November 2010                                       www.hermann-mensing.de          

mensing literatur
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zum letzten eintrag


Mo 1.11.10 12:09

Ich war auf einer mediterranen Insel und habe drei Tage benötigt, um anzukommen. Jetzt bin ich über eine Woche zurück, aber erst seit gestern bin ich wirklich gelandet. Noch vor dem Frühstück habe ich einen Spaziergang gemacht, meinen, unseren alten Spaziergang, der eigentlich nur kurz aus dem Dorf hinausführt und sicher stellt, dass die Sicht frei wird und der Himmel sich spannt, ganz gleich ob hoch oder tief, blau oder grau, Hauptsache, ich kann ablassen von meinem albernen Ego, das ununterbrochen pallavert und randaliert.

Es regnete, das machte die Sache noch besser. Zwei Jogger waren unterwegs, Frauen mit Hunden, ansonsten war alles so, wie es sein musste am letzten Oktobertag. Ich liebe dieses Verlorensein in Grau.

Mittags bin ich ins Westmünsterland gefahren. Ich hatte dort zwei Lesungen. Ich kenne schmale und schmalste Straßen, weiß, wo die Birkenalleen sind und die Eichenalleen, die von Linden gesäumten Straßen, die Pappelreihen, ich weiß, wo noch Sonnenblumen auf Feldern stehen, und habe Jäger verachtet, die neben einem Maisfeld standen, durch das ein Mäher fuhr, und darauf warteten, dass die sich darin verbergenenden Tier flüchten, um sie abschießen zu können.

Ich finde, ein wenig mehr Kreativität bei der Jagd müsste schon sein, meine Herren. Wer in einer feuchtkalten Nacht vier Stunden auf einem Hochsitz verbringt, um dann mit ein wenig Glück im Frühnebel, wenn der weiße Neger Wumbamba die Welt verlacht, ein Tier zu schießen, darf das meinetwegen, aber neben einem Maisfeld hocken ist fies und gemein.

Aber ich wollte von meiner Liebe zu Westfalen erzählen.

Das ist nämlich im Augenblick so voller Gold, Braun, Goldrot, Rot, Grünrot, so voller Zwischentöne, dass ich singen könnte vor Begeisterung, und wenn ich mir dann vorstelle, ich hätte Namen für all die Laubträger und nicht nur für die Allerweltsbäume, wäre das Vergnügen noch größer. Man schenkte mir einen Regenbogen unterwegs, und auf dem Heimweg hatten sich gleich gegenüber vom Sonnenblumenfeld, wo ich ihr Blumen schnitt, fünf oder sechs Kühe so aufgestellt, dass ich nur noch auf den Knopf meiner Mobiltelefonkamera drücken musste, die das Verschlussgeräusch einer Spiegelreflexkamera simuliert, um sie mit nach Hause zu nehmen.

Da ist eine, frisst und sinniert.



Meine Lesungen waren vergnüglich. Als ich kam, spielten im Foyer des Musikvereinshauses die Alten Kameraden, eine westfälische Blaskapelle, die es seit fünfzig oder mehr Jahren gibt. Ich kam mit drei Musikern ins Gespräch, alte Hasen, die schon in den frühen Sechzigern in Tanzkapellen gespielt hatten. Einer erzählte, bei Coetsveld, eine Gaststätte gleich an der Grenze in Gronau, sei Udo Lindenberg dann und wann aufgetaucht und habe gefragt, ob er Schlagzeug spielen dürfe. Ja, hätten sie gesagt, aber das koste eine Runde Underberg.

Das Vereinshaus haben die Musiker in Eigenleistung gebaut. 1,7 Millionen hätte es kosten sollen, 700.000 habe es schließlich gekostet, erzählten sie stolz. Jeder Musiker sei verpflichtet gewesen, 100 Arbeitsstunden zu leisten. Wer das nicht konnte, musste zahlen. So etwas nenne ich eine Bürgerinitative.

Anlass dieses Festes, zu dem ich als Autor eingeladen war, war das 100jährige Bestehen der Katholischen Öffentlichen Bücherei. Natürlich war auch der Pastor da. Ein Mann meines Alters, der mir freundlich zunickte. Ins Gespräch sind wir nicht gekommen. Die Frauen der Gemeinde hatten Kuchen gebacken, Torten über Torten, eine leckerer als die andere.

Geld habe ich natürlich auch verdient. Drei Lesungen pro Monat, und ich bräuchte nicht mehr zur Schule zu gehen, aber leider kann ich mit solchen Veranstaltungen nicht verlässlich planen, mal gibt es sie, dann wieder nicht. Nächsten Samstag zum Beispiel lese ich in Essen bei der christlichen Konkurrenz.

Soviel zum Novemberauftakt. Jetzt wird Unterricht vorbereitet, nachher gehe ich spazieren. Es ist grau wie es grau sein muss am 1. November, heute Nacht war es neblig und feucht, ich war duhn, aber guter Laune, denn die Menschen, mit denen ich sprach, hatten mir bestätigt, sie wäre stolz darauf, wie ich mein neues Leben im Griff habe. Manchmal glaube selbst ich, dass sie hinter mir steht, aber natürlich glaube ich das nicht, denn tot ist tot, und danach kommt nichts. Dennoch, ich spüre dich, Süße, und ich verdanke dir alles.



Di 2.11.10 19:42

Wenn's hart kommt, klicke ich die Ibiza Webcam an. Da baden Menschen im Meer. Das lasse ich mir auf der Zunge zergehen und wende den Blick ab. Aber so schlimm ist es auch wieder nicht. Gestern habe ich einen Spaziergang gemacht, und ich war nicht allein, ich hatte angenehme Begleitung. Wir haben viel miteinander besprochen, wir haben gelacht, wir waren an der Pleistermühle, haben Kaffee getrunken und Kuchen gegessen, ein Schriftsteller war da, einer, der beim Wettlesen in Klagenfurt große Reden führt, eine renitente alte Dame mit Schlabberlatz, junge Familien, Hunde, alle hatten den Nachmittag genutzt, waren hergekommen, um Abstand zu gewinnen. Heute war Arbeitstag und da ist Abstand nicht möglich. Ich stecke in einem Klima Projekt. Wir haben kleine Gruppen gebildet, in denen es sich hervorragend arbeiten lässt. Wenn das immer so wäre, wäre es wunderbar. Morgen runde ich das Projekt ab, dann geht es in die nächste Runde. Und morgen abend werde ich zum ersten Mal seit langem wieder tanzen. Darauf freue ich mich sehr.

Do 4.11.10 00:15

ich könnte schon, ich will nur nicht,
sie hat mich eingefangen und noch nicht befreit,
ich denk und sitz im fahlen Licht,
und hab den alten Platz noch nicht bereut.
ich liebe nichts, nur ihren atemzug,
ich hab kein bild, und niemand der mich hält,
ich wusste nie, was wahr ist, was betrug,
hab aber auch noch nicht genug von dieser welt.
sei's drum, ich schenk den purzelbaum
davon, und heb die breite schulter,
es wehen tagelang durch meinen traum
nur ton in ton getränkte dulder.
wer will noch mal, wer könnte sich noch einmal so verlieben,
die die's ihm sicher gönnte ist ihm leider nicht geblieben.


Fr 5.11.10 9:11

Ich kenne das. Ich nenne das November. Ich habe verschiedene Strategien entwickelt, diesen November überleben zu können, denn ohne spränge ich wie ein Lemming von der Klippe. Ich kann das nicht aushalten, denke ich, aber wenn es dann mal einen Augenblick nicht feucht ist, fallen mir bunte Blätter vor die Füße und ich bin beglückt. Ja, sage ich, es gibt eigentlich keine schönere Jahreszeit als den November. Eine Notlüge, ich weiß, aber ich habe sie schon so lange gelogen, dass ich mir glaube. Der November ist wundervoll. Ich mag ihn der Farben wegen. Ich mag ihn, weil er so trostlos ist, ich mag ihn, weil er so feucht ist und mich daran erinnert, dass auch ich irgendwann einmal ein Kiemenatmer war.

Der Schreibtisch ist voller Arbeit. Ich schiebe sie vor mir her. Ich erledige sie im letzten Augenblick, so dass sie mich bis dahin belastet. Das ist dumm. Aber ich habe noch nicht herausgekriegt, wie ich anders damit umgehen kann. Das war schon immer so. Schon immer habe ich fremdbestimmte Arbeit gehasst. Ich kann nur das tun, was ich tun will. Und am Liebsten würde ich schreiben. Nur schreiben. Immer nur schreiben. Alles andere geht mir am Arsch vorbei.

Also.
Wie war das noch mit dem November?

18:01

Heute unter schwierigsten Bedingungen versucht, nichts zu tun. Bin schließlich auf dem Sofa gelandet und habe da weiter gelesen, wo ich vorgestern aufgehört hatte. Dieser Siegfried Lenz, den ich doch eigentlich längst hätte gelesen haben müssen, ist mir erst letzte Woche nach meiner Lesung in Alstätte in einer Grabbelkiste über den Weg gelaufen und war mir auf der Stelle sympathisch.

Nach so vielen Jahren lese ich also die Deutschstunde und hätte nicht übel Lust, Grass mit dem Stock aus dem Saal prügeln, so erbärmlich finde ich ihn im Vergleich. Manche Begegnungen finden früh, andere später statt, diese war offenbar nicht zu spät und verspricht einen lebendigen Abend in der Sofaecke. Wenn dann morgen noch meine neue Brille käme, wäre ich almost glücklich, denn ich weiß, dass mich jemand mag, den ich auch mag.


Sa 6.11.10 9:24

ich hatte diesen plan, wissen sie.
es war ein großer plan. er hieß: lebe planlos.
dann hatten leben und tod plötzlich einwände und alles wurde anders.
seitdem wird viel kraft verbraucht.
wer tankt mich auf?

9:33

Die Prinzessin

Autor, Sprecher, Produzent: Hermann Mensing
Musik: Marc Brenken, (Piano), Sven Otte (Kontrabass) und Bernd Gremm (Schlagzeug



13:17

Vor etwa zweieinviertel Stunden tat sich ein Wolkenloch auf. Ich hatte mich abgefunden mit diesem Samstag, alle noch anstehende Arbeit auf morgen verschoben, mich mit meiner Ersatzbrille hinter die Zeitung verschanzt, hatte SMS bekommen, gesendet und mir gewünscht, mich mit ihr durch den Tag zu simsen, als durch das Wolkenloch Sonne brach, die gleiche Sonne, die zwei Stunden und zwanzig Minuten südlich auf Ibiza scheint, diese Insel, die noch immer in mir rumort, hatte augenblicklich wieder an das Gute geglaubt, mich aufs Rad gesetzt und war in die Stadt gefahren.

Meine neue Brille lag abholbereit, jetzt kann ich wieder sehen wie ein Adler. Drehte eine Runde über den Markt, besänftigte mich mit Luxus, L'eau d'Issey, seit über zehn Jahren bin ich darauf eingeschworen, kaufte ein Pfund Kaffee aus der Rösterei, dann begann es wieder zu regnen. In drei Stunden mache ich mich auf den Weg nach Essen, um dort zu lesen. Einerseits freue ich mich. Andererseits hätte ich mich heute abend gern aufs Sofa gelegt, um die langweiligste Show aller Zeiten zu sehen, die ich schon seit hundert Jahren sehe, aber nun, alles geht nicht, und so geht der Tag langsam wieder über ins Grau und verliert sich.


So 7.11.10
9:33

Das ist der Ort meiner Lesung. Ich musste durchatmen, als ich eintrat, ich dachte, wie soll ich so einen Raum füllen, wie soll das gehen, niemand wusste ja, wieviele Kinder kämen, aber bestimmt kämen nicht so viele, dass die Kirche gefüllt wäre.

Ich schaute mich um. Da waren diese Stahlsäulen, die Emporen, das bemalten Gewölbe, ein Holztonnengewölbe, sehr schön. Stilistisch zwar ganz anders als die Paul Gerhard Kirche in Münster, die sehr nordisch wirkt, fast wie ein Schiff, aber eben auch ein Holzgewölbe hat. Ich habe schon an vielen Orten gelesen, äußerst merkwürdigen auch, an einem so schönen noch nicht.





In der Sakristei war ein Buffet aufgebaut.
Ich hatte noch nicht darüber nachgedacht, woraus ich lesen wollte, aber bei dem Angebot blieb mir nichts.








Diese Lychees mochten nicht einmal die hartgesottene Haloween Kinder essen.
Ich wohl. Sie schmeckten sehr gut.




Ich las aus der Sackgasse 13. Dreißig, vierzig Kinder hörten zu, und die Frage, ob ich in der Lage wäre, so einem Raum das Gefühl des Verlorenseins zu nehmen, das einen leicht überkommt, wenn er nicht bis an den Rand gefüllt ist, war schnell erledigt.

Ich las langsam. Ich versuchte, jeden sich anbietenden Satz szenisch zu füttern, und da die Sackgasse 13 von all meinen Romanen derjenige ist, aus dem ich am häufigsten lese, weil das Bedürfnis nach Grusel offenbar groß ist, wusste ich, was ich damit anrichten kann.

Es gibt da eine Stelle, in der ein Wiesel auftaucht, und ich frage meist nach, ob bekannt ist, wer oder was ein Wiesel überhaupt ist. Letzte Woche in Alstätte wussten das alle. In Essen Katernberg nicht. Da gingen die Spekulationen vom Zwerg über Maulwurf, von Krebs bis Heuschrecke, und da dachte ich, okay, lese ich die entsprechende Stelle mit Zwerg, Maulwurf, Krebs und Heuschrecke vor, dann dürfte schnell klar werden, dass es sich darum nicht handeln kann. Das hat viel Spaß gemacht.

Ich war schon zwei oder dreimal in Katernberg, und jedesmal hat mich die Bergarbeitervergangenheit dieses Ortes berührt. Man biegt von der Autobahn ab, gestern regenete es und es war längst dunkel, man glaubt einen Augenblick, man sei auf dem Land, dann ist die Straße plötzlich mit Straßenbahnschienen gespurt, fahles Licht in regelmäßigen Abständen, man fährt flankiert von dunklen, braunroten Siedlungshäuser des frühen sozialen Wohnungsbaus stadteinwärts, passiert eine Mosche, einen türkischen Kulturverein, alles scheint familiär, als lebten hier Menschen in engem Einverständnis mit ihrer Vergangenheit. Aber das mag nur so scheinen. Der Bergbau ist ja Vergangenheit und die Gegenwart heißt keine Beschäftigung und Hartz IV.

Ein schöner Abend.
Alle waren begeistert.
Man will mich weiter empfehlen.

19:38

Allein wie eine Mutterseele.
Das ist nicht nur der Titel einer Georg Kreisler CD, das ist auch mein Zustand.
Keine Ahnung, wie dem beizukommen ist.

Momente mit anderen machen ihn erträglich, heute nachmittag mit dem Enkel, der ein lustiger Enkel ist, ein Witzbold, glaube ich, der seit ein paar Tagen laufen kann, atemberaubend balancierend die Räume durchquert, der sich auf der Stelle drehen kann, sich bücken, etwas aufheben, der weiterläuft, die Arme angewinkelt, mit hoher Konzentration, der gern Zungenknatterer unterm Gaumen produziert, gern den Kopf nach hinten legt, als suche er den Sternenhimmel, gern rappelt, auf Bongos schlägt, wobei er laut quietscht, der Papa sagen kann und bestimmt auch bald Opa, in solchen Momenten bin ich vorübergehend glücklich, kaum aber bin ich wieder unterwegs unter Fremden, verfliegt das wie ein Spuk, und manchmal ist es kaum auszuhalten.

Im Bus etwa, als hinten eine Frau im Rollstuhl einstieg, eine höchst selbstbewusste Frau, vielleicht sogar ein wenig unverschämt, jedenfalls gab es am Bült, wo sie einstieg, ein Hin und Her, ein draußen wartender Afrikaner half, die Fahrgäste hatten fast ausnahmslos den Kopf nach hinten gewendet, alle mit neugierigem Blick, widerwärtig zu sehen, wie notgeile Spanner, in solchen Momenten möchte ich sprengen, möchte mich auflösen und nicht mehr sein, einfach fort, und dann komme ich heim und die Wohnung ist leer, die vor mir liegende Woche hat nichts als Fragen, was im Prinzip kein Problem ist, aber es sind Fragen, die mich nicht loslassen, obwohl ich eigentlich ganz andere Dinge im Kopf habe.

Ich kann das nicht lösen. Ich werde es einfach ertragen und sehen, wohin es führt.
Ich bin vorbereitet auf morgen, aber ich bin es auf meine Art, was bedeutet, dass alles funktionieren aber auch fehlschlagen kann. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin gern unter Kindern, aber es widerstrebt mir, ihnen etwas beibringen zu müssen. Ich werde stattdessen versuchen, sie gelehrsam zu unterhalten.



Mo 8.11.10 14:09

natürlich, sagte der verkäufer. ich besitze die wahrheit. ich verkaufe sie ihnen. wieviel ist sie ihnen wert? so ungefähr soviel, sagte der potentielle käufer. nicht schlecht, sagte der verkäufer. legen sie was drauf, dann kommen wir ins geschäft. nein, sagte der käufer. machen sie einen abschlag. lieber einen radschlag, sagte der eigentümer. meinetwegen, sagte der käufer. wenn's sein muss auch das. er beradschlagte sich mit korruptionsgestählten, vereidigten sachverständigen hier und dort. nach einer weile riefen sie: gut also, dann. also was dann, fragte der verkäufer, dem die wahrheit auf dem herd überzukochen drohte. nun, sagten die korruptionsgestählten vereidigten sachverständigen. wir haben beschlossen, sie zu bedrohen. ach was, sagte der verkäufer. glauben sie im ernst, dass mich so etwas schreckt. nein, sagte die korruptionsgestählten vereidigten sachverständigen. sehen sie, sagte der verkäufer. wie sie wollen, sagte der käufer. dann lassen wir es jetzt krachen und lließen es krachen. es krachte gehörig. niemand wusste genau, was gekracht hatte, aber es blieb ein großer krater und am grunde des kraters blieben viele einzelteile. man konnte nicht recht erkennen, was es war. der verkäufer bog sich vor lachen. warum lachen sie? fragte der käufer und die korruptionsgestählten vereidigten sachverständigen. ich lache über diesen unsinn, sagte der vekäufer. ach ja? ja. denn da unten, sehen sie, diese einzelteile da, das alles war einmal wahr. verdammt, sagte der scheich. verdammt, sagten die korruptionsgestählten vereidigten sachverständigen, da haben sie uns kalt erwischt. allerdings, sagte der verkäufer. ich erwische sie alle. früher oder später erwische ich sie alle.

Dieser Text bedeutet nichts.
Er besteht nur aus aneinandergereihten Buchstaben, die Sinn suggerieren.
Bitte interpretieren Sie ihn. Die beste Interpretation erhält einen Preis.

21:56

Die Fragen wehten wie Herbstlaub durch die sich entblätternde Natur, sodass ich kaum losfahren mochte. Nie mag ich losfahren, morgens bin ich in einem Zustand vollständiger Weltverweigerung, selbst wenn ich zu Lesungen fahre. Ich fuhr dennoch. Natürlich fuhr ich. Ich kenne mich ja. Ich weiß, dass es besser wird, sobald ich unterwegs bin. Im Auto ist das ein wenig schwieriger, umbauter Raum verzögert den Auflösungsprozeß, mit dem Fahrrad wäre es einfacher, aber dazu ist es mir zu kalt und zu feucht. Dennoch. Meine Weltverweigerung zerfiel scheibchenweise, und ich wurde wieder gut, bereit, mich schmieren zu lassen.

Als als ich das Gebäude betrat, hörte ich Gesang aus der Kirche. O je. Gottesdienst. Hätte ich da sein müssen? Vielleicht. Aber ich verweigere Gottesdienst, ich habe da nichts zu suchen, ich vergesse manchmal, aber ich lüge nicht und verweigere, das ist ein Statement, das ich dem, der etwas anderes erwartet, erklären kann.

Weil Gottesdienste sich nie an Stundenpläne halten, verzögerte sich alles nach hinten, sodass ich, als das Experiment der Neugliederung begann, mit zwei Gruppen gleichzeitig startete. Das ging nicht schlecht. Dann kam die dritte Gruppe, und das ging gut, alle Fragen waren kreischend auf und davon, ich war nahezu glücklich und dachte, sieh an, Hermann, aber ich bin sicher, dass sie morgen früh wieder am Frühstückstisch sitzen.

Jetzt höre ich Billie Holiday und trödle herum. Heute nachmittag war mir, als wäre sie da. Ich hatte Schatten gesehen, hatte gesagt, komm rein, aber sie kam nicht, und ich weiß ja, dass Schatten nur Schatten sind. Billie Holiday singt These foolish things, von denen habe ich einen Sack voll, da kann ich mitsingen.


Die 9.11.10 22:48

Könnte doch sein, dass der nächste Roman soviel Erfolg bringt, dass ich mich diesen Fragen nicht mehr stellen müsste. Und wenn nicht, dann der darauf folgende. Könnte doch sein, sage ich, denn die Fragen sind heute wieder sehr laut. Ich stelle sie dennoch beiseite. Ich habe sie gehört, ich will sie nicht mehr hören, ich kann sie nicht beantworten, also weg damit. Ich muss jetzt essen, sonst falle ich um.


Mi 10.11.10 7:33

Die Fragen haben die Nacht durchgearbeitet. Sie haben überall herumgeschnüffelt, aber nicht eine Antwort getroffen. Stattdessen haben sie dich in meine Träume getrieben, aber du wusstest auch keine Antwort. Du hattest zugenommen und gehörtest jemand anderem. Das und die Fragen haben mich mundtot geweckt. Seitdem sitze ich hier und denke, hau ab, hau bloß ab, arbeite nicht gegen deinen Bauch, dein Bauch sagt, das ist alles verkehrt, da können sie reden, soviel sie wollen, dein Bauch sagt, ich weiß auch nicht, wie man's richtig macht, aber das ist verkehrt.

Gleich fahre ich los, und wenn ich zurückkehre ist Wochenende. Als wäre das nicht Luxus pur. Aber wie gesagt: die Fragen sind nicht meine Fragen und ich habe keine Lösung. Fatal, sprach der Igel, Sie wissen schon.

18:41

Vielleicht steigt jetzt eine Lösung auf. Es gibt Pläne, die ich nicht mehr allein tragen muss. Das freut mich. Das Alleintragen reichte mir. Aber wie gesagt: ein Gremium ist installiert, es tagt alle zwei Wochen, und dann wollen wir mal sehen. Erschießen kann ich mich immer noch. Nähme dazu ein Gedicht, denn Gedichte sind Selbstmord.

Ich weiß es nicht, habe ich gestern abend gesagt, und das war falsch. Ich weiß es nicht darf man nicht sagen, das bringt Unruhe. Man muss sein Nichtwissen positiv aufbauschen und Halblügen streuen. So macht das der Außendarstellungsprofi. Dann kann er hinterher immer noch sagen, er hätte es ja gesagt, hätte also nicht gelogen. Fehlerprofil Mensing: er sagt zuviel Wahrheit.

22:14

Schlummernd, die Decke über beide Ohren, 96er Cassetten gehört, ein wenig gedacht, ununterbrochen gedacht eigentlich, aber nichts Fassbares, eher ein Treiben im Halbwachen, dann und wann überspült vom Aufruhr, den ich ertragen muss und kann, jetzt wacher und mutiger als vorhin, vor mir Tage, die ich sorglos vertrödeln kann, sei glücklich, sage ich, ohne benennen zu können, was ich mir darunter vorstellen soll, denn dem kurzen Glück in HH war auch nur der Wunsch Vater, bleibt also nichts als Geduld zu üben, die hohe Schule, die noch Erkenntnis bringen könnte, eh das Licht ausgeht. Staune über die alte Dame, die am Ruder sitzt und die Unwägbarkeiten, die mich umtreiben, mit einem "ich glaube, ich bin ein bisschen verrückt" weglächelt. Das ist groß.


Do 11.11.10 10:08

Gleich setzen sie ihre Pappnasen auf und trinken sich warm. Unsereins hat damit nichts zu schaffen, ist ignorant und will nicht begreifen, dass so eine eingeschobene Jahreszeit Grund genug ist, sich zu freuen, über die Stränge zu schlagen, ohne Sanktionen fürchten zu müssen, aber unsereins ist Westfale.

Unsereins hat gut geschlafen und fühlt sich, was daran liegen mag, dass wir bis in die tiefe Nacht trödelten, ein wenig lasen, ein wenig Wein tranken, Musik hörten, dieses und jenes erwägten und Schlüsse schlossen, unsereins hat Erkenntnisgewinn, zumindest seit gestern, was aber gar nichts bedeutet, denn morgen kann alles schon wieder ganz anders sein.

Kaffee bester Bohnen beschleunigt, die Sonne scheint, meine Heimdisco schallt, ich habe keine Geldsorgen, ich habe nur ein Problem. Heute früh sah ich dein Foto und versuchte mich zu erinnern. Wenn ich dich lang genug anschaue, denke ich, du sitzt in der Küche, trinkst Kaffee, rauchst und wartest auf mich. Vielleicht tust du das. Irgendwann sitzen wir wieder zusammen und sind, was wir immer waren: Ein Paar. Ein mutiger Versuch, der Welt die Stirn zu bieten, denn ohne dich hätte ich das nie geschafft. Ohne dich wäre ich eingegangen wie eine Priemel, aber du hast an mich geglaubt, so dass es mir jetzt hin und wieder gelingt, an mich zu glauben. Ich könnte mich mögen, sage ich und du lachst mich an. Mach nur, sagst du. Lass dich nicht beirren. Ich liebe dich. Und ich erst, sage ich. Wie ich dich liebe. Pass auf dich auf, sagst du. Werde ich, sage ich und rolle weiter. Klopfe an deine Urne und weiß, dass wir etwas richtig gemacht haben. Was für ein gutes Gefühl. So warm.

16:58

Das dumpfe Brummen im Rücken ist ein Bus, der vorbei fährt, das schwindende Licht ist unter Wasser, nirgendwohin oder doch noch irgendwohin, heute? Ich weiß nicht, ich lasse den Tag verstreichen, ich habe Hunger, bin aber zu faul, etwas zuzubereiten, ein Flugzeug zieht eine Bahn in den imagninierten Süden, ich könnte essen gehen, aber das hieße hinaus in den Regen. Lieber lasse ich den Tag machen, was er will, lasse die großen Ereignisse anderswo und ohne mich geschehen, ich habe es warm, ich habe zu lesen, ich muss nichts, nur hin und wieder mal sterben, aber das ist nicht so schlimm, das haben alle anderen vor mir geschafft.


Fesselnd webt mir eine Wolke
Wünsche übers lichte Haar
fußblind, da es niemand wissen sollte
färbte sie mich wunderbar...

21:57

Von Montag bis Mittoch bin ich täglich fünfzig, sechzig, siebzig Menschen recht nah und spreche mit vielen. Heute habe ich nur mit einem gesprochen. Dann fuhr er fort. Danach schwieg ich, schwieg und schwieg und schwieg, bis das Telefon schellte. Ich redete mit einer alten Freundin. Jetzt schweige ich wieder. Ich glaube, das ist eine Prüfung.


Fr. 12.11.10 00:28

Die Freundin erzählte, ihr geschiedener Mann habe nach dreißigigjährigem Schweigen angerufen, um sich zu entschuldigen. Sie fragt sich, was er von ihr will. Vielleicht spürt er, dass er bald stirbt, habe ich geantwortet. Ja, das dachte ich auch, sagte die Freundin. Sie weiß, wie Schweigen und Einsamkeit geht. Von der kann ich lernen.

9:40

Es war ein Orkan, sagen die Meteorologen. Ich habe geschlafen, sage ich. Ich habe gehört, dass es stürmt, aber hier ist alles in Ordnung. Als ich ins Bett ging, war der Himmel blank gefegt. Ich hatte überlegt, noch einmal ums Viereck zu laufen, habe es aber bleiben lassen. Es pfeift und fegt immer noch um die Ecken. Es ist ungemütlich und nach wie vor schweige ich. Damit das nicht zu leise wird, spreche ich hin und wieder mit mir. Ich habe frei und fahre zur Schule. Ich will etwas vorbereiten. Ich bin fleißig. Ich bin die Biene Maya.

13:24

Der ältere Herr mit Glatze und verschiedenen Ansichten sitzt gern im Schneidersitz. Das finden manche zu lässig. Aber was soll er denn machen? Seine Sitzposition ändern? Wie soll das gehen? Er ist doch ein älterer Herr und hat sein Leben lang so gesessen. Und was ist überhaupt gegen lässig zu sagen? Ist lässig nicht eine erstrebenswerte Lebensart? Sollte das Leben nicht insgesamt lässiger sein?

19:38

Well, sagt der Brite, der noch immer dem Imperium nachträumt, das ihm einst die Kassen füllte. Well, sagt Herr M., der heute hin und her überlegte, wie er das Idiom dieser einst weltbeherrschenden Spezies so an den gelehrigen Schüler bringen kann, dass sowohl die berechtigten Sorgen der Erziehungsberechtigten gestillt und die pädagogischen Überlegungen des Modells gewährleistet sind. Er denkt, das ist zu machen. Er hat viele Ideen, und da ihm nun auch noch andere den Rücken stärken, darf man getrost behaupten, dass alles auf gutem Wege ist. Deshalb nun Aloh Aheh ... den Rest des Reimes verschweigen wir aus politischen Gründen, der fiele unter das Fehlerprofil Mensing, und das wollen wir nicht ...


Sa 13.11.10 10:56Feedback Essen Katernberg:

Guten Tag, Herr Mensing,
vielen Dank für den tollen Abend. Viele Kinder haben mich in den letzten Tagen darauf angesprochen, nach dem Buch gefragt usw. Ein Kind hat mir am Sonntag im Kindergottesdienst erzählt, dass es noch bis tief in die Nacht Sackgasse 13 gelesen hat. War also ein voller Erfolg und hat viel Spaß gemacht.

Da atmet der Dichter durch und denkt, mehr davon ...

19:28

Der Regen? Egal. Ich hatte Gesellschaft. Die Autobahn? Kein Problem. Ich war nicht allein. Die Stadt Hagen? Ich weiß nicht. Ich habe nicht viel von ihr gesehen. Eine Autobahn führt daran vorbei, eine Schnellstraße hinein, man biegt links und dann rechts und dann noch einmal rechts und wieder links, schon ist man am Ziel. Das Emil Schumacher Museum, ein Quader aus Glas und Beton.

Wir essen noch eine Mandarine im Wagen, ich rauche noch eine Zigarette, ich springe hinaus in den Regen, laufe zum Parkautomaten, ich ziehe ein Ticket, ich sprinte zurück, lege das Ticket auf die Ablage, und wir gehen los.

Wir wollen uns Bilder anschauen. Im Sommer hatte ich Emil Schumacher zum ersten Mal gesehen, in der Ausstellung La grande geste in Düsseldorf. Sie kannte ihn schon. Wir waren begeistert. Sie, die Kunsthistorikerin (was überhaupt nichts heißt), ich, der Genießer (was ebensowenig heißt). Das Erstaunliche und Schöne war, dass wir die gleichen Lieblingsbilder hatten.

Schumacher kommt aus Hagen. Hagen hat ihm dieses Museum gebaut.
Die Ausstellung stellt seinen Bilder welche von von Emil Nolde gegenüber. Die Hängung ist nicht ganz einsichtig, manchmal liegen zwischen dem Bild des einen und dem des anderen fünfzig Jahre, aber letztlich geht es ja um die Bilder.

Um es gleich vorweg zu sagen, mir ist Emil Schumacher lieber.
Seine Malerei ist mutiger, kräftiger, sich sicherer.

Emil Schuhmacher



Emil Schumacher




Kuchen anschließend und Heimfahrt in lichtgespickter Gischt, dazu Musik von Joni Mitchel und die Erkenntnis, dass niemand seinen Stereotypen entkommt. Man muss sich nur umschauen, der Museumsbesucher ist auf bestimmte, wiedererkennbare Weise gekleidet, er geht und steht ähnlich vor Bildern, er raunt seinem Partner oder seiner Partnerin dieses und jenes zu, und fühlt sich emporgehoben vom Alltag. Dabei sollte Kunst Alltag für jeden sein. Ist sie aber nicht und wird sie wohl auch nie werden.

Ein schöner Samstag, der in den Plan mündet, demnächst zum Kröller Möller Museum zu fahren. Ich freue mich jetzt schon.


Mo 15.11.10 14:12

Der alte Mann war da. Der mit dem Bart, der kürzlich noch an Krücken ging. Der, von dem ich mal dachte, er wäre vielleicht ein Freund. Aber ich hatte mich getäuscht. Er war schon immer ein alter Mann, auch bevor er an Krücken ging. Er war immer ein Hahn. Alles andere war eingebildet, Fassade, wie so vieles an uns Fassade ist.

Nur wenige tragen die Masken nicht, und ich habe nur eine vage Ahnung. Unerträglich ist es auf jeden Fall. Zum Glück war auch noch ein anderer da. Einer, der nicht zusammenzuckt, wenn man auf die Frage, wie es einem gehe, nicht gut sagt, sondern präzise wird. Von solchen gibt es zu wenige. Von den einen zu viele, von den anderen zu wenige.

Die also und noch andere saßen da und hörten einem Bassisten zu, der zu den großen Bassisten der Welt zählt. Das Seltsame an Musikern ist, dass sie zwar große Bassisten sein können, deshalb aber noch lange nicht in der Lage sein müssen, Musik zu schaffen, die mehr ist als virtuose Aneinanderreihung von Tönen. Dieser Bassist schien verhaftet in gestern und vorgestern.

So tough das auch alles gespielt war, fand ich es dennoch langweilig. Ich vermisste die Gegenwart. Jazz war es jedenfalls nicht, selbst wenn improvisiert wurde. Jazz ist zwar in Amerika erfunden worden, hat aber in Europa mittlerweile innovativere Ausdrucksformen gefunden und mischt andere Traditionen hinein. Natürlich war der Schlagzeuger eine unschlagbare Lokomotive (Poogi Bell), es machte Spaß, ihn zu hören und noch mehr Spaß, ihm zuzuschauen, dennoch hätte ich mir das Konzert sparen können.

Also ernüchtert heim, noch auf dem Sofa gesessen und mir das Lied vom Tod gespielt, das seit eineinhalb Jahren in mir dröhnt und mich schreckt und dann wieder nicht, das Notizbuch auf den Knien, weil ich Ideen hatte für den Englischunterricht, dann ins Bett und gedacht, gute Woche ahead, das schaffen wir.

Früher habe ich nicht in Terminen gedacht. Früher war ich stolz, ein Mann ohne Termine zu sein. Jetzt bin ich ein anderer Mann. Es macht Spaß, das zu tun, was ich tue, aber es ist anstrengend. Sehr anstrengend finde ich das, und wenn ich dann noch an all die Unwägbarkeiten denke, die auch durch sorgfältiges Tun nicht aus der Welt zu schaffen sind, wird mir manchmal schwindlig.

Dieser andere Mann also denkt nach einem guten halben Jahr im Job schon wie alle anderen: wann sind wieder Ferien, denkt er und findet das peinlich. Aber es ist nicht zu ändern. Nur Erfolg könnte mich retten. Erfolg und Liebe. Aber die Angst der Menschen, sich hinzugeben, ist groß. Ein Glück, dass ich Hingabe hatte. Ein Glück, dass mir ein Herztier zur Seite stand in all den Jahren, die ja so erfolglos nicht waren. Ein Glück, das mit Geld nicht zu bezahlen ist. Ich bin ein Glückskind, ich weiß. Ich habe es verdient. Ich habe das alles verdient und niemand wird es mir nehmen können.

Und wie selig ich war, als wir Samstag Arm in Arm den kurzen Weg vom Museum zum Auto liefen. Harmlos war das, aber Arm in Arm, als gäbe es Hoffnung. Ich wäre gern Stunden so weiter gelaufen, um der Illusion Nahrung zu geben. Alles für die Illusion. Ich bin ein Jetztmann, ein Meister der Illusion. Ich will bleiben, was ich bin. Ich will noch lange leben und lange träumen, bis alles von einem zum nächsten Augenblick aufhört. Eine ganz normale Geschichte.

16:45

Wäre ich ein Kind, würde mir man jetzt die Geschichte von der Weihnachtsbäckerei erzählen. Im Himmel backen sie schon, würden sie sagen, der Himmel ist orange rot, langwelliges Licht nach den trüben Tagen, ich atme durch, weiß aber, dass es gerade erst anfängt, noch ist ja Herbst, der bald in den Winter mündet, der sich Zeit nimmt bis nächstes Jahr, und dann sehe ich weiter. Derweil träume ich. Und damit es nicht Traum bleibt und mit dem Erwachen davon fliegt, werde ich wohl im Frühjahr wieder auf diese Insel fliegen.


Die 16.11.10 21:44

Da schau. Hat der Mann den Tag überstanden. Seit acht heute früh bis 18 Uhr hat man ihn beschallt, Erich Kästner lässt grüßen, der Mann hält den Kopf aufrecht, sitzt gesittet, damit niemand ihm Lässigkeit vorwirft, er schaut und sieht, dass drei, vier, fünf gegen das Lässigkeitsverbot verstoßen, jemand sitzt sogar auf den Lehnen, aber der Mann nicht, der Mann hat den Einwurf gehört, Worte fliegen herum, Erstaunliches ist zu hören, fast könnte man glauben, die Einsprüche der letzten Wochen hätten gefruchtet, zu Mittag schießt man ihn von der Seite an, doch der Mann steckt das weg. Der Mensch ist grundgefrustet, denkt er, der wirft mir mangelndes Engagement vor, dabei ist er nur neidisch, der Mensch. Klagt über Ausbeutung und zu geringen Lohn, hat auch nur einen halben Job, arbeitet aber wie einer mit voller Stelle. Feigling, denkt der Mann, das musst du schon für dich selbst regeln, da hilft nichts, deine Zeit ist deine Zeit, wenn du die verschenkst, bitte, das ist nicht dein Problem, komm mir nicht so, sonst werde ich unangenehm. Grundgefrustete Menschen sind gefährlich. Neid ist die Waffe der Nattern. Nun ist er zu Hause, hat alles vorbereitet, der Luxus seiner Existenz wird morgen um 12:30 beginnen. Eh wir's vergessen: Was machen wir denn morgen, hatte der Mensch noch vorher gefragt, und der Mann hatte gesagt, nach Hause gehen, und danach hatte der Mensch mit seinem Lamento begonnen, denn er wollte außer der Reihe noch irgendwas tun. Der Mann nicht. Er hat Feierabend morgen. Er hat einen halben Job. Er wird vierundzwanzig Stunden brauchen, eh das Klingeln im Kopf vergeht, dann wird er einen Tag nichts tun, dann geht das Klingeln schon wieder los, und das ist, wenn er's bedenkt, fast schon wieder zu wenig Geld für so langes Klingeln, denn schließlich ist er Schriftsteller. Schriftsteller sind Egoisten, asozial und ganz normal, also kommen sie ihm nicht mit mangelndem Engagement, Schriftsteller arbeiten immer.


Mi 17.11.10 13:04

Ein Gedicht aus der Post.
Offenbar ein zeitgenössisches Gedicht.
Es kam heute früh während ich arbeitete.
Es stammt von Dr. Hittich Gesundheits-Mittel.
Komischer Name, vielleicht ein Pseudonym.
Dichter verstecken sich schon mal hinter so etwas.
Das Gedicht heißt:
Gesundheit steckt im Darm.
Lesen Sie selbst ...

Gesundheit steckt im Darm

Gefährliche Schlacken
in Ihrem Darm:
Die Zeitbombe
für Ihre Gesundheit!

Wenn Ihr Darm
um Hilfe schreit
entfesseln Sie 13
magische Natur-Kräfte
für Magen und Darm.

Ernfernen Sie
mit der Müllabfuhr
von Mutter Natur
Müll und Gift
aus Ihrem Darm.

Sie sind beeindruckt?
Ich auch. Ich habe schon lange nicht mehr so etwas Schönes gelesen.

19:21
Ich habe es vorausgesagt (was nicht schwer war), jetzt ist es passiert.
Mein Enkel hat sich mit Mama ein Foto von mir angeschaut und Opa gesagt.
Da werde ich mich schleunigst auf den Weg machen.
Ich will hören, wie er es zu mir sagt. Ich bin's. Der Opa. Der Opa.

23:57

Runder Tag. Blonde on Blonde auf dem Player, ein Glas Wein noch, wenn's ich so stabilisieren könnte, wäre schon viel geschafft. Ihr Sokrates.


Do 18.11.10 9:53

Schönes zum Tag.



Balkon am Abend



Teergraffitti

Altenresidenz neben Supermarkt

23:55

Somewhere von Sofia Coppola ist ein Film über Einsamkeit. Ich hätte ihn also nicht anschauen müssen, weil ich weiß, wie sie sich anfühlt. Somewhere ist auch ein sehr menschlicher Film, erfrischend, unspektakulär, fast beiläufig. Ein Film über das Leben, nicht über die oft albernen Fantasien Hollywoods. Es war also doch gut, dass ich ihn angeschaut habe.


Fr 19.11.10 00:35

Kommunikation mit Wildfremden auf Facebook.

Hermann Mensing hp. b. lijkt en kunstenaar? haartelijk welkom dus in münster. vor 42 Minuten
HP.B..: Kunstenaar? Ja, ook. Ik ben eigenlijk Musicus, en ik schrijf over muziek. Verder ben ik uitgeverij-redakteur (Amsterdam/Groningen), ik schrijf inleidingen bij Nederlandse literatuur voor scholen. vor 25 Minuten · HP.B.: En ik vertaal boeken uit het Engels. vor 20 Minuten · Hermann Mensing ok. en hoe kom je bij mij dan? wat is de idee? ik bedoel, dit faceboken is toch belachelijk eigenlijk. ik find het best leuk, dus, maar toch belachlijk met all dat vriend-gedoe, of niet? vor 18 Minuten HP.B.: Nou, in jouw geval: ik bewonder je als dichter/schrijver. Ik ben dus zelf een beetje belachelijk, want ik ben een 'fan'! Er is geen ander woord op facebook dan 'Vriend'! Mijn idee bij Facebook is: een grote culturele 'vrienden/bekenden-club ... ' maken. Zeker in Nederland is dat nu nodig, want wij hebben nu Wilders en er is bijna geen geld meer voor cultuur hier. En Facebook kàn belachelijk zijn , maar je kunt het ook goed gebruiken, voor van alles. Bijvoorbeeld kon ik contact hebben met singer/songwriter Biff Rose, heb ik platen van en snapte ik niets van, maar nu kon ik gewoon met hem schrijven! dat vind ik leuk. vor 9 Minuten Hermann Mensing heeben wij dan al onder en andere naam van jou met elkaar contact gehad? daar is nog iemand uit groningen, die af en toe zijn naam wisseld, en ik had die idee, dat het ook en kunstenaar was, maar heb daar lang niets meer van gehoord?

HP.B.: Ja! Dat ben ik dus. Ik las dat jouw vrouw gestorven was, ik denk anderhalf jaar geleden, en later dat je ging dansen. Toen heb ik een bericht geschreven. Mijn (eerste) vrouw is ook dood, langer geleden (1997), door suicide. Ik vind dat je heel goed schrijft over je vrouw, en over hoe nu je leven is. vor 14 Minuten ·

HP.B.:Ik weet niet meer wat mijn andere naam was op Twitter, helemaal vergeten. vor 13 Minuten

Hermann Mensingwat moii zeg. ik heb net een roman geschrijven, die Der Weltuntergang. Eine Romanze heet, en als het lukt zou die volgend jaar verschijen. darin gaat het om haar. jij zegde toen, dat je het leven daarnaar absuurd vond. dat vind ik ook. heelemaal absurd, en ik heb geen idee, hoet dit alles moet verder gaan. ik heb nu een baan (14 uuren per week) als leraar op en reformpädagogische school met kinderen tussen 6 en op moment 12 jaar oud, maar de school will doorgaan tot het abitur, maar dat zou ik niet meer beleven, omdat ik plotzeling gekonfronteerd ben met die idee van pensionierung. als schijver had ik daar noit over naagedacht, ik vond het altijd leuk, noit in pension moeten te gaan. nou wacht ik eroop, om eindelijk weer rust te hebben...
groeten 7 Minuten

HP.B.:Dat boek ga ik lezen, Hermann. Ik hoop dat je op langere termijn die rust zult vinden. Op kortere termijn: Gute Nacht.


15:04

Also - da sind Sokrates und Chichi. Sokrates ist schon älter. Chichi hingegen ist noch recht jung. Sokrates sagt ständig, was er nicht weiß und was er von Chichi will, und Chichi sagt dann gern, das wäre längst ausdiskutiert. Oder aber sie sagt nichts, weil ihr Telefon in die Wanne gefallen ist und sie auf ein neues wartet. Wenn sie dann etwas sagt, sagt sie gern, dass sie Pilates machen muss, Karate, dass sie mit einer Freundin einen Wein trinkt oder mit dem Rückentraining im Rückstand sei.

Worauf Sokrates gern Horror Vacui brummelt. Anstonsten aber verstehen Sokrates und Chichi sich sehr gut. Eigentlich ist es eine Freude, wie gut sie sich verstehen. Das allerdings nur, weil Sokrates Vegetarier geworden ist. Würde er Fleisch essen wollen, hätte er gleich ein Problem.

Aber da Sokrates alt ist und sich die Todesarten nicht aussuchen kann, denkt er, egal ob mit oder ohne Fleisch, Hauptsache Gesellschaft. Nur gegen Chichis Horror Vacui, gegen den kommt er nicht an. Statt ihn, wie er sich das vorstellt, häufiger mal mit ihm zu verfüllen, wie man Erdrutsche verfüllt oder Buchstaben auf Papier schüttet, hat Chichi eben all diese Füllsel, die sie mit Gründen füttert, damit nicht so auffällt, wie sehr sie sich fürchtet.

Dabei ist zur Furcht gar kein Grund. Sokrates ist ein lieber Mensch. Sokrates hat schon vor zweitausendvierhundert Jahren dann und wann auf Fleisch verzichtet, wenn auch nicht unbedingt gern. Dass er noch immer unter uns weilt, hat damit bestimmt nichts zu tun. Das hat damit zu tun, dass er gern hier und dort ist und ihm immer mal wieder eine Chichi über den Weg gelaufen ist, was er liebt. Er zieht Chichis jedem Kollegen vor. Er mag einfach gern, dass so eine Chichi ihm die Ehre gibt, sie dann und wann ausführen zu dürfen.

Also, Chichi, sagt er ins Leere der philosophischen Diskussion. Wann darf ich dich wieder ausführen? Noch in diesem Jahrtausend? Ach, Pilates. Ich weiß, dass ich nichts weiß.

21:01

Chichi hatte sich diese Jacke gekauft. Eigentlich gar keine Jacke, eher der Versuch, dem Leben etwas Extravaganz abzutrotzen, Daunenstepp in Orange/Schwarz, vielleicht Reste eines Himalaya tauglichen Schlafsackes, das konnte Sokrates nicht einschätzen, fast knielang und so gearbeitet, dass man die orange eingefärbten Daunen sehen kann, sie flocken sich übern Körber hinab, durchsichtiges Plastik drumrum, so eine Jacke hat Chichi sich also gekauft, unmöglich, könnte man schreien, wenn man ihr übel wollte, aber Sokrates, der zweieinhalbtausend Jahre nutzloser Diskussion im Leib spürt, wäre der Letzte, der so etwas sagte.

Er schaut sich Chichi an und ist irgendwie entzückt. Er, der Vegetarier, würde jetzt gern ein Stück von ihr abbeißen, aber das unterlässt er. Er ist klug. Schließlich ist er Sokrates, da wird einiges von ihm erwartet, was er nie erfüllen kann, aber er tut so, als könne er es, und Chichi dreht sich in diesem Ding und lacht. Das Ding hat einmal siebenhundert Euro gekostet, aber sie hat's für 100 im Second Hand Laden erstanden und ist ganz glücklich damit.

Wenn Chichi glücklich ist, denkt Sokrates, wird es schon gut sein und so schaut er sie an, und sie trinken eine Flasch Mum und noch eine Flasche Mum, und dann wird Chichi schummerig und sie legt ihren Kopf an seine Schulter, aber Sokrates ist Herr seiner Lage. Chichi will plötzlich schlafen. Sokrates versteht und sagt, ich muss jetzt zurück nach Athen. Chichi ist ganz wackelig auf den Beinen und legt sich in ihr einsames Bett, Sokrates weht ihr einen flüchtigen Kuss durch den Raum und zischt ab.

Was für ein schöner Abend für einen alten, klapprigen Griechen, denkt er, als er die Akropolis hoch schnauft, um noch eine kleine Runde mit den Kollegen zu plauschen, ein, zwei Ouzo vielleicht, dann muss er auch noch Wäsche aufhängen, er hat noch Linsensuppe, die macht er sich warm, dann legt er sich hin, schaut hinab auf das Meer der Träume und denkt, verdammte Scheiße.

23:10

Die Linsensuppe rumort, die Unfreien unterhalb der Akropolis schauen auf. So etwas haben sie von Sokrates noch nie gehört und sie fragen sich, ob das neue Aspekte der philosophischen Diskussion anregt oder nur eine kleine Verstimmung ist. Einerlei, denken sie, solang er nicht unsere Tavernen zufurzt.

Sokrates sitzt und meditiert zum fast vollen Mond, als sein Smartphone zu vibrieren beginnt. Eine SMS von Platon: Sokke, simst er, hör zu, das mit der platonischen Dingens (du weißt schon), war nicht so gemeint, ich muss das überdenken :-)) Das glaub ich jetzt nicht? simst Sokrates back. Hättest du da nicht eher drauf kommen können, Jackass. Bericht erhalten, meldet sein Smartphone. Sokrates setzt sich auf die Plinthe einer dorischen Säule und lässt Wind gehen.


Sa 20.11.10 11:22

Als das Smartphone erneut vibriert, hat sich der Mond über Piräus gehängt und die schaukelnden Mastspitzen der Segler vergoldet. Sokrates erwacht. Was denn jetzt, denkt er und schaut aufs Display. SMS von Phainarette. Ach Mutti, denkt er, was gibt es denn noch so spät: Nas liebe gute Fre???

Häää. Sokrates weiß ja, dass Mutti einen harten Beruf hat. Hebammen müssen zu jeder Tages- und Nachtzeit aus den Federn, und er weiß natürlich, dass der Vollmond Kinder zieht, aber: Nas liebe gute Fre???, darunter kann er sich gar nichts vorstellen. Während er noch sitzt und überlegt, ob das in irgendeinen philosophisch relevanten Zusammenhang gebracht werden kann, kommt schon die nächste SMS. Ja, krieg die Tarten! schreibt Phainarette, und da hat Sokrates zum ersten Mal ein ungutes Gefühl.

Ob Mutti getrunken hat? Er beschließt, sich nicht zu äußern. Schweigen ist unter Philosophen oft die einzige Rettung vor nicht enden wollenden, fruchtlosen Diskussionen. Sokrates hat schon genug damit zu tun, dass man ihm einmal die Woche die Ohren zumüllt mit unreifen, schlecht verdauten Wortgewöllen. Er lässt es also stehen, rafft seine Tunika und geht nach Hause.

17:25

Der Morgen streckt sich übern Horizont, Athen beginnt von innen und außen zu leuchten. Sokrates lässt sich von einem Sklaven ein Bad herrichten, setzt sich hinein, isst ein paar Trauben, schaut auf die Vorhänge, die im leichten Wind wehen und ist sehr bei sich.

Leider nicht lang, denn das Smart-Phone, das damals gerade Einzug in die philosophischen Zirkel gehalten hat, meldet mit DingDong3.mp3 den Eingang einer neuen Nachricht. Schon wieder Mutti, denkt Sokrates, was hat sie denn bloß, aber diesmal es ist nicht Mutti, diesmal ist es Chichi und das freut ihn.

Lieber Sokrates, schreibt sie.
Lass uns nächste Woche treffen. Du bist ein guter Freund.
Mein Wunsch nach Nähe zu Dir entspricht meinen freundschaftlichen Gefühlen.
Das ist stimmig und gut. LG Chichi.

Sokrates erschlägt eine Mücke, die sich auf seiner linken Schulter niedergelassen hatte und kurz davor war, ihren Saugrüssel in ihn zu versenken, schnippt sie fort und zögert keinen Augenblick mit der Antwort. Keine Panik, Chichi, schreibt er. Stell den Kopf ab. Alles ist gut.

Aber gar nichts ist gut. Chichi ist agitiert. Das war gerade respektlos, simst sie in den Athener Morgen, und da muss Sokrates lachen. Dass Frauen kompliziert sind, war ihm nicht neu, aber dass sie so kompliziert sind, wo doch alles ausdiskutiert und besprochen war, das hätte er nicht gedacht. Weißt du, Chichi, das Beste wäre, du sprichst mit deinem Psychologen, denkt er. Oder geh und mach Pilates und wie das alles heißt, dieser neumodische Humbug. Und melde dich, wenn dir besser ist.

19:23

19:04 n' abend p.
19:05 hi sokrates, was verschafft mir die ehre?
19:05 nichts weiter. hocke so rum, höre no twist und frickle.
19:06 oh, woran frickelst du? isses technisch oder literarisch? :-)
19:06 nee, frickle am leben, das ist die komplizierteste frickelei
19:06 oh das stimmt wohl
19:07 ja. und wenn du das zur potenz erhebst, kommt frauen raus.
19:07 haha
19:07 zum quadrat reicht da schon
19:07 allerdings. und - was treibst du?
19:08 hmmm, bin gerade frisch aussem urlaub zurück und eher in einer art schwebenden stimmung ... etwas mehr geradeaus als sonst, aber mit dem beginn der neuen woche wird das wohl sein ende haben
19:09 urlaub. das hört sich gut. ich war vor vier wochen zehn tage auf ibiza. das hat mir sehr gefallen. seitdem finde ich mitteleuropa ungerecht.
19:09 dann beginnt wieder das normale leben :-(
19:09 wo und was arbeitest du denn?
19:09 oh, ich war 7 tage in ägypten ... der orient ist einfach wunderbar ich mach immer noch computerfuzzi in dortmund
19:10 da war ich vierundsiebzig. sehr freundliche menschen. allerdings waren damals die muslimbrüder noch nicht so verrückt wie heute. dass ich halber lehrer ist zu dir durchgedrungen, oder?
19:10 hmmm, vom islamischen fundamentalismus im alltagsleben ist nicht so viel zu spüren, die frauen sind allerdings sehr häufig verschleiert. ja, klar, haste mir ja erzählt
19:11 demenz
19:11 wolltest du noch ein paar tips von mir haben zum thema fünftklässler? :-D
19:11 ach? hast du? raus damit, da bin gespannt
19:12 erster tip: versuche zu vermeiden, als lehrer fünftklässler als schüler zu haben, da ist ads besonders krass! nun ja, anstrengend zweiter tip: versuche zu vermeiden, als lehrer ...
19:13 ads ist bullshit, das gibt das gar nicht. das ist nur so ein trendiger begriff. morgen haben sie schon wieder was neues. die wollen uns krank machen, mehr nicht
19:13 etc. pp oh, nach 2006 hab ich zumindest dran geglaubt
19:14 ja glauben. glauben ist nicht wissen. also meine da sind eigentlich ganz süß, wenn sie ticken, schnapp ich sie mir
19:15 hmmm, nun ja, so gegen ende meines referendariats hatte ich sie auch irgendwie unter kontrolle, nur war die methode gegen meine natur dafür bin ich einfach nicht geschaffen und "unter kontrolle haben" kann's ja nicht wirklich sein
19:16 hahahahaaaa. lehrer sein geht allerdings auch gegen meine natur. aber es gefällt mir zunehmend. ich kriege so langsam grund.
19:16 hihi aber du hast es ja immerhin studiert, ich war damals quereinsteiger und das auch nur, weil ich mich habe beschwatzen lassen manchmal bin ich so dumm!
19:17 shit man, vor hundert jahren. glaubst du, daran erinnerte ich mich. nee nee. außerdem haben die mich da eingestellt, weil ich kein lehrer bin. das haben sie mir vor kurzem gesagt.
19:18 oh ... schätze auch, die finden einen schriftsteller interessanter als den 08/15 Durchschnittslehrer das würde ich auch finden ...
19:19 ja. und da haben sie mich eingestellt. ist wahrscheinlicher billiger als gage zahlen.
19:20 das kann gut sein ... aber was ich noch sagen wollte:
19:20 ja, mensing hört...
19:21 viele der älteren lehrer, die ich während meines referendariats kennengelernt hab, waren irgendwie auch mit dem thema schule durch ... also richtig weichgekocht von ihrem job die hatten einfach keinen bock mehr, und diese perspektive sagte mir nicht wirklich zu da bist du ja noch relativ unverbraucht :-)
19:21 allerdings. das ist ein verdammt tougher job. das war schon richtig, dass ich da damals nicht eingestiegen bin. aber jetzt sinds noch drei jahre bis ich 65 bin, und wenn mein nächster roman durchhaut, bin ich eh weg...
19:22 das wünsch ich dir! aber immerhin eine interessante erfahrung
19:22 ich mir auch. gutes schlusswort. bin off
19:22 ok, gehe jetzt mal einkaufen, wünsche dir noch was!


So 21.11.10
10:31

Bis tief in die Nacht habe ich gesessen, und den Roman, den ich auf Ibiza gestutzt hatte, zum ersten Mal wieder gelesen. Jedes Wort, jeden Satz hatte ich abgeklopft. Alles musste bestehen. Tat es das nicht, war es draußen. Eine Entscheidung folgte der nächsten. Man glaubt kaum, wie viele Entscheidungen getroffen werden müssen, aber man muss sie treffen, und dann kann man nur hoffen.

Mit dieser Hoffnung saß ich da, die Nacht faltete sich über mir, und ich begann, diese Entscheidungen auf ihre Richtigkeit abzuklopfen. Ich schaffte sechzig Seiten. Jetzt weiß ich, dass mich die Ahnung, die auf Ibiza aufstieg, nicht getäuscht hat. Darauf bin ich stolz.

Ein blauer, vorwinterlich klarer Himmel spannt sich übers Land. Ich frage mich, wie ich den Tag verbringe. Irgendetwas wird mir einfallen müssen. Schließlich bin ich neu im Geschäft des Alleinseins, das kein schönes Geschäft ist. Arbeiten, denke ich, werfe den Rechner an und mache mich fit für die Woche.

22:26

Noch etwas Englisch, dann ins Bett und kopfüber in die neue Woche. Der Vollmond zerrt an den Nerven, Sokrates hat das Handtuch geworfen, Platon liegt volltrunken unter einem Olivenbaum, Chichi hat die Jalousien herab gelassen, sie hat Angst.


Mo 22.11.10 13:03

Herr M. hat war im Hier und Jetzt heute früh, seine Englisch-Einheiten funzten wie dreistöckige Raketen, wenngleich er eigentlich grundlegend anderes vor hatte, aber er richtet sich nach dem, was den Schülern fehlt und da setzt er an.

Nach der Düsternis heute also großartige Stimmungsbesserung, man könnte das manisch-depressives Grundläuten nennen, aber Herr M. ist nicht krank, Herr M. ist gesünder, stabiler und besser drauf als der Rest der Welt, er ist real, man darf ihn hassen und lieben, und wenn man ihn schlägt, schlägt er zurück.

Als er in die Pause ging, stürmten zwei, drei, dann vier, fünf, sechs Kinder auf ihn zu, riefen seinen Namen und hakten sich rechts und links bei ihm ein, so dass er ganz stolz war und glücklich über soviel Zuneigung, er dachte an Sokrates und Chichi und wie das ausgehen wird, ein Kind klaute ihm seine Mütze. Herr M. war sicher, dass er sie zurückbekommen würde und kümmerte sich nicht darum. Fünf Minuten später war die Mütze zurück, Herr M. stand in frischer Luft, Pausenaufsicht heißt das, die Größeren kamen und boxten mit ihm, die Kleineren wollten gestemmt werden, einer wollte sich umfallen lassen, damit Herr M. ihn auffinge, und so ging das fort. Wenn nun jemand nach der Moral der Geschichte fragt, könnte man sagen, dass man ihn liebt.

Die Sonne scheint. Morgen ist ein langer Tag, gleich wird ein Imbiss bereitet, Sokrates, hört man, hat lange mit Phainarete gesprochen und Rat geholt, schließlich ist sie eine Frau wie Chichi. Phainarete hat gesagt, Vorsicht, Sokrates, da hat jemand Angst, du sprichst wie immer die Wahrheit zu klar, das erschreckt.

13:55

Dabei gibt es
1. gar keine Wahrheit, und
2. ist Wahrheit das Einzige, was retten könnte.

14:28

Sie lesen Prosa. Bessere finden Sie selten.


Di 23.11.10 18:12


ich könnte schon, ich will nur nicht,
sie hat mich eingefangen und noch nicht befreit,
ich denk und sitz im fahlen Licht,
und hab den alten Platz noch nicht bereut.
ich liebe nichts, nur ihren atemzug,
ich hab kein bild, und niemand der mich hält,
ich wusste nie, was wahr ist, was betrug,
hab aber auch noch nicht genug von dieser welt.
sei's drum, ich schenk den purzelbaum
davon, und heb die breite schulter,
es wehen tagelang durch meinen traum
nur ton in ton getränkte dulder.
wer will noch mal, wer könnte sich noch einmal so verlieben,
die die's ihm sicher gönnte ist leider nicht geblieben.

23:03

Sokrates sitzt und schaut, was zu sehen ist. Hin und wieder steht er auf und geht ein paar Meter. Der Himmel ist bedeckt, es ist frisch in Athen und so normal, dass ihm der Atem stockt. Auf dem staubigen Gelände vor ihm spielen Jungen und Mädchen. Die Jungen haben sich organisiert. Die Mädchen ebenfalls. Die Jungen kämpfen antike Schlachten. Das Blut spritzt. Es müssen welche fallen, sonst macht es keinen Spaß. Die Mädchen sind Pferde und Reiter. Sie wiehern oder sie schlagen die Peitsche und rufen Befehle. Gut, dass ich das beobachten kann, denkt er, denn jede Philosophie muss ihren Grund haben, nicht wahr.

Jetzt ist Nacht.

Morgen ist ein schwieriger Tag, dann bricht schon wieder das Wochenende herein. Sie werden wahrscheinlich kaum glauben, dass so etwas schwierig sein soll. Aber so ist es. Es ist nicht einfach. Sind Sie Mäzen? Bitte, beweisen Sie es. Herr M. wird es nicht danken. Er wird es als Selbstverständlichkeit ansehen.


Mi 24.11.10 20:11

Sokrates schlug heute zweimal auf einen Tisch. Er hatte versucht, Adepten in die Feinheiten des bebilderten Textes einzuweihen. Er hatte mit Engelszungen von der Kraft des Bildes gesprochen, hatte erklärt, dass das Bild für sich stehe und daher der Text nur ein weiterführender Text sein könne. Er hatte Beispiele genannt. Er hatte Aufmerksamkeit gefordert, Hingabe. Er hatte verlangt, man solle nachdenken.

Stattdessen hatten die Adepten miteinander gestritten. Sokrates hatte erneut um Ruhe gebeten, Stimuli ausgeworfen wie ein verzagter Angler, der hofft, dass ein Fisch beißt, aber die Adepten hatten den Köder nicht angenommen.

Hatten weiter gestritten, sich in die Rippen geboxt, hatten getan, als wären sie allein und nur ihr Anliegen zähle, und da hat Sokrates zum ersten Mal auf den Tisch geschlagen. So fest, dass die Adepten betreten schwiegen, Zeuss anriefen und um Milde baten. Zwei, drei Minuten war Ruhe, dann störten sie weiter. Sokrates Hand schmerzt.

Später, Sokrates und hohe Rat waren zusammengekommen, um weise Lehren zu diskutieren und im Verlauf jenes Vorkommnis zu besprechen, das nur eines von vielen ähnlichen Vorkommnissen in letzter Zeit war, unter denen alle Mitglieder des hohen Rates litten, und eine Ratlosigkeit unter ihnen verbreitet hatte, die kaum noch tragbar war.

Sie hatten die Dinge mit den Regeln ihrer Philosophie von allen Seiten betrachtet und waren zu der Überzeugung gelangt, dass die Unruhe ihrer Adepten Folge ihrer eigenen Unsicherheit sein müsse, die sich übertrüge, eine Unsicherheit, die aus dem Widerstreit von Theorie und Praxis herrühre, sie waren eins, dass der Praxis eine höhere Priorität einzuräumen sei und dass sie diese Forderung als hoher Rat Ihrem Obersten zutragen müssten.

So könnten sie nicht weitermachen, etwas müsse geschehen.

Plötzlich öffnete sich die Tür und der Oberste kam herein. Sokrates wandte sich an ihn und berichtete ihm von ihren Beschlüssen. Alle Mitglieder des hohen Rates schlugen die Augen nieder und taten so, als verkünde Sokrates nicht das soeben Besprochene, sondern spräche von seiner Einschätzung der Dinge. So könne man das nicht sagen, sagten schließlich die ein und die andere.

Da hatte Sokrates zum zweiten Mal auf den Tisch gehauen und gesagt: Was seid ihr für erbärmliche Schisser. Der hohe Rat begann sich betreten zu winden, um dann, nach Philosophen unwürdiger Herumrederei schließlich zuzugeben, dass Sokrates wahr gesprochen habe. Sokrates war drauf und dran, wutschnaubend davon zu eilen.

Do 25.11.10 23:58

Das und der zunehmende Ärger mit Chichi, die sich seit jenem Freitag hineingewunden hatte in einen Gram, dessen Ursache nicht eingestandene Furcht vor dem Abenteuer war, bewog Sokrates noch am Abend einen Aufsatz zu beginnen, in dem er darlegte, welche Tötungsart für Heuchler, Schisser und Umfaller anzuwenden sei. Nach langem Ringen kam er zu der Überzeugung, dass es nur standrechtlich zu geschehen habe.

Herr M. kam herein und fragte, ob es noch irgendetwas gäbe, was er ihm sagen wolle, eh er das Haus verließe um tanzen zu gehen. Sokrates verneinte. Jetzt war auch er war dem Gram auf den Leim gegangen, er hasste sich und die standrechtlich zu beseitigtenden Mitglieder des Hohen Rates einschließlich Chichi, er wünschte sich, er hätte wieder Ruhe und könnte sich dem widmen, was er einzig und wirklich liebte: der Erkundung des Wahren.

Herr M. dachte, was für ein verrückter Hund sein neuer Untermieter sei, kurvte hinab nach Piräus und verbrachte den Abend in einer Kellerbar, wo er mit Frauen verschiedenen Alters ohne Ansicht von Amt und Würden heftigst und schweißtreibend Salsa tanzte, was er wundervoll fand.

Als er zurückkehrte, war Sokrates auf und davon. Im Flur lag ein Zettel, auf dem stand, er müsse sich für eine Weile zurückziehen, er werde nach Ibiza segeln, er kenne dort ein hervorragendes Hotel, er habe schon einmal dort gewohnt, seine Terrasse sei halb so groß wie ein Tennisplatz gewesen und er habe sie ganz für sich allein gehabt, er sehne sich nach dem Duft ätherischer Öle am Morgen, er könne den Gestank und die Lügen Athens nicht länger ertragen, die Widerwärtigkeit und das Mittelmaß eines großen Teils der Bevölkerung, ihr Duckmäusertum und ihre Falschheit, kurz gesagt, er verpisse sich für eine Weile, Geldmittel wären vorhanden.

Beneidenswert, dachte Herr M. und hoffte auf Nachricht von Frau von Arnsberg, ob wirklich von, dessen war er nicht sicher, jedenfalls war sie aus gutem Hause, und in guten Häusern gedeiht die Neurose farbenprächtiger als sie in seinem gediehen war, als er die heiligen Weihen der Sozialisation empfangen sollte, derer er sich mit Händen und Füßen und schließlich erfolgreich erwehrt hatte.

Beneidenswert, dachte Herr M. und beschloss, so bald es ihm möglich wäre, Sokrates zu folgen. Er würde abends in Vadella sitzen, auf die kleine Bucht starren(der DJ spielt Bugge Wesseltöft) und hoffentlich nichts Wollen Wollen. So von der Unlogik des Alltags erschüttert und mit Träumen behangen wie neureiche Russen mit Pelz, beschloss er, sich schlafen zu legen. Morgen wäre auch noch ein Tag, und wenn der glücklich verliefe, würde sein Enkel ihn Opa nennen. 15:31

Während Sokrates Richtung Ibiza segelt, hat Herr M. seinen Enkel besucht, ein Gaumenknatterer, ein rhythmischer Schaukler. Er hockt mit ihm in der Küche, schaut mit ihm Bilderbücher an, heftet Buchstaben an die Kühlschranktür, versteckt Dinge unter Töpfen und Bechern, er spricht mit ihm und er mit ihm, und dann hockt der Enkel irgendwann vor einem bunten Apparat mit Knöpfen und drückt den und den mit großer Begeisterung. Der Apparat spielt Melodien. Kühe muhen, Schafe blöken, Rhythmen nudeln, und da wankt der Enkel nach links und nach rechts und Herr M. denkt, schau, das Kind hat Freude am Rhythmus, irgendwann wird er wissen, wo die Eins ist, das verschafft ihm einen Vorteil vor vielen, die nicht einmal das wissen. Nur Opa hat er nicht sagen wollen, aber das hat keine Eile. Der erste Schnee wird Wasser, wenn er die Erde erreicht.

18:56

Autodächer aber firnisst er.

23:33

vor zwei minuten
war kein text da
schreib text
simste sokrates
er war auf see
und kotzte sich die seele aus dem leib
noch zwei tage
sagte der kapitän
das meer bleibt unruhig

jetzt ist text da
wo eben keiner war
wo nicht einmal eine ahnung herrschte
wie text klänge falls man sich auf ihn einließe
wie überhaupt und woher er kommen könne
aus dem kopf aus dem bauch aus der lende

hör mal herr m sagte sokrates
ob text vielleicht ein wunder ist
ja sagte herr m allerdings
text ist ein großes wunder
text ist wie quantenmechanik
niemand versteht letztlich worum es geht
aber das macht alles noch wundervoller
danke sagte sokrates
jetzt kann ich es wieder aushalten
dieses schiff ist verflucht klein
es buckelt über jede welle
und schreddert die schönsten gedanken
aber mit text
mit text geht es wieder
mit text geht alles
vielleicht schaff ich's bis morgen

und chichi
ach chichi sagte sokrates
was weiß ich chichi und wie sie alle heißen
sollen mir den buckel runterrutschen
ich schaff es auch so


Fr 26.11.10 15:03

Sokrates kann Malta sehen, vorausgesetzt, er hängt nicht über der Reling und will sterben. Seekrankheit ist ein Schwein. Das wünscht man niemandem. Der Kaptiän lacht, als er Sokrates sterben sieht. Der Kapitän sagt, man muss nur lang genug an Bord sein, dann vergeht das. Aber Sokrates will ja nicht ewig bleiben. Er will nur von A (Athen) nach B (Ibiza), und das hat er jetzt davon. Und dann kommt auch noch die beunruhigende Nachricht, dass die Oberen ihn sprechen wollen. Sofort und jetzt, was immer das bedeuten mag. Soll er über Bord gehen und zurück schwimmen? Er schlägt eine Videokonferenz vor. Man willigt ein. Sie beginnt in einer Stunde.

18:07

Sokrates ist seinen Job los.
Das klingt erschreckend, ist aber, wenn er's bedenkt, eine Erleichterung.


Sa 27.11.10 00:41

Ist der Ruf erst ruiniert (selbst das, und das hätten Sie jetzt nicht gedacht, nicht wahr, ist eine sokratische Erfindung), lebt sich's gänzlich ungeniert. Sokrates hat keine Einwände gegen diese Entscheidung, die Oberen hatten keine andere Wahl, und Sokrates nimmt den Schwung der Erleichterung und die düstere Ahnung einer Existenz ohne festes Einkommen zum Anlaß, den Kapitän zu zwingen, auf Malta zu landen, geht von Bord und gerät in den Black Bastard Club, wo Phönizier mit Gitarren, Bass und einem hervorragend gedroschenen Schlagzeug jenen lebensbejahenden Radau veranstalten, der jede Philosophie (die mit kategorischen Imperativen die Praxis erschwert bis unmöglich macht) ad absurdum führt und feiert das Leben als Freier. Der Rest wird sich finden. Er hat in den letzten eineinhalb Jahren so viele Schrecken erlebt, dass ihn so ein Schreck nicht mehr tangiert.

8:25

Adepten prügeln sich, Adepten hantieren auf gemeingefährliche Art und Weise mit Gegenständen und sind auch nach mehreren Ermahnungen nicht bereit und willig, diese Tätigkeiten aufzugeben ... usw. ...usf...? Kein Problem, der geschulte Philosoph greift nur verbal ein. Er ist immer Philosoph. Deshalb nimmt niemand ihn ernst. Handelt er menschlich, wird es auf der Stelle gefährlich, denn im Hintergrund könnten Adeptenmütter wie Polinaike lauern, die bei der bloßen Erwähnung des Nomens Mann Gewalt assoziieren, und dann Gnade dem Philosphen Gott. Da kann er Reden halten soviel er will. Da ist er gefeuert. Aber Malta ist schön. Vielleicht nicht so schön wie Lummerland, auch nicht so schön wie Ibiza, aber die Gitarren krachen und heulen, und Sokrates beschließt, das göttliche OM zu summen. Am Morgen taumelt er zum Hafen und findet ein neues Schiff. Er wird schon sehen, wo es hinfährt.

18:09

Das Schiff fährt im Kreis. Der Kapitän ist ein betrunkener Russe. Sokrates wirft alle Erinnerungen an Chichi über Bord. Löscht sie vom Facebook Account, entfreundet sich sozusagen, was ja aus philosophischer Sicht ein gewagter Schritt ist, wenngleich menschlich alltäglich. Als das getan ist, geht er zum Kapitän auf die Brücke und trinkt mit. Dann weiß er wenigstens, was rauskommt, wenn er gleich wieder kotzt.


So 28.11.10 9:54

Der Morgen findet Sokrates auf hoher See. Keine Spur vom russischen Kapitän. In der Timeline Nachrichten von Herrn M.: Man hat mir fristlos gekündigt. Weshalb? fragt Sokrates. Das Unterbinden Adepten gefährdender Kämpfe mit einem Senkblei. Sokrates kommt das bekannt vor. Auch seine Adepten hatte ein Senkblei geschwenkt. Dass sie dabei niemanden ernsthaft verletzten, hat damit zu tun, dass er als Mensch intervenierte. Diese Intervention führte dazu, dass die Oberen ihn entlassen haben.

Das Leben ist voller Fallstricke.

Am Horizont scheint Land auf, aber Sokrates ist nicht sicher, was für Land. Könnte Afrika sein, Sizilien oder sonstwas. Sokrates beschließt, darauf zuzuhalten. Er muss sehn, dass er Land unter die Füße bekommt, ganz gleich, was für Land. Es muss sehn, dass er Mäuse locker macht, irgendwoher muss Schotter kommen, Penunse, Bargeld für Reden, Bargeld für Egal-Wofür, Hauptsache Bargeld.

Sokrates könnte Reden halten. Das hat er immer getan. Er ist ja ein begnadeter Redenhalter, aber seit die Schatullen Athens durch Misswirtschaft und ständige Kriege mit imaginierten oder wirtschaftlich nützlichen Feinden nicht mehr so prall gefüllt sind, werden selbst begnadete Redner hintangestellt. Krieg ist wichtiger als Kultur. Krieg war immer wichtiger, das war Sokrates nicht neu, aber dass gerade jetzt wieder soviel Krieg sein muss, geht ihm gegen den Strich. Moderne Gesellschaften hätten Besseres verdient als die Regentschaft der Idiotie, des Kompromisses und der Diktatur des Kapitals.

Etwas knirscht unterm Kiel.
Eine Sandbank.
Darauf ein Liegestuhl.
Darauf Chichi.
Du respektierst meine Grenze nicht, ruft sie. Fahr weiter.
Worauf du dich verlassen kannst!
Sokrates schiebt den Maschinentelegraf auf Volle Kraft voraus.

11:12

Das war das Ende von Chichi.
Und das Ende einer kurzen Karriere.
Und wo ein Ende ist, müsste ein Anfang sein.
Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei.
Um diese Enden ein für alle Male zu markieren, ist Sokrates unterwegs.

12:03

Das eine Ende und das andere. Und das auch noch. Keines hat ihn umgeworfen.

Der Schmerz des ersten rumort jeden Tag in ihm, der Schmerz über alles, was danach begonnen und geendet hat, ist ein Windfurz. Eines aber ist immer gleich: die Einsamkeit hinterher. Diese Einsamkeit, die nicht nur Sokrates Einsamkeit ist, sondern jeden im Schatten frösteln läst. Diese Einsamkeit gilt es zu ertragen, nicht zu betäuben. Sie darf kein Feind werden.

Sokrates aktiviert den Autopiloten.
Das Schiff stampft stoisch. Die See ist jetzt ruhiger.

Ich muss mir die Einsamkeit zum Freund machen. Dann können mir Chichi, die Krawallbürste Feige und wie sie noch heißen mögen, nichts mehr anhaben mit diesem ererbten biologischen Vorteil, der es ihnen ermöglicht, bei einer 9monatigen Tragzeit nicht den Verstand zu verlieren.

14:57

Ein Hörspiel, denkt Sokrates. Wenn ich festes Land unter den Füßen habe, werde ich ein Hörspiel über Chichi, über die Hansestadt, über die Philosophen, den Hohen Rat, über den Obersten und die Adepten schreiben, dass es nur so kracht. Dass sich alle an den Kopf fassen. Ein Hörspiel, das so komisch ist, dass der Hörer sich biegt vor Lachen. Ein tragik-komisches Ding. 45 Minuten.

Sokrates wirft seinen Computer an. In der Timeline nichts Neues.
Die Ibiza Webcam zeigt die Bucht von Vadella. Sie liegt ruhig in der Nachmittagssonne.

15:27

Sokrates wird das Hörspiel Timeline zu nennen.
Ist das Ibiza da am Horizont? -

Wildgänse kreisen über Westfalen.
Herr M. hat einen Schatz aus seiner Plattensammlung gegraben.
Van Morrison live 1973, aufgenommen in London und Los Angeles, das Beste, was es von ihm gibt.
Vinyl klingt so gut!!!

16:38

Herr M. zitiert:

Die Terrorwarnung ist der Weckruf für eine neue alte Angst: Der Weckruf erschreckt eine ohnehin höchst verunsicherte Gesellschaft. Er erschreckt sie so, dass sie ihre anderen Ängste verdrängen kann: die Angst vor der globalisierten Wirtschaft,die Angst vor einem marodierenden Finanzsystem und vor einem taumelnden Euro, die Angst um den Arbeitsplatz und die eigene kleine Existenz. All diese Verunsicherungen gehen auf in der einen großen kollektiven Angtst vor dem Terror, die nach radikaler Soforthilfe ruft. Die Angst dringt darauf, dass etwas getan wird, möglichst schnell, möglichst viel, möglichst alles, sie fordert befreiende Taten. Sie ruft danach, nicht so viel Rücksicht zu nehmen. Die Terrorangst ist das Fieber der Gesellschaft. Sie sucht nach Sündenböcken. Sündenbock der Terrorangst ist der Islam.

SZ 27/28 Nov. 2010 von Heribert Prantl: Um Gottes Willen

19:59

Sokrates ist in Cala Vadella an Land gegangen.
Es ist frisch, er hat sich unter Pinien und Tamarinden gesetzt, hat ein wenig hin und her gedacht, und Chichi eine Mail geschrieben.

so chichi, hatte er begonnen.

ich hatte dir geschrieben, was ich über mich weiß, meine motive, meine lage etc. pp.
nach deinen einwürfen will ich dir sagen, was ich darüber denke: ich finde sie albern. ich finde, sie klingen, als wärst du keine zwanzig. du musst mir nicht erklären, was du nicht willst und wo deine grenzen sind und dass du eine autonome person bist. 

ich hatte das akzeptiert. schon im sommer, nachdem ich dir klar gesagt hatte, was ich gern gehabt hätte und du klar geantwortet hattest.

wenn ich das pferd also andersherum aufzäume, oder besser, so, wie du es aufgezäumt hast, chichi, könnte ich sagen: du hast meine grenzen nicht akzeptiert, begreifst du: du hast deinen kopf auf meine schulter gelegt. du hast nähe gesucht. ich habe die genossen, aber nicht ausgenutzt.

wenn du bereit bist, auf dieser ebene mit mir zu kommunizieren, bin ich gern weiter dein freund.
wenn nicht, war's das.

Sokrates


Mo 29.11.10 19:02

Wegen Winterstarre geschlossen.


Die 30.11.10 8:48

Darüber können wir nicht sprechen. Das unterliegt einem Geheimnis, sagte Sokrates. Dann veröffentliche ich es auf Wikileaks, sagte sein Gesprächspartner. Ich habe ja die Unterlagen. Bitte, ganz wie Sie wollen.

14:51

Herr M. wurde als Kunde der Agentur für Arbeit herzlich begrüßt und von einer freundlichen jungen Frau an deren Arbeitsplatz geführt, wo sie sich sein Leben erzählen ließ und ihm mehrere hundert Seiten starke Fragebögen überreichte, die nun auszufüllen sind. A., ein Freund, meint, die hätten den Arsch auf. Wenn du dich mit denen einlässt, fragen sie dir ein Loch ins Hirn. Schmeiß den Scheiß einfach weg.

Herr M. findet das nachdenkenswert.

Der Tag zieht träge, grau und kalt dahin, wie Novembertage dahinziehen. Herr M. tut überhaupt nichts. Er wird gleich die Beine hochlegen und lesen. Nichts eilt. Die Einkünfte sind bis zum Ende des Jahres gesichert. Alles andere wird später entschieden. So versöhnt mit der Gegenwart kann ihm keiner. Zudem muss natürlich auch Schreck verdaut werden, der jeden anspränge, der erfährt, was Sokrates erfahren hat. Zum Beispiel, dass die Außenwirkung und der Ruf einer Institution wichtiger sind, als das persönliche Schicksal seiner Angestellten. Scheinwelt und Heuchelei, simst Sokrates von der Insel. Trau keinem Philosophen.

21:19

Die Buschtrommel tönt. Man sagt, der Obere könne sein "HeileWeltGetue" bis zur Perfektion fahren. Sokrates überlegt, zum Anam Cara hinüber zu gehen. Es ist ja nur ein paar Minuten den Weg hinab, der zur Küste führt. Er wird versuchen rauszukriegen, wer der Obere ist. Hat das mit dem Wikileaks Freak von heute früh zu tun? Oder ist er nur einer dieser abgelegten Gurus aus Stuttgart, der für gefrustete Frauen Süßholz raspelt.- Wahrscheinlich. Wahrscheinlich deshalb auch Heile Welt. Sokrates geht los.

22:30

Es ist so ruhig, abends in der Cala Carbo. Dass sich die Seelenfänger immer die besten Plätze unter den Nagel reißen. Es ist zum Heulen. Schauen Sie sich dieses Anam Cara doch einmal an. Da ist alles vom Feinsten. Über die Mauer kann Sokrates da nicht steigen. Da bellt sofort ein Alarm, soviel ist klar. Und wenn er den Sokrates raushängen lässt. Das müsste gehen. Er schellt.





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