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Hermann Mensing: Abends am Meer

1
Er stellte sich vor, wie sie hinter ihm saß. Sie hatte beide Arme um seine Hüften gelegt und ihr Haar flog im Wind. Wenn er sich in die Kurven legte, schmiegte sie sich an ihn und stieß kleine Schreie aus, halb vor Freude, halb vor Angst.
Sie war ihm so nah wie noch nie.
Stopp! dachte er. So soll es bleiben.
Er gab Gas.
Die Sonne schien. Der Himmel war bleich und hoch. Fahrtwind drückte auf ihre Gesichter. Sie atmeten in kurzen, rastlosen Zügen. Sie waren aufgeregt. Endlich taten sie etwas, das sie von den anderen unterschied.
Sie rissen aus.
Wie gut sich das anfühlte. Er spürte sie. Er wusste, was sie wollte, er kannte ihre Gedanken, als wären es seine eigenen und sie kannte seine.
Alles war in Ordnung.
Vielleicht heute abend, dachte er. Heute abend im am Meerl.
"Teke, nicht so schnell, bitte!!!"
Teke lachte ein lautes, glucksendes Lachen.
Ein paar Stunden noch, und sie säßen am Strand. Der Horizont wölbte sich und für Momente würden sie vieles verstehen. Sie würden in die Wellen rennen, das Salzwasser auf der Haut spüren und den Sand zwischen den Zehen.
Und dann schnell ins Zelt.
Wenn nur der Motorroller nicht schlapp machte.
Tekes Rakete. Die Düse.
Zwei Jahre hatte er Mittwochs und Samstags Reklame ausgetragen und jeden Cent gespart. Dann hatte er die Düse gekauft, angemeldet und versichert. Das Restgeld hatte er auf dem Sparbuch gelassen.
Für eine Weile würde es reichen.
Teke kannte den Weg zum Meer. Er war ihn oft mit seinen Eltern gefahren.
Er würde die großen Straßen meiden. Er würde einem Fluss folgen, über einen langen Deich fahren, an Kanälen und Windmühlen vorbei über die Dörfer, dann käme ein Wald und die Dünen begännen und die Welt wäre zuende.
Genau dahin wollten sie.
Ans Ende der Welt, im anderen Land.
Da vorn war die Grenze. Als Teke noch klein war, war es normal, dass Zöllner Autos anhielten, wenn man sie überquerte. Vor allem, wenn jemand im Auto saß, der so schwarz war, wie sein Vater.
Heute war das anders. Heute waren die Grenzen offen.
Außerdem war Teke nicht schwarz. Teke war fast so weiß wie seine Mutter. Nur wer genau hinschaute, konnte Afrika ahnen. In seinen Augen, die ganz groß und wie Schokolade so dunkel waren. An seinen Dreadlocks vielleicht. Am ehesten aber an seiner Nase. Opas Nase, fand sein Vater. Opa stammte aus Kenia. Tekes Vater aus Eritrea. Dort haben die Leute eher europäische Nasen. Dass Teke so anders war, käme dabei heraus, wenn Gene sich mischen, sagte Tekes Vater.
Teke war das ein Rätsel. Eigentlich wäre er lieber so schwarz wie seine Schwester Kathy, denn dass er weiß war, glaubte ihm sowieso niemand.
Jemand bremste.
Teke wich aus, geriet auf die Gegenfahrbahn, schlingerte zwischen zwei Wagen hindurch auf den Grünstreifen, Teke bremste und die Düse soff ab.
Glück gehabt.
Nur sie war nicht mehr da.
Hatte sich in Luft aufgelöst, war dahin zurück, wo sie hergekommen war.
Ein Hirngespinst? -
Nein, ein Hirngespinst war sie nicht. Sie war wirklich. Es gab sie in seiner Nähe. Er musste nur herausfinden, wo und dann Kontakt zu ihr aufnehmen. Im Augenblick kannte er jedoch noch nicht einmal ihren Namen, und ob sie es gut fände, mit ihm auf einem Motorroller ans Meer zu fahren, war mehr als zweifelhaft.
Süß? - War sie süß?
Nein, süß war nicht das richtige Wort.
Als er sie das erste Mal gesehen hatte, fand er sie nicht süß.
Er fand sie umwerfend. Es war, als würde ein Licht angehen. Ein Licht da, wo sonst alles dunkel war. Ein Licht, das nur für ihn leuchtete.
Trotzdem konnte er nicht sagen, wie sie aussah.
Hinter ihm hupte jemand.
Teke warf den Motor an. Die Düse spuckte Rauch, ihr Motor gurgelte seltsam, Teke legte einen Gang ein und fuhr los.
Bis zum nächsten Mal, du, dachte er.

2.
Klemke redete. Klemke schrieb Formeln an die Tafel. Klemke wies auf ihre Bedeutung hin. Klemke sagte, "so, das prüfen wir jetzt einmal nach, denn das ist ja das Schöne an der Mathematik, dass man alles nachprüfen kann, nicht wahr, Teke."
Teke fuhr eine Rolltreppe hinab, während auf der Gegenseite ein Mädchen nach oben schwebte, hinein in das helle Licht, das durch die Glaskuppel des Lichthofes fiel.
Teke war verzaubert.
Er verstolperte das Ende der Treppe, stürzte um ein Haar in eine kunstvoll aufgebaute Teller-, Tassen- und Gläserdekoration, machte kehrt und fuhr wieder nach oben.
Teke suchte sie überall, aber sie war wie vom Erdboden verschluckt.
"Nicht wahr, Teke?" wiederholte jemand.
Teke schreckte hoch.
"Ja Herr Klemke???"
Die Klasse brach in brüllendes Gelächter aus.
"Komm mal nach vorn."
Teke klappte sein Tagebuch zu, ließ es in seiner Tasche verschwinden, stand auf und ging an die Tafel. Er spürte Blicke, spürte noch das Ende des Traums, das in Wirklichkeit ja der Anfang war, der erste Satz einer Geschichte, die noch geschrieben werden musste, Teke schüttelte sich, nahm ein Stück Kreide, prüfte die Formel, die ihm zum Glück gleich bekannt vorkam, rechnete so gut er konnte, schaffte den Beweis, erhielt von Klemke einen anerkennenden Klaps auf die Schulter, wurde mit einem "nicht schlecht, Herr Birhane, meine Hochachtung!" zurück geschickt, setzte sich unter den erstaunten Blicken seiner Klassenkameraden wieder hin und rammte Mehmet, der direkt vor ihm saß und sein Freund war, die Spitze seines Bleistiftes zwischen die Rippen, weil er so schadenfroh gegrinst hatte, als Klemke ihn nach vorn gerufen hatte.
Mehmet drehte sich um, machte ein schmerzverzerrtes Gesicht, stöhnte und starb.
"Ist was, Mehmet?" rief Klemke.
"Nein", sagte Mehmet.
"Na dann..."
Klemke war seltsam.
Man wusste nie, ob er gerade ein Mensch oder ein Monster war.
Teke war sicher, dass er außer Gefahr war, öffnete sein Tagebuch, beugte sich vor und schrieb: Sie ist schön. Sie ist schön und ich will, dass sie mir gehört. Und ich werde sie finden.

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