Hermann Mensing

Mutter, Vater, Tante


21.September 1998


Gegen neun zerschlug sich die Hoffnung, einen Zivildienstleistenden zu finden, der nachts in der Bismarckstraße schläft. Mir war der Gedanke am Vorabend gekommen, das Unausweichliche vor Augen; kein Ausweg also, kein heimlich ersehnter Aufschub, der meiner Mutter und ihrer Schwester die Bismarckstraße erhalten und eine Einweisung ins Altenheim verhindern könnte.

Gegen 10 Uhr rief der Hausarzt an, um zu sagen, dass einer vorläufigen Einweisung in die Geriatrie nichts im Wege stünde, er könne die Papiere sofort fertig machen und vorbeibringen lassen. Gut, sagte ich, und damit begann der praktische Teil des Unternehmens, alle Überlegungen über das Wie und Wenn waren beendet. Ich würde die Papiere, Transportschein und Einweisung holen.
Und wann soll der Krankenwagen kommen? -
Um 13:30 sagte ich.

Als ich vom Arzt zurückkehrte, war meine Schwester gekommen. Sie und Frau T., eine Haushaltshilfe der Diakonie, begannen zu packen. Sich ums Mittagessen zu kümmern. Ich benachrichtigte die Nachbarn.
Gegen 13:15 machte ich mich mit meiner Tante auf den Weg zum Krankenhaus. Gleich am Empfang ein der Tante bekanntes Gesicht: die Tochter eines Einzelhändlers aus der Nachbarschaft, bei dem meine Mutter und die Tante ihr Leben lang eingekauft hatten.
Aufnahme in Zimmer 312.
Bald danach kamen meine Schwester und meine Mutter im Krankenwagen. Wir brachten Mutter auf ihre Station. Ärztinnen kamen und fragten nach ärztlicher Vorgeschichte, Krankengeschichte, sagt man Anamnese? Ja.

Gegen 15 Uhr waren die Damen gebettet, für mein Gefühl sehr gefasst, meine Schwester und ich gingen hinüber zum Altenheim, um mit dem Leiter zu sprechen.
Folgendes wird schnell klar:
Unsere Tante könnte vorläufig das Besucherzimmer beziehen, unsere Mutter ein Doppelzimmer im ersten Stock, in dem eine Frau V. lebt.
Wollen wir das? -
Mit welcher Option? -
Sobald etwas frei wird, ist alles möglich.
Sowohl Tante und Mutter im Doppelzimmer als auch beide in Einzelzimmern.
Bis wann müssen wir uns entscheiden? -
Bis spätestens morgen.
Wir gehen zu Mutter und Tante und sagen ihnen, was wir gerade gehört haben.
Sie sind einverstanden.

Seitdem lebten die beiden im Altenheim.
Die Tante starb am 30.März 2003, einen Tag vor ihrem 95 Geburtstag.
Die Mutter (ihre Schwester) starb am 11. April 2003, einen Tag vor ihrem 96 Geburtstag.

Die folgenden Aufzeichnungen sind in der Zeit vom 21. 09. 1998 bis zum 11. April 2003 entstanden.

Die Kühe standen nicht mit dem Arsch zu Nordost,  als ich gestern nach Gronau fuhr. Sie  fraßen sich in den Morgen. Ihre Ärsche verdampften Nordwest. 

Das Land bei Tinge verdunstet. Wiesen, Hecken, vereinzelt fast schwarz wirkende Eichen. Prall volle Apfelbäume. Dülmener Rose darunter, der Baum im Garten meiner Eltern. Ein süß-saurer Apfel,  der, wenn er gerade richtig ist, rotwangig sein sollte. Im Gras der Weiden liegen Kälber schwarzbunt und rot, haben alle Viere von sich gestreckt und träumen den Kälbertraum. Schon hinter der nächsten Kurve verengt sich der Blick und ich bin zurück im Maiswald. Vereinzelt bricht weißes Licht grell durch den Dunst, dann wieder setzt er sich in Tröpfchen auf meine Windschutzscheibe. 

Darüber lacht Mutti (93 Jahre alt, blind, seit sechs Jahren bettlägerig): bei unserem Besuch letzten Mittwoch fragte sie, ob wir am Bett säßen oder stünden?
Wir stehen, sagte ich.
Darauf sie: da könnt ihr mal sehn, wohin ich gekommen bin. Nicht einmal Stühle für Gäste gibt's hier. -
Doch, gibt es schon, Mutti, sage ich, aber die sind teurer. Was glaubst du, was es kostet, uralte Omas wie dich anzuschauen. Stehplätze konnten wir uns  gerade noch leisten.
Darauf verzieht sich ihr zahnloser Mund und sie lacht laut und lang. 
Wundervollerweise fügt sich dieser Tag meinen Wünschen: ich tue gar nichts, ich meine, nicht, dass ich nichts täte, nein, ich habe schon dies und das getan, aber mein Herz tut überhaupt nichts, es hat sich für heute Urlaub genommen, es wird sich verwöhnen, es wird nachher (so gegen Abend) einen Whisky trinken, den Glückwunsch Whisky, den C. mir gestern geschenkt hat, vielleicht lässt es sich sogar zu zweien hinreißen, das weiß es noch nicht, es wird einfach stille sein, auf den Roman scheißen, den es beenden muss, heute und morgen, denn morgen ist Feiertag, und da werden C. und ich nach Enschede fahren, ein wenig Holland schnuppern, Fritten essen, durch jedes Geschäft stöbern, nachmittags Mutti besuchen, die alte großartige Dame, die einfach keinerlei Lust zeigt, dieses Leben gegen den Tod auszutauschen.

91 Jahre, ein Aprilscherz, die Tante, die mit Karin, mir und den Nachbarskindern spazieren ging, wenn sie in G. war. Die Tante Änne. Die alle Kinder mochten. Sie weiß nie, was sie will und ich glaube, sie spricht mit zwei Zungen. Ich weiß nicht, was ich mit ihr reden soll.
Morgen (nachher) besuche ich sie. Seit sie im Altenheim lebt, wird sie dicker und dicker.
Die ersten drei Monate dort waren schwer für sie.
Jetzt fühlt sie sich wohl. Sehr wohl. Sie erkennt meine Schritte im Flur.
"Hermann?" sagt sie, und ich sage "Moin Tante Änne."
Wenn es nicht regnet, rolle ich sie durch die Stadt, wir gehen auf den Markt, ich esse einen Matjes (een haaring met oitjes alst uw belieft), nehme einen für Mutti mit,  sprühe mich auf dem Rückweg vor der Parfümerie mit teuerstem Parfüm ein (letzten Mittwoch Allure von Chanel), das dort in einem Drehständer steht, vielleicht gehen wir noch zum Türken, wo ich scharfe Würste kaufe, kleine gekrümmte Gurken und Fladenbrot und mir anhöre, wie Tante Änne sagt, dass die Türken dem Markt das Geschäft vermiesen und ich (wie immer) antworte, dass das nicht stimmt.
Aber dann geht es wirklich zurück und ich füttere Mutti. Sie liebt Matjes. Beim letzten Mal hat sie anschließend Schokolade gegessen. Das pürierte Essen, das sie kriegt, seit ein Pfleger vor einem Jahr ihr Gebiss verschlampt hat,  mag sie nicht. 
Seit über zehn Jahren bin ich einmal die Woche bei Tante Änne und ihr. Meist mittwochs. Karin fährt samstags. Seit zwei Jahren sind die beiden im Heim. Seit drei Jahren lebt Vati nicht mehr. Seine Urne steht auf meinem Klavier. Wenn Mutti stirbt, will ich die beiden in der Dinkel bestatten. - 

Ich hab dich gesehen heute. C. und ich kamen von Enschede, es regnete und wir fuhren durch deine Strassen. Du bist das Hässlichste, was ich mir vorstellen kann. Wofür brauchst du einen Inselpark? Wer, glaubst du, soll dort spazieren gehen und seine in deinen Ramschläden gekaufte Mode zur Schau stellen? Es wäre besser gewesen, man hätte dich abgerissen, nachdem die Textilindustrie zusammengebrochen war. Oder dich einfach verlassen. Dann wärst du jetzt eine Geisterstadt. Stattdessen setzen sie dich jetzt Stück für Stück wieder zusammen. Wofür? Könnte man das viele Geld nicht für etwas anderes ausgeben. Sogar ein Rockmuseum bauen sie dir. - Dass ich nicht lache! Glaubst du, nur weil Udo L. sturzbetrunken durch deutsche Fernsehstudios taumelt, hätten Menschen den Wunsch, vor Ort seinen Spuren zu folgen, zu sehen, wo er diesen tumben Gang und seinen blöden Sprüche gelernt hat? Nein. Verdampf dich! Ich glaube dir kein Wort. Ich kenne dich. Ich habe dich so geliebt. Wie oft habe ich davon geträumt, zu dir zurückzukehren. Wir würden uns billigen Wohnraum kaufen, dachten wir, am liebsten da, wo jetzt alles türkisch ist, aber dieser Wunsch hat sich über die Jahre verflüchtigt. Ich will dich nicht mehr sehn. Du tust mir weh. Du bist mir nicht klug genug. Du liebst nicht, was ich liebe. Am Besten wäre, es hätte dich nie gegeben. Also weg mit dir, Gronau. Belästige mich nicht länger.

Man riecht Urin und Stuhl, wenn man das Gebäude betritt. Manchmal schreien die beiden Papageien, die in einer Voliere des Eingangsbereichs leben. Man geht ins erste Stockwerk und der Geruch verstärkt sich. Man atmet durch und hat sich schon daran gewöhnt.
Man betritt eines der Zimmer und sieht eine alte Frau mit geöffneten, toten, seit einem Jahrzehnt an grauem Star erkrankten Augen, reglos. Man spürt, dass ein Strom durch den Körper rast. Er füllt jedes Gefäß, er erreicht Haarspitzen und bringt Gedanken zum Schweigen.
Aber nein! Die Frau bewegt sich. Jetzt hat sie die Augen geschlossen.
Es stimmt. Sie liegt so seit Jahren. Es stimmt. Sie klagt nie. Es stimmt: sie ist seine Mutter. Aber eines stimmt nicht: sie ist nicht tot. Im Gegenteil: hellwach will sie wissen, wie er sich denn eigentlich verpflege, wenn er mit seiner Familie auf diese holländische Insel fahre, jeden Herbst, ob er da immer ausgehe oder...?
Nein, antwortet er, wir können doch kochen, wir haben doch eine Küche.
Ja, sagt sie. Natürlich, ich dachte auch schon. 

Menschen: die Tante mit ihrer Nörgelei, dass die Krankenkasse das und das nicht mehr zahle und ihrer ein Leben lang unterdrückten Fähigkeit, sich zu etwas zu äußern:
Tante Änne, willst du ein Eis? Schweigen. Ja? Ach, ja, nä. Also was nun? Ja. Und die Sorten? Ach egal.
Irgendwann geht es um die Türken,  die den anderen das Geschäft kaputt machen, und ich erkläre ihr zum tausendsten Male, dass es normal sei, dass Geschäfte miteinander konkurrieren.
Wenn sie wenig später dann sagt: läuft man aber schnell runter, oder: jetzt ist Lotti N. auch schon seit fünf Wochen tot, dann, spätestens dann liebe ich alte Menschen nicht mehr, kein bisschen liebe ich sie, und der Tante würde ich am liebsten um die Ohren hauen, dass ihre Existenz am Faden der Barmherzigkeit des Sozialamtes hängt, stattdessen schiebe ich ihren Rollstuhl den Hügel zum Krankenhaus hoch und brilliere mit dem auch schon ziemlich abgestandenen Witz vom Erbe, dass sie jetzt gleich auf mich überschreiben müsse, andernfalls ließe ich sie den Hügel hinab rollen.
Da lacht sie und dann fallen ihr Sätze über den Park ein, der so wunderschön sei und dass nie jemand von den Alten dort säße. Ich schiebe sie vor die automatische Tür und denke, die wird hundertzehn, also werde ich noch in fünfzehn Jahren (wäre dann 67) hier im Ruf stehen, ein guter Neffe und noch besserer Sohn zu sein.
Ja. So geht das jeden Mittwoch. Und ich bin ja noch nicht einmal am Ende. Jetzt geht es nämlich zu Mutti und was das für Schrecken verursacht, davon ein anderes Mal.


Ich werde aufstehen, ich werde Kaffee trinken, ich werde die Wohnung verlassen und über Landstraßen in meine Stadt fahren, um sie zu sehen. Sie ist blind. Wie sie da liegt und liegt und nichts preis gibt.  Und ich. Ich, der Matjes mitbringt und Erdbeeren. Ich, der nichts preis gibt. Ich füttere sie, ich sage, dass ich vorgestern die Reise bezahlt habe und mich freue. 
"Wo sind denn die Hebriden?" fragt sie und ich erkläre es ihr.
"Ah", sagt sie, "wo du auch immer hinfährst."
Den Matjes isst sie zuerst. "Jetzt bin ich aber satt", sagt sie nach ein paar Happen, "ist noch viel da?"
"Ja", sage ich, "das ist nämlich gar kein Matjes, ich habe dir Hai mitgebracht."
Da lacht sie. Ihr Gesicht mit den wechselnd aktiven Schwären auf den Wangenknochen leuchtet auf . Ich frage sie, ob sie jetzt Erdbeeren will, und "willst du Milch, Mutti", worauf sie ja oder nein sagt und ich dies tue oder das.  Dabei schaue ich sie an und denke, ich würde ein Kissen auf ihr Gesicht legen, wie sie das früher getan haben, wenn keine Aussicht mehr war, zwei Minuten könnte das gehen, wenn ich es gut mache, ein Aufbäumen würde da sein, und dann würde ich gehen. Würde das Tablett zurück in den Essenswagen stellen, ein paar Sätze mit der Pflegerin aus Kasachstan wechseln, die so freundlich ist, ich würde das Haus verlassen und über die gleichen Wege zurück fahren. In der Meteler Heide würde ich anhalten, aussteigen und in den Graben pinkeln. Zu Hause würde ich mich aufs Bett legen und schlummern. Und dann würden sie anrufen. 

Ich kann mich nicht erinnern, dass sie je zärtlich war. Ich kann mich an gar nichts erinnern. Die Bismarckstraße und jede mit ihr aufsteigende Geschichte könnte eine Erfindung sein. Ein Traum, den man träumt und als sein Leben ausgibt. Nur wenn ich sie liegen sehe in ihrem Totenschiff, in dem sie schon so lange liegt, wenn ich sie sehe, wie ich sie letzte Woche sah, als ich in ihr Zimmer kam und sie eines der Lieder sang, die sie in ihre Gegenwart hinüber gerettet hat, kann ich nicht umhin, sie zu lieben.
"Das machen nur die Beine von Dolores, dass die Senores ...." singt/spricht sie und ahnt nicht, dass ich in der Ecke des Zimmers sitze und zuhöre. Sie sieht und hört ja nicht, sie ist ja ganz allein mit sich in ihrer vierundneunzig Jahre alten Welt, und ich weiß nicht, wie ich ihr begegnen soll.
Einmal mit den Fingern geschnippt, schon könnte sie für immer fort sein, morgen schon, jetzt, und ich werde zurück bleiben und nie erfahren haben, was das zwischen uns war, zwischen ihr und mir und warum sie nie zärtlich war und ich nie mit ihr sprach. So eine Mutter ist das und so ein Sohn bin ich. Und mein Vater, der warm war, ist vier Jahre tot. 

Sie sitzt im Rollstuhl. Ihr Kopf ist vornüber gesunken, sie schlummert. Dann hebt sie den Kopf, ihre faltigen Augenlider flattern, sie schaut auf.  Draußen ist ihre Stadt, aber manchmal zweifelt sie. Sie kann schauen und doch nicht erkennen, und dann wieder weiß sie genau, dass da damals der und der gewohnt hat. Die Blätter tanzen und sie hofft, dass es aufklart, aber der Neffe sagt Gegenteiliges, und da sieht sie es auch, dass ja die Wolken sich ballen zum Westen. Sie würde schon gern an die Luft, aber sie fürchtet Erkältung. Sie würde schon gern, aber sie fürchtet, dass dann wieder Worte fehlen. Worte, die sich nicht einstellen wollen. Vor der Kirche stehen und nicht Kirche sagen können. Den Fluss sehen und nicht sagen können, dass er Dinkel heißt. Worte, die dann doch wiederkehren, als wären sie nur kurz auf und davon gewesen. Und während der Neffe ihr Fotos zeigt, schärfen sich ihre Mundwinkel wie tief sitzende Schießscharten, und sie glaubt nicht wirklich, was sie da sieht. Das geht sie schon lange nichts mehr an. Stattdessen sagt ihr Gesicht, dass sie ihn sehen kann. Sie kann ihn hören. Sie riecht ihn sogar, aber er tut ihr den Gefallen nicht. Er lässt sie sitzen. Von morgens bis abends und durch die tiefe lange Nacht des November. Ob es ein Frühjahr gibt? Sie weiß es nicht. Sie weiß ja manchmal nicht einmal mehr, ob es gleich Essen gibt oder ob es schon Essen gegeben hat. Ihn kümmert das einen Dreck. Der Neffe geht. Er hat noch einen Besuch zu machen. Er muss sehen, wie es der Mutter geht, die noch älter ist. Aber seltsam: die will nicht einmal, dass er ihn erwähnt. Nein. Darüber will sie nicht sprechen. Dabei dauert die Nacht, die sie umgibt, vierundzwanzig Stunden und wieder und wieder so viele Stunden. Wahrscheinlich sitzt er an ihrem Bett, und sie machen Witze.   

Es ist inkontenent, es riecht nach Stuhl, es lebt noch, es ist schon gestorben, es läuft nicht, es sagt nie, was es will, es ist eine Tante. Es ist meine Tante. Da liegt sie. So hell und schon schlafen, sagt sie. Es ist noch nicht Abend, sage ich. Und so geht das jetzt und hört dann mit einem Mal auf. Ein Mal, das ich fürchte, ein Mal, nach dem ich mich sehne. Es ist so, es ist aber auch nicht so. Es ist dies und das. 

Sie hat nicht bemerkt, dass ich den Raum betreten habe. Sie spricht. Noch verstehe ich nicht, aber ich beschließe, mich still neben ihr Bett zu setzen und zuzuhören. Das, was ich sprechen genannt habe, ist Singen für sie. Sie liegt da und singt: Marmor Stein und Eisen bricht. - Ich hab' das Fräulein Helene, baden sehn, das war schön.Pack die Badehose ein.  - Ich hab mein Herz in Heidelberg verloren. - Im Prater blüh'n wieder die Bäume. - Sie singt die Lieder nur an. Zwischendurch spricht sie. Sie sagt: Bei Laurenz, die Frauen beim Tanzen, die drücken sich gegen die Männer. Die Männer haben das gerne. Ich mag da gar nicht hinsehen.  Sie sagt auch: Ich sage Morgen. Ich sage Abend. Er geht mit ihr zur Kirche. Arm in Arm kommen sie wieder raus. Sie trinken eine Flasche Wein. Sie liegen nebeneinander im Bett. Sie sagt: Else kocht Schokoladenpudding. Ich stricke drei Söckchen für die Kinder. Ich stricke ja gern. Sie sagt: Ihr Mann ist ja tot. Herzschlag. Sie wohnt jetzt in einem Altenheim in Glanerbrücke.  Sie sagt: Bernd Schrader, Tierarzt in Uelsen. Sie sagt:  Ich kann das Kleine ja großziehen. Ich habe ja Zeit. Sie sagt: Alles schreibt er ihr vor. So ein Mann wäre nichts für mich. Er holt sie sogar ab, obwohl sie doch nur auf der anderen Straßenseite war. -
Ich melde mich. Ich tue so, als sei ich gerade erst gekommen. Ich sage, Guten Tag Mutti. Ich verschweige, dass ich die ganze Zeit zugehört habe. Ich frage mich, ob ihre kreisenden Erinnerungen den Tatsachen entsprechen, sich den Tatsachen annähern, oder freie Erfindungen sind, die sie aus verschiedenen Quellen ihres langen Lebens speist. Es ist durchaus möglich, dass das Leben an sich eine Erfindung ist.
So, wie sie da liegt, erinnert sie mich nicht an meine Mutter. Sie ist eine uralte Frau. Und alle sagen, sie sei meine Mutter. Hoffen wir, dass es stimmt. Ich weiß allerdings mit Sicherheit, dass sie im gleichen Haus wohnte, in dem ich auch gewohnt habe. Jedenfalls sagt das meine Erinnerung. Hier schließt sich der Kreis. Sie singt: Das machen nur die Beine der Dolores, dass die Seniores...


Als ich meine Mutter letzte Woche besuchte, bat sie mich, Vitaminbonbons, Saft und einen Labellostift für sie zu kaufen. Ich ging zum Supermarkt an der Gildehauser Straße. In der Nachbarschaft wurde gerade das Möbelhaus M. abgerissen, ein Bau aus den Sechzigern, einst hochmodern, aber seit die Möbelmärkte an den Stadträndern so groß sind wie Fußballplätze, längst überholt. Bagger mit Greifzangen brachen Wände um, während ein Arbeiter Wasser auf die Trümmer spritzte, um den Staub zu bändigen. Ich kaufte ein und ging zurück. Ein blauer Wasserschlauch lag am Weg. Er endete an einem Hydrant kurz vorm Altenheim. Ich unterbrach die Wasserzufuhr und machte mich aus dem Staub.

Ein Bett nur, darin: SIE. Bettlägerig seit ihrem Sturz vor sieben Jahren. Blind. Fast taub. Klaglos. Das Bett ist hydraulisch. Die Hydraulik unterscheidet acht Stellungen. Neben ihrem Bett ein Nachttisch. Darauf eine sprechende Uhr, zwei Flaschen Pfirsichsaft, Vitaminbonbons, Creme. Auf der Fensterbank ein Radio und ein Telefon. An der Wand hinterm Kopfende des Bettes Fotos vom Vater, von der Mutter, von den Schwiegereltern, den Kindern und Enkeln. Die Wände sind weiß. Obwohl ich das Zimmer einmal pro Woche  betrete, weiß ich nicht, wie der Fußboden aussieht. (Manchmal graut mir vor meiner Unaufmerksamkeit.) Aus diesem Zimmer gibt es kein Entkommen. Hier wird SIE sterben. Ich hoffe, dass ich bei ihr bin.

Der heitere Raps, die zuversichtlichen Buchen, der vor Freude leuchtende Löwenzahn, der Wehmut der ersten gemähten Weiden, das peitschende Gelb von Ginster, die verschwiegenen Kuckucksnelken an Böschungen, über Land, einmal Mutter Hin und Zurück.

Morgen würde ich 92. Als ich starb, war ich fast 87. Als ich versuchte zu sterben, war ich 43. Nichts würde so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Alles war durch den Krieg durcheinander geraten. Meine Frau war mir fremd. Meine Tochter nannte mich Onkel. Es hatte Jahre gedauert, bis die Träume nachließen. Dabei wollten alle, dass es sofort weitergeht. Vorwärts! Vergessen! Ich war kaum einen Tag zurück aus den Erdlöchern meiner letzten Station der Gefangenschaft in Belgien, als mein Vereinsvorsitzender vor der Tür stand und sagte, du spielst doch wieder, oder? Ich spielte. Aber ich hatte meine Kraft verloren und wollte nicht länger in diesem Land bleiben. Ich wollte in Amerika leben. Ich hatte gespürt, dass es dort Chancen gab. Meine Frau sagte nein. Nie im Leben wolle sie fort, nie nie nie. Und dann kam der Tag, an dem ich mich entschloss, zu sterben. Ich saß auf den Schienen der Dortmunder Bahn, ich erwartete meinen Tod, den Nachmittagszug. Ich war sicher, ich wäre mutig genug. Dann hörte ich meinen Namen. Ich schaute auf und sah meine Frau und meinen Sohn. Sie rannten in meine Richtung. Ich stand auf und lief ihnen entgegen. So ist es gekommen, dass ich 87 wurde. Ich habe kein Wort mehr über diesen Tag im Jahr 53 verloren. 


Sie sagen, dass es auch für ein professionell arbeitendes Pflegeteam schwer sei, loszulassen und wir nicht glauben sollen, dass man so eine Entscheidung übers Knie bräche, aber man müsse zeitig darüber sprechen. Schließlich wolle niemand, dass die Patientin verhungere. Sie sprechen von einer Magensonde und sagen, man müsse erwirken, das wir Kinder eine amtsrichterliche Bestellungsurkunde erhielten, um gegebenenfalls Entscheidungen treffen zu können. Wir hätten ja selbst gesehen, dass die Patientin Speisen verweigere, sie habe kein Körpergefühl mehr und lebe in ihrer eigenen Welt.
Jeder lebe in seiner eigenen Welt und das sei auch gut so, antworten wir. Und  dass sie nun Speisen verweigere, habe einzig und allein damit zu tun, dass sie diesen undefinierbar pürierten Brei nicht möge. Sie sollen mal sehen, wie die Patientin den Mund aufmache, wenn wir, die Kinder, ihr Matjes brächten oder Erdbeeren oder Pfannkuchen.
Wir sagen nicht, dass wir ihr das Recht gönnen, nicht mehr zu essen. Wir sagen auch nicht, dass wir ihr das Recht gönnen, nicht mehr zu trinken. Aber wir werden verhindern, dass eine Magensonde gelegt wird. 

wie sie schläft / tief im 96 jahr / wie du hoffst / und dir wünscht / euthanasie wäre kein furchtbares wort / sondern barmherzigkeit unter tieren / wie die scham schleimspuren auf dir zieht / die sich nicht wegwischen lassen / so liegt man / wenn man ein leben gelebt hat / fragst du / ohne hoffnung auf antwort / so liegt man / wenn der körper austrocknet und das hirn wahnbilder zeichnet / und du brächtest es fertig / dass du erträgst / hättest du nur geduld / könntest du nur dich hingeben / aber wie geht das /

Die Verwirrung der Jüngeren (Tante) ist mit der der Älteren (Mutter)  nicht zu vergleichen. Glaubt sich die Jüngere etwa in einem neuen Zimmer untergebracht, wohl verwundert darüber, dass der Blick nach draußen der gleiche ist, die Bilder an den Wänden die alten sind und die Möbel ebenso,  ist sie also verwirrt in der Gegenwart, herrscht bei der Älteren ein Durcheinander aller Zeitebenen. Jeder Tag ihres gelebten Lebens erscheint gegenwärtig, wirkt aber, wenn sie darüber spricht, folgerichtig.
Für mich war es daher beunruhigender, der Jüngeren als der Älteren zuzuhören. Die Ältere setzte meine Gegenwart (was machen die Kinder, wann fahrt ihr nach Berlin) gleichberechtigt neben Geschichten die sowohl wahr als auch unwahr sein können, aber deren innere Logik nicht verwirrt ist. Daher 10 Punkte für amüsantes Fabulieren für die Ältere, 5 Punkte für das Durcheinanderbringen von Alltag für die Jüngere.  

Leise ist das Zurückkommen, und immer mit Schmerz verbunden. Mal ist es der Schmerz darüber, dass sich nichts verändert hat, dann darüber, dass alles kurz vor einem lange erwarteten Ende angekommen ist. Danach wird man sich Gedanken darüber machen, was in der Zeitung stehen soll. Währenddessen gehen wir der einen Tätigkeit nach, die das Warten verschleiert: wir schlendern durch Geschäfte und kaufen. 

Raubvögel tanzen am Himmel, Igel, unterwegs tot und lebendig, atemlos Sonne in leuchtendem Horizont.  Alle Vögel? schon fort, alle Felder? geerntet, die Wiesen noch immer bewohnt. Inmitten ICH und die Greisin, die heute von Menschen umringt ist, Menschen, wohin ich schaue, sagt sie und auf meine Frage, ob sie welche erkenne, sagt sie nein. Zu Hause warten Sätze auf mich. Täglich kommen neue und immer mehr. Ich werde Acht geben müssen. 

Erschreckt / wenn er bedenkt / der genannte Tag könnte überschattet sein von einem anderen / tragischeren Ereignis / dessen Eintritt er jeden Tag erwartet. Trotzdem / gestern  / als er in ihr Ohr sprach / wusste sie sehr genau / wer er war / und auf die Frage / wo er denn gewesen sei die letzte Woche / sagte sie von ganz fern: Berlin. / Überhaupt diese Ferne / wo ist sie / wen trifft sie dort? -

Er schuettete den Sand aus der Urne und zeichnete mit dem Finger darin.
Vati. Feine, weißgraue Asche, von Muscheln durchsetzter Sand, Kalksplitter, Vati.
Mit den Händen schob er die Asche zu einem kleinen Hügel. Mehr nicht, Vati. Zerrieb ein wenig davon zwischen den Fingerspitzen, die weiß wurden. Schaufelte sie zurück in die Urne und machte sich auf den Weg.
Es gab Lieblingsplätze. Die drei Linden auf dem Berg, der sich allein weit und breit aus der Ebene erhob, der den Blick freigab auf das Land bis zur Grenze, der im Innern ausgehöhlt erst den Nazis, dann der Nato als Raketenbasis diente, dorthin fuhr er mit ihm.
Sagte, weißt du noch, Vati, du und ich auf Onkel Hans Motorrad, wie mein Haar flog und wie dann der Motor streikte und du uns einfach den Berg hinabrollen ließest, bis der Motor sich nicht länger weigern konnte und knallend ansprang? - Eine Handvoll, einverstanden? - Die Asche verwehte, stand in der Luft wie ein Hauch, während die Kalksplitter zu Boden fielen, Spreu und Weizen. Komm, Vati, weiter. -
Der Ausflug nach B. -
Ich war acht oder zehn und ein anderer Onkel, ich habe seinen Namen vergessen, hatte uns zu einer Landpartie eingeladen. Er besaß ein Auto. Und auf dieser weiten Straße, die gewellt vor uns lag, weit und grau, erreichte ich zum ersten Mal in meinem Leben hundert Stundenkilometer. Der Himmel über mir flatterte wild, die Welt links und rechts löste sich auf in verschwommenem Grün, zerschnitten vom Rausch der Geschwindigkeit. Und du riefst: Geht es nicht schneller, Heinz. - Richtig, jetzt weiß ich es wieder. Er hieß Onkel Heinz. Aber schneller als hundert ging damals noch nicht. - Zwei Hände voll, einverstanden. Sollst über der Straße schweben auf ewig und jeden beschützen. -
Und ein wenig von dir muss auch in den Fluss, der dir so nah war. Das Wasser ist Mutter. Vom Wasser kam alles. Kannst über ihm schweben, kannst weich und weiß langsam eintauchen und einmal das Meer erreichen. - Nun treib schon davon, Vati, geh. -
Und was übrig bleibt, Vati, stelle ich auf mein Klavier. Ich werde dich bei mir haben, die ganze Zeit, werde ab und an mit dir sprechen, und wenn Mutti dann tot ist, wenn Mutti auch Asche ist, so wie du, dann werde ich euch in einem Eimer vermischen, so dass keiner mehr unterscheiden kann. Und dann fort mich euch in den Fluss. Dann will ich euch nicht mehr sehen. Dann ist es aus und vorbei. Dann habe ich lange genug für euch gesorgt.

Die Geschichte des Zentrums meiner Heimatstadt wird zum zweiten Mal innerhalb der letzten vierzig Jahre neu geschrieben. War es Anfang der 60er der Abriss der Altstadt mitsamt eines ehemaligen Damenstiftes zugunsten eines schon bald nach seiner Errichtung wegen seiner Tristesse von allen verspotteten innerstädtischen Platzes mit Tiefgaragen, waschbetonverkleideten sechs- bis achtstöckigen Häusern und einem ebensolchen Kaufhaus, ist es nun - fünfundzwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch der Textilindustrie -  die Verwandlung einer riesigen Industriebrache in einen von Kanälen durchzogenen Park, an dessen nordöstlicher Peripherie sich eine Pyramide von respektabler Höhe erhebt. Der ehemaligen Turbinenhalle der Textilfabrik steht die Wiederauferstehung als Rockmuseum bevor. Die Brücken über die Kanäle sind geschwungen, die Handläufe aus gebürstetem Edelstahl, die Uferpromenaden aus hellgrauem Granit (?), es gibt Ufertreppen, beleuchtet wird das Areal von kühlen, postmodernen Halogenlampen, da alles sieht gut aus, ja, aber mir ist es zu mondän und ich bin gespannt, wie das ausgehen wird, wenn es fertig ist. 
Schob meine Tante, die jetzt 94 ist und diese Stadt schon längst nicht mehr wieder erkennt, mitten durch diese erfundene neue Welt. Was sie sich fragt, frage auch ich mich: wer bezahlt das alles? Was ich mich darüber hinaus frage: welche Vision steckt dahinter? Wie soll der Dinkelpark die Situation einer Grenzstadt mit 17% Arbeitslosen zum Besseren wenden? 

Ich höre ihn, wenn ich atme. Mein Husten gleicht seinem. Ich sehe ihn im Spiegel. Meine Stimme hat etwas von seinem Timbre. Jeden Tag entdecke ich ein wenig mehr von ihm an mir, aber ich fürchte mich nicht. Ich bin glücklich, dass er bei mir ist. Als er noch lebte, war das anders. Da habe ich mich oft über ihn aufgeregt. Da wollte ich nicht so sein wie er. Von ihr entdecke ich nichts. Aber sie lebt ja auch noch. Vielleicht muss sie erst sterben, damit ich erkenne.

In den letzten drei Wochen war sie weit fort. Wenn ich in ihr Ohr sprach, wenn ich fragte, wer bin ich, kam als Antwort immer nur ein gehauchtes Ja wie aus tiefem Traum, und ich wusste nie, was das für ein Land war, aus dem sie zu mir sprach, falls sie mich meinte. Heute war sie in der Gegenwart. Unterm Bett stand ein paar Schuhe. Sie hatte die angemahnt. Vor Wochen hatte sie gesagt, sie brauche Schuhe, ich müsse ihr Geld holen. Ich hatte mich rausgeredet, ich hatte gesagt, beim nächsten Mal, um nicht sagen zu müssen, dass sie nirgendwo mehr hingehen wird. Ich hatte aber auch überlegt, ihr Schuhe zu besorgen. Es hätten keine neuen sein müssen, aber das Gefühl, dass Schuhe dastünden, hätte sie beruhigt.
Offenbar hat nun das Personal der Station dieses Spiel mitgespielt. Ich finde das einfühlsam und sehr aufmerksam. Sie sagt, die Schuhe passten hervorragend. Obwohl sie sie ja eigentlich nicht brauche, denn sie gehe ja doch nirgendwo mehr hin. Das alles wusste sie heute. Vielleicht ist sie beim nächsten Mal schon wieder fort. Sie zu besuchen, ist schwer.

Die Terminalphase hat begonnen. Unser Atem geht kurz und schnell. Wir scheinen im Koma, aber wir registrieren alles. Unter den halb geöffneten Lidern bewegen sich unsere Augäpfel von links nach rechts. Unsere Körper kämpfen. Unsere Körper sollen aufgeben. Unsere Körper sollen endlich Platz machen. Unsere Seelen wissen längst, wo ihr Platz ist. Stattdessen pumpen unsere Lungen Salve um Salve, um sich am Ende doch eingestehen zu müssen, dass es umsonst war. Unser Urin sieht aus wie Blut. Unsere organischen Defekte mehren sich. Der Verfall ist augenscheinlich. Aber wir kämpfen.


Ist der Kampf dann vorüber, hat die Vernunft (die Seele, Gott, ???) Oberhand gewonnen und uns Kämpfer verlassen, bleibt nichts als Hülle. Wohin man schaut, was immer von uns erdacht und erbaut wurde, hat keinen Wert mehr. Es wird verfallen. Niemand wird eine Träne darum weinen. Andere werden übernehmen. Andere, die gelernt haben, sich anzupassen.

Wie schön das damals gewesen sei, sagen alle. In der Bismarckstraße. Wie da alle zusammengehalten hätten. Und der kleine Hermann! Wenn der im Kinderwagen in der Sonne vorm Haus gestanden hätte, hätten sie mit ihren Hudora Rollschuhen nicht fahren dürfen. Das hätte ihn ja geweckt. Und wenn er im Garten von Lingemann in der Sonne gestanden hätte, hätte Herr Lingemann gesagt, der kleine Hermann ist zum Dienst erschienen. Und später, wenn die Mutter ihn gerufen hätte, Heeeeermann, dann hätte er so getan als höre er gar nicht, obwohl doch die durchdringenden Rufe seiner Mutter weit und breit zu hören gewesen wären, lauter noch als die Rufe der Hausmeistersfrau vom Rathaus, die immer Hääääänschen gerufen habe.
Und wie man vor der Haustür gesessen habe an Sommerabenden.
Wie schade es sei, dass man sich immer nur zu solch traurigen Ereignissen träfe, eigentlich müsste man mal ein Treffen veranstalten, nur so, aber das müsste schon jemand in die Hand nehmen, das ginge ja nicht so von heute auf morgen. Aber nun, es sei wie es sei, auch wenn es traurig sei, wenn man so alt würde, wie die Verstorbene, könne man nicht meckern. Da dürfe man ruhig sterben.
Alle nicken. Dabei trinken alle Kaffee und essen Brötchen und Fotos werden herum gereicht, Fotos aus längst vergangenen Zeiten, als man sich noch Zeit nahm, sich herrichtete, wenn der Fotograf kam: keine Schnapschüsse aus der Hüfte wie heute, sondern sorgfältig arrangierte Stilleben: Tante, Tante, Mutter. Mutter, fremder Herr, Tante, fremder Herr: Heinz.
Heinz, ja, der sei vor ein paar Jahren plötzlich aufgetaucht, um sich von der Tante und der Mutter zu verabschieden. Krebs. Der habe wohl geahnt, dass er bald gehen müsse und wollte alle noch einmal sehen. Und dann sei er ja auch bald gestorben.


Strahlend der Tag. Seit dem Tod meiner Tante und meiner Mutter, die innerhalb von zehn Tagen jeweils einen Tag vor ihrem Geburtstag starben, ist eine Last von mir, die ich kaum beschreiben kann.
Ich möchte schlafen und schlafen und schlafen.

Höchsten, dass da ein Staunen in ihrem Gesicht war, als sie vom Leben in den Tod überwechselte, ein Staunen, ja, aber keinerlei Zeichen von Angst. Seit sie fort ist und mit ihr die Sorge, hat mich die Trauer um sie schwer und schwerer gemacht. Schlafen will ich nun, in einem fort schlafen, und ich schlafe auch, tief wie seit Jahren nicht mehr, und ich werde so lange schlafen, bis wieder Kraft da ist, die mich trägt.
Und dann nehme ich sie und verstreue sie und die Tante und den Vater, der seit Jahren auf meinem Klavier steht und wartet, und dann fängt das Leben da an, wo es immer anfängt, wenn etwas aufhört.
So etwas geht aber nicht von heute auf morgen.


Hier also: zweieinhalb Stunden vor meiner Lesung, hier also sitze ich voller Gedanken an sie. Wie im Leben ist ihre Schwester auch im Tod hinter ihr verschwunden, spielt als zu Betrauernde nur eine untergeordnete Rolle, ist auch noch da, eine, die zehn Tage vorher starb und doch schon viel weiter fort ist als ihre ältere Schwester: meine Mutter.
Hier also sitze ich. Tiefen Schlaf hat mir der Tod gebracht. Nahezu sorglos erwache ich. Denke an Sie. An die Eine und an die Andere. Noch längst nicht erledigt hat sich das Leben der beiden, so lange ich bin, sind sie auch, aber eben: hierarchisch gestaffelt. Das Leben: der Tod: alles eins.
Zum Welttag des Buches lese ich gleich aus der "Sackgasse 13". Es ist ein wenig verhangen heute, das kommt mir entgegen. Bei strahlendem Sonnenschein wäre es nicht ganz leicht, Kinder schon um 10:30 das Gruseln zu lehren.
Ein seltsames Haus war das, das Haus in der Bismarckstraße 22...
Meine Straße. Meine Leute. Fort jetzt. Ihre Hüllen sind Asche. Ich bin der Nächste.

Zedern stehen dort, Blutbuchen, Buchen und Linden inmitten eingeebneter Gräber, die jetzt Wiesen sind, hier und da zeugen noch Grabsteine vom Vergangenen. Er kannte die alten Wege noch, die er gegangen war, wenn er mit der Mutter das Grab der Oma besuchte. Die Oma und die älteste Schwester, die im Alter von drei Jahren gestorben war. Beide hatte man hier beerdigt.
Er nahm die erste Urne, öffnete sie, hielt sie weit von sich, hielt sie schräg und vollführte zwei, drei heftige Drehungen um die eigene Achse, fand sich in feinem weißen Staub stehend, nahm die nächste Urne, wiederholte den Vorgang, und so sind sie nun vereint, Vater, Mutter, Tante, Oma, Schwester, in schnellen Drehungen irgendwo hinter den Bergen, bei den sieben Zwergen. Und ihm ist ein Stein vom Herzen gefallen. Und als wäre es so verabredet, läuteten die Glocken der Kirche, als er den alten Friedhof verließ. Läuteten eine geschlagene Viertelstunde.

 

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