön es war, als ich vor vierzehn Tagen zum ersten Mal seit zwei Monaten wieder Tango tanzte. In der letzten halben Stunde vorher war mir mulmig. Ein Tanz mit dem Tod, dachte ich, aber das ist dummes Zeug, denn den tanzt jeder zu jeder Zeit, daran ändert das Virus nichts. Sonst aber ist es mit Geschichten im Augenblick nicht weit her.

Mein Fokus ist seit Beginn der Pandemie auf das Renovieren unserer Wohnung gerichtet. Beim Baumarkt auf halbem Weg in die Stadt bin ich längst mit Kundenkarte registriert, und fast täglich fällt mir ein, was noch zu tun wäre. Ich staune, wieviel Freude mir das macht.

Beckett, Trotzki, Herr M. und Godot beobachten mich mit Skepsis. Trotzki, dem es nichts ausgemacht hätte, wenn die Welt ans Ende gekommen wäre, nörgelt gern. Da hätte ich etwas übersehen, sagt er, und ob das denn wirklich schön sei? Ja, sage ich. Es ist schön, und es sollte so sein. Selbst das Übersehen ist wichtig für die Menschwerdung, oft ist es gerade das Übersehene, das sich nach einer Weile zur Schönheit mausert. Und jetzt halt's Maul, es wird Zeit, dass Kaffee auf den Tisch kommt.

Ringsum ist es grün und feucht. In meiner Kindheit kämen jetzt Katholiken, in weite Gewänder gekleidete Helfer trügen einen Baldachin, unter dem ein Priester mit einer Monstranz schritte. Hinter ihm würde gebetet und die Jungfrau Maria besungen. Ich fand diese Prozessionen magisch. Eine goldene Monstranz, Weihrauch, Menschen in leichter Trance, aber in einer westfälischen Variante, und die rotgesichtigen Männer am Ende strebten dem Bier zu, dass sie nach der letzten, mit Blumen und Blütenblättern geschmückten Marienstation trinken werden.


So 14.06.20 10:30 / Krise Tag 92 / bewölkt

Das Absinth Experiment
begann mit Gin-Tonic. Die Sonne brannte, der Gin-Tonic war kühl, und verursachte den nötigen Gleichmut, um unseren Gitarristen zu beerdigen. Noch einen? Ja, einen noch. Wir mussten nicht fahren. Wir mussten nur in den Tesla S unseres Keyboarders steigen, und wurden zur Friedhofskapelle gebracht, wo sich jeder in eine Liste eintrug, hineinging, und wartete.

Aha, sie hatten ihn kremiert, ein Foto neben den Altar gestellt, da sitzt er, im Hintergrund Boote, er ist in Griechenland, wo er so gern war, und gleich wird ein Pastor kommen und sagen, dass es den Tod nicht gibt und dass unser Gitarrist nur in eine andere Lebenswirklichkeit gewechselt sei. Um das zu glauben, hätten wir mehr trinken müssen.

Man kann darüber streiten, ob man sich ökologisch nachhaltig von Maden zersetzen oder lieber umweltbelastend verbrennen lässt, wenn aber Letzteres geschieht, wäre es schön, wenn man die Asche verstreuen könnte, wo man will, stattdessen wird sie in einem Behälter in der Erde versenkt. Wir murmeln nicht ganz textsicher eine letztes Gebet, du in deiner anderen Lebenswirklichkeit hast uns etwas voraus, wir essen Schnittchen und Kuchen, damit das Leben weitergehen kann und fahren zurück zum Ausgangspunkt unseres Exkurses und spielen ein kleines Gedenkkonzert vor der Gartenlaube.

Der Nachmittag senkt sich zum Abend, und dann beginnt fünf Gärten weiter das eigentliche Experiment. Der junge Mann, der es zelebriert, Stempel Mobilux, ein DJ, hat Absinth und Champagner mitgebracht, das, sagt er, sei Hemingways Wahl schon am frühen Morgen gewesen, Zu erwarten sei leichte Euphorie, stattdessen wechseln Vertikale und Horizontale schon bald unvermutet die Achsen, ich stelle eine gewisse Neigung zu Übermut und dummen Lautäußerungen fest, und bin schließlich froh, mich aufs Schlafsofa zu legen, einen letzten Blick aus der weit geöffneten Tür des Gartenhäuschen auf die dunkle, grüne Dschungelpracht der Blumen und Gewächse zu werfen und schlafe ein.

16:36

ich, sagt das gedicht,
lasse das nicht mit mir machen,
ich habe prinzipien,
an denen niemand rüttelt,
deshalb überlege dir jetzt,
16:38,
ob du weiterschreibst,
oder spülst,
letzteres kannst du,
das erfüllt dich mit genugtuung und freude,
ICH hingegen mache dich häufig unruhig,
ICH stürze dich in verzweiflung,
weil du glaubst,
du könntest mich zähmen,
was lächerlich ist,
niemand hat mich je gezähmt,
jedes meiner cousins und cousinen
hat leben zerrüttet,
in den alkohol getrieben,
wegen mir haben sich kluge männer in flüsse gestürzt,
oder sind von felsen gesprungen,
und soll ich dir sagen, wofür?
für die illusion der allmacht,
für die eitle selbstbestätigung,
für die vage aussicht,
attraktive frauen für eine weile
willig zu machen,
eh sie dich beschimpfen,
verlassen und aller welt stecken,
was für jämmerlicher dichter du bist.
also. wie steht's, 16:50
machen wir schluss?


Mo 15.06.20 11:30 / Krise Tag 93 / bewölkt, schwül

Godot hat Hämorrhoiden.
Beckett findet das unglaublich.
Wie, sagt er, du, Godot?
Godot lächelt sein mildes, allwissenden Lächeln.
Ja, sagt er, morgens einen Finger mit Salbe bestreichen, ins Rektum damit und Ruhe ist.

15:50

schweres wetter für dichter,
jede zeile am boden.


Di 16.06.20 8:35 / Krise Tag 94 / bewölkt, mild, es wird regnen

Der Balkon ist mein Paradies. Wird Salat gewünscht, hier gibt es die Zutaten. Für Mojitos steht Minze bereit. Hier bin ich vor Blicken geschützt. Hier kann ich jederzeit sein, das schreckliche Virus hat keinen Zutritt, hier ist die Welt vorm Fortschritt verborgen. Hier sitze ich, mein Bademantel fließt an mir herab, hier bin ich unrasiert und ungewaschen, hier steht mein Kaffee, hier bleibe ich, bis ich nicht mehr bleiben kann.
Hier denke ich nach, und manchmal fällt mir etwas ein.


Mi 17.06.20 /Krise Tag 95 /

Wir waren Freunde seit 67, wurden ein Paar, als ich aus Südamerika zurückkehrte, wir haben zwei Söhne, vier Enkel, und hätten unser Leben zuende gelebt, aber du musstest gehen.

CHRIS 13.02.53 - 17.06.2009


Do 18.06.20 20:35 /Krise Tag 96 / bewölkt, nachmittags ein bisschen Sonne, mild

Ich sitze auf dem Balkon, lese Der Untergeher von Thomas Bernhard (alles, was je gesprochen und geschrieben wurde, sei Unsinn, sagt er und ich pflichte ihm bei), als jemand harte trrrrtikitiikitaakk takk takk Silben singend die Straße hochkommt. Ich lege das Buch beseite und trommle dazu auf dem Tisch. Der Sänger bleibt stehen, sagt, geil, wo bist du? Hier. Hast du ein Keyboard? Ja. Kannst du mir eins leihen? Nein. Ich kenn' dich ja nicht mal. Wie heißt du? Habibi. Und was bist du für einer? Roma, Zigeuner. Ich dachte, du wärst Inder. Nein, Roma, sagt er, und ich denke, da sind deine Wurzeln. Ob er mal spielen könne? Ja, sage ich, komm rein. Er kommt rein, großer, junger Mann, 190 etwa, ich mache mein Kurzweil an, er fummelt an allen Tasten, sagt, er fände des Ton nicht, dreht am Modulationsrad, sagt, hast du einen Beat, so wie gerade, ich sage, ja, nehme mein Djembe aus dem Regal und trommle ihm einen Beat. Er drückt einen tiefen Akkord und spielt mit der rechten Hand klagende Töne. Du hast Heimweh, oder? frage ich. Kannst du mir nicht ein Keyboard kaufen, sagt er, so ein kleines, auf E-Bay. Das musst du schon selbst tun, sage ich. Ja, sagt er und spielt lauter. Mach leiser, sage ich, oben wollen Kinder schlafen. Du musst jetzt gehen. Hast du zwei Euro für mich? Ich nicke. Er bedankt sich, wir kicken die Ellbogen aneinander. Er geht. Eine halbe Stunde kommt er die Straße herab. Immer noch diesen Beat singend. Diesmal reagiere ich nicht.


Fr 19.06.20
10:21 / Krise Tag 97 / sonnig, ein paar Wolken

Beim Schneiden der etwa fünfzig Meter langen Hecke im Garten geriet ich einen heftigen Disput mit der Gärtnerin, und hätte nichts dagegen gehabt, sie fachgerecht zu zerlegen. Frauen sind noch dümmer als wir, was im Grunde kaum denkbar. Es wäre viel Blut geflossen, ich hätte ab sofort eine trockene, sichere Unterkunft auf Staatskosten bezogen, meinen Status als Kettensäger genossen und vielleicht sogar Zeit gehabt, in der Gefängsniswerkstatt noch ein Handwerk zu erlernen, aber da ich ein zurückhaltender Mensch bin, reichte mir das imaginierte Blutbad. Ich brachte die Hecke in anderthalb Stunden zur Fasson und verließ den Tatort in guter Stimmung, weil es mir gelungen war, meine archaischen Triebe zu beherrschen, wenngleich mich die Gärtnerin einen Grobian schalt.


So 21.06.20 13:53 / Krise Tag 99 / leicht bewölkt, mild

Ein Freund hatte mir von einer Land-Art Skulptur im Amtsvenn erzählt, ein die niederländische Grenze überschreitendes Naturschutzgebiet in der Nähe meiner Heimatstadt Gronau. Vor etwa zwanzig Jahren habe dort der amerikanische Künstler Dennis Oppenheim eine Skulptur in eine Wiese gestellt, die star skid heiße und so gut wie vergessen sei. Neugierig geworden fuhr ich am Freitag dorthin. Ich hatte nur eine grobe Ortsbeschreibung, ich musste, als ich vor Ort war, mehrfach fragen, jedesmal antwortete man mir mit Schulterzucken, bis ich schließlich jemanden traf, der mir Genaueres sagen konnte. Ich stellte fest, dass ich an dem mir beschriebenen Ort schon zweimal vorbeigefahren war, ohne die Skulptur zu sehen. Jetzt fand ich sie inmitten einer sumpfigen Wiese, ein zerbrochener Stern, halbschräg im Grund liegend, von Unkraut und Brennesseln überwuchert.







Oppenheim war ein weltweit beachteter Künstler, hier jedoch hat man ihn vollständig vergessen. Kein Hinweis zur Skulptur, nur ein grob gespanntes Seil um den Teil der Wiese, in dem sie liegt. Ich stieg ein wenig herum, ich fotografierte, und fuhr dann nach Glanerbrug, eine heute zu Enschede/Holland gehörende Gemeinde, um dort Fisch und Pommes zu essen. Glanerbrug war und ist (wie Gronau) proletarisch gefärbt. Früher arbeiteten die hier wohnenden Menschen in der Textilindustrie in Deutschland. Niemand trug Masken. Ich hatte davon gelesen, aber es fühlte sich dennoch fremd an.


Mi 24.06.20 11:00 / Krise Tag 102 / strahlend blauer Himmel, kein Flugzeug weit und breit

Zum 100tägigen Jubiliäum steht die Pandemie plötzlich wieder da wie die Eins. Gerade ist es ihr gelungen, 1500 Menschen auf einen Schlag zu infizieren, das gefällt ihr, sie genießt die Angst der anderen und die Ratlosigkeit der Politik. Alles redet von einer zweiten Welle. Für zwei Städte und Kreise wurde der Lockdown verfügt, 650.000 betroffene Menschen murren, hatten sie doch schon aufgeatmet und geglaubt, das Schlimmste sei vorüber. Autofahrer mit den Kennzeichen WAF und GT gelten als Aussätzige. Wäre man in Amerika, dürfte man auf sie schießen, wenn sie außerhalb ihrer Kreise auftauchten, hier begnügt man sich mit eindeutigen Gesten und faulen Eiern. Bewaffnete Einheiten sichern Stadtgrenzen, Hubschrauber kreisen über den Hotspots. Herr Tönnies, der Menschen aus ökonomisch schwachen Ländern schon seit Jahren zu Billigtarifen für sich arbeiten lässt, damit sein Fleischimperium größer und größer werde, behauptet, schuldos zu sein und spielt sich als Erneuerer die fleischverarbeitenden Industrie auf. Niemand glaubt ihm. Alle hassen ihn. Mal sehn, ob und wann Schalke 04 sich von ihm distanziert. Das ist der Stand der Dinge. Auf der anderen Seite des Ozeans geht es Covid19 noch besser als hier. Dort wird gestorben, dort erinnert man sich der guten alten Tradition des Massengrabes, und natürlich sind es dort (wie auch hier) die weniger gut verdienenden Menschen, die es als erste trifft. Frau E., erkrankte zwei Tage nach Weihnachten von einem Tag auf den anderen an einer schweren Lungenentzündung. Sie wurde zwar nicht beatmet, aber man führte ihr Sauerstoff zu. Nach zehn Tagen wurde sie geheilt entlassen, und glaubt mittlerweile, dass das Covid19 gewesen sein könnte, wovon damals aber noch niemand sprach. Kaum mehr als sechs Monate liegt das zurück. Wenn ihre Annahme stimmt, wäre sie unter Umständen immun, und ich auch. Warum werden eigentlich nicht alle Menschen getestet? Ausnahmslos alle?


Sa 27.06.20 13:30 / Krise Tag 105 / wechselnd bewölkt, nicht so warm wie gestern

wenn tagelang die hitze brütet,
gehn geist und leben gern mit mir am stock,
da, wo mein herz am liebsten wütet,
steht plötzlich nur ein unbelebter bock,
dem nicht mal kühle güsse helfen,
dem schatten kaum erleichterung verschafft,
und selbst die zartesten der elfen
würden verständnislos begafft,
ich weiß, dass wir das klima wandeln,
ich hüte mich vor unbedachtem handeln,
ich hab noch soundsoviel jahre,
und bete, dass ich den humor bewahre.


Di 30.06.20 11:23 / Krise Tag 108/ bewölkt, windig, angenehm

Wir hier im Paradies schießen auf Gütersloher, das ist selbstverständlich. Am Stadtrand warten wir mit Sturmgewehren. Wir haben uns das von den
Amerikanern abgeguckt, die haben Waffen im Schrank, und wenn welche kommen, Zack, wird drauf gezielt, und wenn aus Versehen einer zuckt oder nörgelt, Bumm, fällt er um. Das ist volksnahe Justiz, in Zeiten der Pandemie unumgänglich, und da wir nun langsam auf den Geschmack kommen, werden wir das auch beibehalten.


11: 40

Da es seit Mittsommer wieder auf Weihnachten geht, hier noch ein paar Erinnerungen an schöne Tage, die ihr Autor (your humble servant, quoth Laurence Sterne) in einer Holzlaube im Garten einer angebeteten Gartenkünstlerin verbrachte. Diese Laube bietet auf etwa 2,50 Meter zum Quadrat Platz für ein Schlafsofa, ein kleines Tischchen, um Alkohol und Drogen aufzubewahren, damit sie jederzeit verfügbar sind, außerdem gibt es dort einen Baseballschläger für potentielle Intruder, die nachts gern durch Schrebergärten ziehen. Das Häuschen hat verglaste Flügeltüren, die bei angenehmen Temperaturen weit offen stehen, so dass man auf gelbe und rote Rosen schaut, auf Allium und Fingerhüte, auf Mombretien, Mandelröschen, Geranien, Glockblumen, Frauenmantel und was sich sonst dort meinen Begriffen enzieht. Man liegt bequem, wähnt sich im Paradies, während weltweit kurz geatmet, kurz gearbeitet oder flott gestorben wird. Diesen Widerspruch auszuhalten fällt dem Autor nicht schwer, denn als Profiteur der bundesrepublikanischen Verhältnisse streicht er eine Rente ein, die ihn über die Runden bringt, zudem hat er die Gartenkünstlerin zur Mitbewohnerin in seiner suburbanen Vierzimmerwohnung gemacht, was gut für das Herz, für die Seele und die monatlichen Kosten ist.