November 2016 www.hermann-mensing.de
mensing literaturBücher von Hermann Mensing bei: Amazon.de
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Di 1.11.16 16:50
Heute ist der 24.712te Tag meines Lebens. Ist das nicht schön? Andere kneifen den Arsch schon nach einer Woche zu. Oder nach einer Stunde. Oder nach 18.362 Tagen. Ich aber habe schon 67 Jahre 7 Monate und 26 Tage durchgehalten. 24.712 Tage. Das soll mir erst einmal jemand nachmachen.Interessant ist, dass ich mich fast an jeden Tag erinnern kann. Nehmen Sie zum Beispiel den 16.322ten Tag. Da war ich gar nicht da. Da war ich woanders. Oder den 21.111ten Tag. Da hatte ich frei. Am 24.713ten Tag habe ich voraussichtlich ebenfalls frei. Kein Wunder, dass ich schon so viele Tage geschafft habe, ich hatte ja häufig frei. Heute auch. Heute war es sehr mild. Heute vor 365 Tagen war es genauso, aber sonniger. Ist es nicht ein Wunder, dass sich in meinem Leben schon so viele Tage aneinanderreihen? Ich hoffe, dass ich noch viele hinzukommen, denn je mehr Tage ich lebe, desto mehr erlebe ich, und das will ich, nur das Erleben führt zu Erfahrung.
21:20
Gestern war ich zu einem Geburtstagfest bei Freunden in der Stadt eingeladen. In der Regel geht es dort hoch her, ich wusste also, dass ich über Nacht fortbleiben würde. Mitnehmen wollte ich meinen Gast nicht. Ich dachte, wenn ich ihn allein lasse, begreift er, dass ich ihm vertraue. Dieses Prinzip funktioniert. Ich habe viel von der Welt gesehen, und Menschen haben mich nie enttäuscht. Nicht einmal der Polizist im Gefängnis von Kathmandu, bei dem ich vorsprechen musste, um einem Reisebekannten, der mir aus einem der Gitterfenster zugewinkt und mich gebeten hatte, ihm Schreibzeug und Zigaretten zu besorgen. Das Gefängnis war ein heruntergekommener Ort, es roch nach Urin, und der Polizist, ein Mann, der mich ohne Grund hätte festsetzen können (zumal ich ein Piece in der Tasche hatte), bot mir nach anfänglich aggresiven Fragen sogar einen Tee an.Mein Gast ist ein junger Mann aus dem Mahgreb, der großes Interesse daran hat, schnellstmöglich Deutsch zu lernen. Wie lange das dauere, fragte er mich. Siebenundsechzig Jahre, antwortete ich. Wir lachten. Er trinkt nicht und isst natürlich kein Schweinefleisch, aber er raucht und er raucht viel zu viel. Am Tag seiner Ankunft fragte ich ihn, was Gott zum Rauchen sage? Darüber hatte er noch nicht nachgedacht. Heute abend betete er. Weiß du wo Osten ist? fragte ich. Ja. Das wusste er. Den leichten Novemberregen bestaunte er vom Balkon.
Mi 2.11.16 9:11
Tag 24.713 - Der Gebrauch von Axxe Körperspray scheint eine weltweite Unsitte. Mein chilenischer Gast nebelte sich damit ein, mein indonesischer ebenso, der aktuelle aus dem Mahgreb tut es auch. Was sie veranlasst, ihren testosterongeschwängerten Eigengeruch zu übertünchen, scheint auf dem Glauben zu beruhen, sie röchen attraktiv, dabei stinken sie. Mir bleibt nichts, als die Wohnung zu lüften, sonst hängen die Geruchspartikel noch Stunden herum. Zu meiner Zeit gab es kein Axxe Körperspray. Ob es ähnliches gab, weiß ich nicht mehr.
12:05
Aufschreiben, wie es kommt. Nicht Aufgeschriebenes verliert sich im Wirbel der Ereignisse, denn die Welt ereignet sich jeden Augenblick. Ist manches vertraut? Wiederholt es sich ? Egal. Aufschreiben. Aufschreiben, wie es kommt. Wie kommt es denn? Wie kann es sein, dass es kommt, wie es kommt, ohne dass jemand etwas geahnt hätte. Was für ein Geschrei überall, als hätten alle den Verstand verloren. Als hätte niemand Eins und Eins addiert. Dummes Volk. Alles aufschreiben.
Am 24.173ten Tag dieses Lebens wird die Schere versteckt, die immer zuschneiden will, formatieren, als gäbe es ein Format, das der Wirklichkeit gerecht würde. Alles, was vorher war, liegt im Nebel. Man sagt, man könne sich erinnern. Das stimmt. Aber die Erinnerung ist zum großen Teil gnädige Lüge. Selbstbetrug. Also sitzt der Betrüger vor einer Maschine, die ihm erlaubt, schnell und übersichtlich zu protokollieren. Im Gegensatz zu früheren Maschinen, die er besaß (eine davon steht noch im Schrank) benötigt die heutige Energie. Ohne Energie bleibt sie ein flacher, schwarzer, fast quadratischen Kasten, eine Mappe fast, nicht viel dicker. Fleißige Hände im fernen Osten haben sie zusammengesetzt. Seltene Erden waren notwendig, sie zu bauen. Man gräbt an exotischen Orten. Oft werden es riesige Löcher, in denen Menschen für Hungerlöhne ihr Leben riskieren. Alles wird aufgeschrieben. Der Tag heute. Was geschieht am 2. November 2016. Wird irgendwo Frieden geschlossen? Siegt der gesunde Menschenverstand? Man wagt eine Prognose. Man sagt: nein. Jeder bisher geschlossene Friede war ein Sieg, aber die Siege waren selten. Der gesunde Menschenverstand wartet weiter auf seinen Erfolg.
Was hast du aufgeschrieben? Hast du von dir gesprochen, oder sprichst du von dem, was du gerne wärst. Sag die Wahrheit? Frage: welche Wahrheit. Die Wahrheit über das allergrößte der großen Themen. Sprichst du über die Liebe. Dieser zweiten großen Illusion neben der Erinnerung. Also. Was ist mit ihr? Du genießt sie? Sei froh. Du leidest an ihr? Sei froh. Besser, als nichts. Besser, als ein nur von dir bewohnter möblierter Raum, dein Gefängnis für, wenn es hoch kommt, achtzig Jahre. Du beginnst also aufzuschreiben. Gut. Du gibst dem Text keinen Namen. Du verfolgst keine Absicht. Du sagst nicht, ich schreibe einen Roman. Du sagst nur, was kommt. Was kommt denn? Ist schon etwas gekommen? Heute früh, nachdem du aus deinem Übergangsbett (zwei Matratzen übereinander, uneingeschränkte Sicht auf den Nachthimmel) stiegen, in die Küche gegangen und Kaffee gekocht hast? Ja. Alltag kam. Der Gast (eingenebelt in Axxe) in Eile. Dass diese jungen Menschen sich nicht Zeit nehmen, zumindest einen Croissant zu essen. Nein, nichts. Raus aus dem Bett, Haare geelen, Axxe sprühen, Zigarette, noch eine Zigarette und dann ab in den Bus, zur Schule. Lernen. Seitdem hat zweimal das Telefon geklingelt. Zweimal waren es Werbebotschaften.
Do 3.11.16 12:09 24.174
Zwei junge Araber steigen in Frankfurt Airport in den ICE 1026 nach Hamburg Altona. Beide haben viel Gepäck. Sie finden einen Platz, verstauen ihre Koffer und Rucksäcke. Sie sind aufgeregt. Sie sind früh am Morgen aufgestanden, aus der 3 Millionenstadt Tunis zum Flughafen hinausgefahren, haben sich von den Eltern verabschiedet, eingecheckt, vier Stunden Flug hinter sich. Nun fahren sie durch ein Land, dass so ganz anders aussieht als ihres. Sie fahren einem neuen Leben entgegen. Am Zielort werden sie von Gastgebern erwartet, sie wissen aber so gut wie nichts über sie. Langsam dunkelt es. Das Land ringsum versinkt. Der Zug fährt in den Bahnhof. Sie steigen aus. Der Gastgeber kommt und holt sie ab. Der Zug fährt weiter. Kaum zehn Minuten unterwegs, fällt einem Reisenden auf, dass die beiden Araber, die gerade ausgestiegen sind, einen Rucksack zurückgelassen haben. Er schlägt Alarm. Der Zug hält auf offener Strecke und wird evakuiert. Dreihundert, vielleicht vierhundert Menschen stehen am Bahndamm. Gerüchte machen die Runde. Polizei taucht auf. Hubschrauber kreisen. Spezialkräfte entern den Zug. Schließlich Entwarnung. Das hätte letzten Sonntag passieren können. Der vergessene Rucksack ist gerade aus Hamburg gekommen.
Fr 4.11.16 13:09 24.175
Die junge Frau will, das ich Weißwein trinke zu den gebackenen Karpfenstreifen mit Paprikadip, geräuchertem Knoblauch und Kartoffelpüree. Eigentlich hätte ich lieber Rotwein getrunken, aber ihr zu erklären, warum man in der Regel Weißwein zu Fisch trinkt, war mir zuviel, ich hätte weit ausholen müssen, ich hätte ihr von den noch nicht existierenden Kühlketten der vorherigen Jahrhunderte erzählen und sagen müssen, dass Weißwein eher eine vorbeugende Maßnahme gegen Fischvergiftungen war, also nickte ich. Sie war erfreut. Sie hatte viel zu sagen über den Weißwein und ich ließ sie frei sprechen. Hierschönessen ist ein kleines Restaurant in der Dresdener Neustadt. Junge deutsche Küche, der Koch aus Hamburg die Elbe hochgewandert. Köstlich die Karpfenstreifen, sehr crisp umbacken und fein gewürzt. Und kaum ist es aufgeschrieben, ist schon die nächste Reise gebucht. Ich fahre ans Meer. Wir fahren ans Meer.
Sa 5.11.16 18:05 24.176
Nach vier Wochen online-Zeitunglesen mal wieder ein knisternder Kampf mit Papier. Ist weniger effektiv, aber sehr gemütlich.
Mo 7.11.16 13:32 24.178
Der Morgen kommt grau. Ich schreibe nicht, ich lebe, und das lässt keine Zeit. Wenn Zeit ist, schreibe ich nicht, weil ich weiß, worüber ich schriebe. Ich schriebe über mich und das Leben. Das Leben hat Themen, aber keine Perspektive. Wer das Leben schreibt, muss einen Namen haben, ich habe keinen. So bleibt es beim ersten Satz. Oft waren es erste Sätze, die sich nicht einstellen wollten, und wenn sie sich eingestellt hatten, war zu entscheiden, ob ich mit ihnen spielen würde. Ich spiele oft und gern. Ich bin naiv und neugierig, ich weiß nie, was ich tue. So sind Hörspiele, Theaterstücke, Romane, und Gedichte entstanden, so entsteht Tex. Mein Text. Mein Ich. Dieses Ich feiert und liebt sich, aber es ist gleichwohl ein Feind, den ich mir nicht ausgesucht habe. Er liebt das Geheimnis, und plaudert doch alles aus. Er liebt den Verrat. Er liebt das Abenteuer. Er ist ein Mensch. Er liebt Hölle und Risiko und will doch in den Himmel. Da das niemanden interessiert, bräuchte ich Arbeit, deren Ergebnisse sich sehen lassen können. Gartenarbeit wie vorletzte Woche. Zwei herbstliche Sonnentage mit Ausrupfen, Abschneiden, Zuschneiden und Säubern verbracht und dabei Geld verdient. Geld zu haben ist schön. Man kauft was, man geht essen, man verjuxt es. Der Morgen ist immer noch grau. Heute ist der 24.178te Tag.
15:02
Es hat etwas Rührendes, wenn so ein alternder Hardrocker (Tarnjacke, langer grauer Pferdeschwanz) mit einem Zehnerpack Toilettenpapier vorübergeht.
Di 8.11.16 13:02 24.179te Tag
Als ich im Sommer zum ersten Mal versuchte, meine Tangotanzpartnerin in die Position für einen Rückwärtsocho zu bringen, gab es einen Stich in der rechten Hüfte und zwei Tage später konnte ich kaum gehen. Verrenkt, sagte der Orthopäde, renkte es wieder ein und meinte, ein paar Tage würde ich es schon noch spüren. Im Prinzip hatte er recht, was aber nicht heißt, dass sich die rechte Hüfte nicht dann und wann meldet. Dann lege ich einen Stützgürtel an, der einem Box-Weltmeisterschaftsgürtel ähnelt, nur andersherum getragen. Heute früh putzte ich auf dem Balkon meine Schuhe. Dabei entglitt mir die Schuhcreme und fiel ins Gebüsch. Statt nun die Wohnung auf üblichem Wege zu verlassen, stieg über die Brüstung hinab ins Gebüsch, hob die Tube Schuhcreme auf und hangelte mich wieder hoch. Das fand meine Hüfte nicht gut. Ich habe jetzt Salbe aufgetragen, die große Hitze entwickelt. Meine Lenden brennen.
Mi 9.11.16 14:12 Tag 24.180
In der Nacht, in der das Vulgäre gesiegt hat, und die Populisten sich die Hände rieben, weil sie nun Kasse machen, in ausgerechnet dieser Nacht tat ich kaum ein Auge zu, weil meine Hüfte so schmerzte. Heute früh, als sich die ersten Kraninche, die ja auch Zeitungen lesen und wissen was in der Welt los ist, aufmachten, das Land zu verlassen, ging ich zum Orthopäden, um meine Hüfte erneut einrenken zu lassen. Das ist nun geschehen. Die Kraniche ziehen noch, und mein Sohn meint, mit dem Projekt JFK Reloaded könne die CIA sich rehabilitieren.
Do 10.11.16 18:09 24.181
Die Welt wartet gespannt, wie es mit dem Lügner, In-den-Schritt-Greifer, dem Busengrapscher, Populisten und gut geföhnten Faschisten nun weitergeht. Viele bangen, er könne die Uhren um Jahrzehnte zurückstellen, um dem Redneck aus den Tiefen des amerikanischen Kontinentes, wo viele nicht wissen, wo Mexiko, geschweige denn Dänemark liegt, ihren amerikanischen Traum zurückzugeben. Und da er lügt wie gedruckt und Minderheiten, Andersgläubige, Andersdenkende- und lebende verunglimpft, glauben natürlich die Deppen in Europa, das dürften sie jetzt auch.
Fr 11.11.16 8:41 24.182
Manchmal ist der Schmerz atemberaubend und zwingt mich in eine stützende Position. Dann wieder hält er sich vornehm zurück. Dumm ist, dass ich erkältet bin, denn das Husten tut in der Hüfte weh. Fahrradfahren tut nicht weh. Die Hüfte mag die gestreckte Sitzposition und das Auf und Ab. Gut tut auch, die Knie im Stehen oder Liegen bis an die Brust zu ziehen. Zwei, drei Tage, hat der Orthopäde gesagt, dann wird es besser. Beim letzten Mal hatte er recht.
So 13.11.16 11:02 Tag 24.184
Den Sonntag hatte Herr M. sich reserviert. Während die einen noch schliefen, andere überm Frühstück ihre Frauen anstarrten als wäre sie Außerirdische und Frauen ihre Männer, als hätten sie nie größere Langweiler gesehen und dächten darüber nach, wo man sich ihrer entledigen könnte, machte Herr M. Kunst. Er war sich seiner Verantwortung bewusst, denn Kunst überdauert die Zeit. Kunst wird bisweilen derart wertvoll, dass man besser gar nicht darüber nachdachte, wieviele Millionen man da gerade schuf.Nur war es leider so, dass die von Herrn M. verfertigte Kunst sich nicht nach Quadratmetern auf Leinwand maß, sondern nach aneinandergereihten Buchstaben. Da man davon ausgehen durfte, dass er pro Tag mindestens 3000 Buchstaben aneinanderreihte seit er zwanzig war, kann man sich leicht ausrechnen, was für einen Unsinn er in all den Jahren geschrieben haben musste.
Damit, dachte er plötzlich, muss es ein Ende haben. Irgendein Ende muss jeder finden, also auch ich. Aber wie kam man zu einem vernünftigen Ende, ohne in tiefe Depression oder ins dunkle Loch des Lebensendes zu fallen und zuzusehen, wie die Ränder ringsum, oben, wo noch Licht ist, langsam abbröckeln und einen begraben? Das waren keinen schönen Aussichten für einen so dem Frohsinn zugetanen Künstler wie Herr M., so dass er an jenem Sonntag, der durchaus dieser Sonntag sein könnte, auf Abhilfe sann.
Es gab die Option des totalen Filmrisses, der er aber keinerlei Reiz abgewinnen konnte. Das einzige Mal, dass er so etwas erlebt hatte, lag lange zurück, er war dreizehn, und hätte damals nicht jemand auf ihn acht gegeben, wer weiß, vielleicht wäre Blut geflossen. Welche Optionen gab es sonst noch? Entgrenzung, um das Leben ertragen zu können? Vieles schon ausprobiert, auch nicht optimal. Suizid? Immer wieder drüber nachgedacht, aber als unmoralisch verworfen. Etwas für Feiglinge. Blieb schließlich nur das heroische Weiterleben. Egal, ob die Knochen krachen, das System immer labiler und anfälliger wird, der Mensch muß als Held sterben, a horse is a horse, und ein Held ist ein Held, da können sie sagen, was sie wollen. In diesem Sinne wünsche ich einen geruhsamen Sonntag.
Mo 14.11.16 16:08
Tag 24.185 bewölkt Vollmond 4 Grad
Die Dame will nicht. Da steht man dann da, rot wird man nicht, dafür ist man zu alt, aber man steht doch schon doof da, auch wenn die Dame nur gesagt hat, sie wolle im Augenblick nicht, was ja impliziert, dass sie später vielleicht doch wollen würde, aber das kann sie sich abschminken, einmal einen Korb gegeben, nie wieder gefragt, ich verbreite ihr Bild in den sozialen Medien, dann wird sie auf alle Zeiten in der Nähe der Tanzfläche hocken, die blöde Kuh, und niemand wird je wieder mit ihr tanzen. Also zur nächsten, schließlich bin ich hier, um all die raffinierten Figuren, die ich mit meiner Tanzpartnerin beherrsche, an anderen auszuprobieren, denn die Tanzpartnerin ist auf einer Fortbildung. Darf ich also bitten? Man nickt, man folgt mir auf die Tanzfläche, man startet, man, also ich, und stellt gleich fest, schlechte Wahl. Man weiß, sie kann tanzen, man hat das schon ein paarmal beobachtet, aber mit mir geht fast nichts. Sie empfängt keines der subtilen Signale, mit denen der Führende dieses argentinischen Volkstanzes die Damen hierhin und dorthin bewegt, sie springt wie ein junges Reh, und es gibt nichts, was ich dagegen tun könnte. Also gebe ich auf, ziehe meinen Mantel an und vertage mich.
Di 15.11.16 10:10
Tag 24.186 bewölkt feucht 9 Grad
Als wir uns über den Belag einer zu backenden Pizza verständigten und ich neben üblichem Grünzeugs Rinderhack vorschlug, fragte mein Gast, ob es hallal sei? Dem Rind ist hallal eher unangenehm, langsames Ausbluten macht keinen Spaß, mich erinnert es an die Methoden des IS, aber ob nun hallal oder nicht hallal konnte ich nicht beantworten, denn ich esse alles, solange es tot ist und gut zubereitet. Wir machen eine Seite hallal und die andere nicht, schlug ich vor. Erfreute Zustimmung. Wir lachten. Schließlich wurde es doch eine reine Gemüsepizza mit ein wenig Harissa, was mir Schweiß auf die Stirn trieb. Mein Gast freute sich diebisch. Dann stellte er erstaunt fest, dass er schon in der dritten Woche hier sei. Wir verstehen uns bestens, also schlug ich vor, wir könnten heiraten, schließlich hätten Muslime mehrere Frauen, warum also nicht auch mal einen Mann. Ich koste 10 Kamele plus deinen VW Polo, sagte ich, und dann rollten wir lachend in der Küche herum. Schönes Leben hier, wäre da nicht diese blöde Erkältung und das noch immer schmerzende Hüftgelenk.
Mi 16.11.16 11:33
Tag 24.187 bewölkt feucht 12 Grad
Der ein oder andere wird sich erinnern, dass ich vor einer Weile Frank Witzels Roman "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch depressiven Teenager im Sommer 1969" gelesen und in den Himmel gelobt hatte. Schwere Kost, man muss arbeiten, aber es lohnt sich. Danach kam lange nichts, bis vor zwei Monaten Bernhard Falkners "Apollokalypse" in der Longlist auftauchte und bei mir den Eindruck hinterließ, das könne ein Roman sein, der an Witzel anschlösse. Ich kaufte ihn. Seitdem habe ich fünfmal versucht, mich einzulesen, jedesmal ärgerte ich mich grün. Was soll ich mit Sätzen wie: "Bereits nach kurzer Zeit hatte ich ein Händchen entwickelt für die Kombination alltäglicher Details, die sich in einer Art Komplementäreffekt gegenseitig jeglicher Ausstrahlung beraubten." Wenn ich lese, will ich Geschichten, die Fleisch auf den Knochen haben, intelligent bin ich selbst.
12:00
Es gibt viele Möglichkeiten, hier wegzukommen, drei Buslinien und einen Zug, alle fahren in kurzen Abständen. Unabhängig und jederzeit mobil ist man, wenn sich dem Wetter entsprechend anzieht, sich aufs Rad setzt oder zu Fuß geht. Ich liebe Radfahren, aber zu Fuß gehen ist auch fein, da füllen sich die Lungen, die Kopf- und Denkschleifen entwirren sich, man hat Zeit und geht und geht und hat Zeit, die Beine werden schwer, und wenn man denkt, jetzt muss es bald gut sein, gibt es ein Café am See, da fällt man in einen Stuhl und trinkt was.
Gestern saß ich in der Linie 1. Der Busfahrer war Afrikaner, keiner mit dicken Lippen und breiter Nase, eher schmal, gereckt, ostafrikanisch, dachte ich, schwarze Hose, blaues Hemd mit Krawatte, sehr korrekt. Auf den Bänken links und rechts hinter ihm zwei junge Italienerinnen, eine dick, eine dünn, die diskutierend, kichernd, gestikulierend. Auf gleicher Höhe links zwei junge Männer, ein eher bäuerlich, slawisch wirkender und ein südeuropäischer und eine Iranerin mit Kopftuch, eine Hausfrau Mitte vierzig. Direkt neben mir eine atemberaubend gut aussehende junge Muslima mit leicht arroganten Gesichtszügen, Augenbrauen, Lippen, alles perfekt optimiert, das schwarze Kopftuch wahrscheinlich von einem Designer. Die beiden jungen Männer unterhielten sich in einer Sprache, die ich für Finnisch oder Ungarisch hielt. Nach einer Weile fragte ich, ob ich was fragen dürfe. Der südeuropäisch aussehende der beiden schaute eher ablehnend, ich nehme an, er hatte kein Wort verstanden, der andere sagte ja, natürlich, und dann fragte ich und hatte etwas gelernt: Bulgarisch.
12:58
Die alten Damen waren einkaufen. Sie wirken aufgekratzt und gleichzeitig müde. Eine hat einen Pudel auf dem Schoß. Ehemals rostbraun, jetzt von Grau durchwirkt. Er ist weder zart noch hübsch, seine Augen sind trüb, seine Schnauze zu kurz für einen Pudel, die lachsfarbene Zunge hängt heraus, obszön irgendwie, die Lefzen schlabbern, er trägt ein goldfarbenes Wams, unterm Bauch zugeknöpft, er hechelt, und das Hecheln überträgt sich auf Frauchen und nach einer Weile wünsche ich beiden ein baldiges, gnädiges Ende.
18:36
Er hat ein breites Kreuz, einen Stiernacken, rotes Haar, ein Fell fast, wäre da nicht der Undercut bis zur Fontanelle, raspelkurz, ein Maulwurfsfell, ein roter Maulwurf, aber ab Fontanelle handtellerlanges, nach vorn gekämmtes Haar, in sein Smartphone eine SMS an seine Freundin tippend, die blond ist, braun, groß und schlank, schlanker als er auf jeden Fall, denn er mag schlanke Frauen, so sitzt er da, während der Bus bei jeder Haltestelle durch ungeschicktes Bremsen alle Fahrgäste nach vorn wirft und zurückschnellen lässt. Zwei Stationen noch, dann hat er sein Ziel erreicht. Er hat eine Verabredung mit ihr vor Tor A., der Klinik, in der sie arbeitet. Sie werden nebeneinander stehen, sie werden Zigaretten rauchen, und in die Stille, die manchmal entsteht, Rauchwolken in den grauen Tag steigen lassen, vielleicht werden sie auch Dinge sagen, die man auf die Schnelle sagt und dann gesagt hat, um sich später darüber zu wundern, dass man so etwas je hat sagen können. Der Bus fährt wieder an, der Bus nimmt Fahrt auf, und alles, was bisher gesagt wurde, erweist sich als Fiktion. Der rothaarige junge Mann, ein Redhead, wie die Engländer sagen, hat weder eine Freundin noch einen Freund, er ist unterwegs zu einer Vorladung. Im Bahnhof hatte er einen Mann, der ihn beleidigt hatte, mit der linken Hand ins Gesicht geschlagen. Der Mann war umgefallen. Der Bus stoppt. Wieder erweist sich alles bisher erzählte als Fiktion, denn weder hat der junge Mann eine Freundin, die blond ist oder weniger blond, groß, schlank oder weniger schlank, noch arbeitet sie in einer Klinik, auch hat der junge Mann nie jemandem etwas zuleide getan, tatsächlich ist er auf dem Weg zu seiner Oma, eine der ersten Frauenrechtlerinnen der jungen Republik, aber das weiß heute niemand mehr, nicht einmal ihr Enkel, obwohl sie ständig versucht, ihn für das Thema zu sensibilisieren, nein, er besucht die Oma, weil die Oma ihm immer Geld schenkt, wenn er sie besucht, das ist das einzige, was er noch von der Oma will.
Fr 18.11.16 11:50
Tag 24.189 wechselnd bewölkt 8 Grad
Da ist die Deutsche Bank, sie hat eine schlechte Presse, vielleicht geht sie bald Konkurs, wahrscheinlicher aber ist sie "too big to fail". Wir sind hier, weil es gilt, ein Konto zu eröffnen, um Geld aus dem Mahgreb in die Republik transferieren zu können. Mein Untermieter hat mich gebeten, zum Termin mitzukommen. Man grüßt, man sagt, es dauere einen Augenblick, die Kollegin sei noch in einem Gespäch, ob wir Kaffee möchten, Wasser ... ? - Nein, danke. Nur einen kleinen Moment, wiederholt sie und verschwindet. Man sieht gleich, der Deutschen Bank geht es weniger um den kleinen Mann. Man bevorzugt potentere Kunden, und die sieht man nicht, die verschwinden irgendwo in den Hinterzimmern. Uns lässt man warten. Sitzgruppen, Wasserspender, Kaffeeautomat, ein Flachbildschirm mit NTV. In einer Spielecke, die wirklich sehr klein ist, entdeckt mein Untermieter einen Spielteppich mit Straßen, Verkehrzeichen, Kreisverkehren. So einen hätte er zuhause auch gehabt, ruft er begeistert und fotografiert ihn. Er fotografiert nach wie vor alles: von der selbstgemachten Pizza bis zum mitgebrachten Pfaffenhütchen. Nach knapp 20 Minuten erscheint eine kleine, schwarzhaarige Frau, schwarz in schwarz, rote, lange Fingernägel, ein bisschen gedrungen vielleicht, eine Frau Öcalan, die uns bittet, mitzukommen. Frau Öcalan ist freundlich, aber offenbar noch nicht allzu lange im Fach, eine Auszubildende vielleicht, die uns verblüfft, denn sie fragt, ob Ahmed der Vor- oder der Hausname meines Untermieters sei. Ich nehme an, Sie werden die Antwort kennen, um so verwunderlicher fanden wir, dass sie sie nicht kannte. Sie wusste auch nicht, dass Tunis eine Stadt ist, sie sei ja noch nie in Tunesien gewesen. Die Postleitzahl ihrer Bank kannte sie ebensowenig, sie wohne ja nicht in Münster. So viel zu Frau Öcalan, zur Allgemeinbildung und zur Deutschen Bank, deren drei ehemalige große Vorsitzende, lese ich heute, nicht auf ihre Boni verzichten wollen. Das wollen Ahmed und ich auch nicht, deshalb fressen wir Frau Öcalan alle Kekse weg.
Di 22.11.16 11:22
Tag 24193 wechselnd bewölkt 12 Grad
Sie sind zu zehnt, die digitale Anzeige meldet seit fünf Minuten eine Verspätung des Busses um fünf Minuten, "das' typisch!", ruft jemand, es ist Nacht, es ist feucht, Herbst eben, aber die Stimmung ist bestens. Einschleichende Schwermut bekämpf einer mit Witzen, einer ist immer dabei, der so etwas kann. Zwei stehen in enger Umarmung abseits, das hätten die anderen nicht erwartet, dass bei den beiden die Stimmung so hochgeht, so nah beieinander hat man sie Jahre nicht mehr gesehen. Lachen hallt über den Platz. Der Bus kommt. Man steigt ein. In Nachtbussen gibt es um diese Zeit nicht allzuviele Plätze. Die einen finden hier einen, die anderen dort, wieder andere stehen. Zwei sitzen weit vorn. Ein Mann, eine Frau. Sie trägt eine mausgraue enge Lederhose, passende halbhohe Schuhe, ebenso passend die hochmoderne Jacke, Halbjacke oder Dreiviertelmantel aus modernster, regenabweisender Faser mit lichtreflektierenden Elementen. Brauner Bubikopf, Pony, Brille, dahinter verhuschte Augen, weit aufgerissen, als sähe sie etwas, das ihr Angst macht. Sie ist Mitte sechzig, hat rote Lippen, und ihr Mund ist in ständiger Bewegung, ein leichtes Verziehen zur einen oder zur anderen Seite, eine Zunge, die kurz herausschnellt, so, als solle niemand sie sehen, und dann erst die Hände. An jeder zwei Ringe, Gold, nicht herausragend hässlich, nicht empfehlenswert schön, vier goldene Ringe eben, über die Jahre zusammen geschenkt, ein Armband links aus kleinen Perlen, eines rechts, schwer zu erkennen, ein Glück, dass nichts klappert, denn ihre Hände sind rastlos und neben ihr dieser stoische Mann mit Schnauzer. Hat er das alles angerichtet? Hat er angerichtet, dass sie jetzt davon träumt, dass es vielleicht heute abend, nachher, gleich, so wird, wie es sich bei den beiden abseits stehenden abzeichnete? Soll sie sich das wünschen, oder fürchtet sie eher, dass er, der sie seit vier Jahren nicht mehr angefasst hat, es endlich wieder einmal tut? Will sie das überhaupt? Sofort fällt ihr auf, dass sie es sich nicht einmal mehr vorstellen kann. Der Bus fährt in eine scharfe Kurve. Sie stößt gegen die Schulter ihres Mann. Seine Schulter war früher weich. Das ist sie nicht mehr. Der Bus fährt durch die Außenviertel. Gleich sind sie zuhause. Er wird sie nicht ausziehen. Er wird sie nicht einmal küssen. Sie kann von Glück reden, wenn er noch etwas zu ihr sagt, nachdem er vom Klo kommt. Vielleicht ist es meine Schuld, denkt sie.
Mi 23.11.15 12:55
Tag 23194 sonnig 11 Grad
Man kann nicht nicht kommunizieren, heißt es. Ich glaube, das stimmt. Was also will uns eine Frau um die fünfzig mit weizenblondem Haar, hochgesteckt und rundum ein bisschen zerzaust, in einer schwarzen Samthose mit Rosenrelief, einer gesteppten Jacke mit Leopardenfelloptik und einer Jutetasche mit Aufdruck: 30 Jahre Porsche Club sagen? Hat jemand eine Idee?
Do 24.11.16 10:40
Tag 23195 bewölkt 7 Grad
Der rechte Handschuh liegt immer unten, sodass Georg zuerst den linken nimmt und mit der rechten auf die linke Hand streift, dann erst den rechten. Eigentlich bräuchte er keine Handeschuhe, so kalt ist es noch nicht, aber Margaretha will es, sie sagt, hier wäre soviel Dreck überall. Sie hilft ihm in den Mantel, ein Übergangsmantel in Marinegrau und legt ihm den Schal um. Ein Seidenschal. Er findet Schals homosexuell, um nicht schwul zu sagen, aber schwul sagt er nicht und homosexuell auch nicht, er sagt lieber gar nichts, Schwul ist Sünde und Margaretha kann rabiat werden.Sie gehen aus dem Haus, steigen in den Bus, der gegenüber hält, setzen sich und starren diese ganzen Neger an und was da so alles mitfährt. Margaretha würde um diese Zeit nie allein Bus fahren, es passiert ja soviel. Zuhause war es übersichtlicher, aber sie sind ja nicht mehr zuhause, sie sind ja fortgegangen in dieses Land, wo man zwar Deutsch spricht, aber nicht richtig Deutsch ist, findet Margaretha. Georg wäre nie fortgegangen, er mochte die Weite. Jetzt hat er den Salat. Der Bus schwankt hin und her, und der Neger telefoniert die ganze Zeit. Wo der wohl das Geld her hat für dieses große Telefon. Margaretha zupft Georgs Kragen zurecht. Georg denkt schon lange darüber nach, sich das nicht mehr bieten zu lassen, aber er weiß nicht, wie. Da, wo er herkommt, hat man der Frau schon mal eine geknallt, aber hier guckt jeder komisch, wenn er das machte, also macht er es lieber nicht. Er ist auch nicht der Typ für sowas. In der Kolchose konnte er nicht mal Hüher schlachten.
Georg hat den Kopf gesenkt und beobachtet eine gut aussehende Muslima. Was die hier wollen weiß er schon mal gar nicht. Was er wohl weiß, und das impononiert ihm irgendwie, ist, dass die so gläubig sind, angeblich, weil, das ist er auch. Er ist jeden Sonntag bei den Zeugen. Aber dass die sich so aufdonnern, das begreift er nicht, Kopftücher hatten die Frauen zuhause auch, aber sie haben doch ihre Ärsche nicht so rausgestreckt und sich überall angemalt, also das gab es nicht.
Der Bus ist jetzt in der Stadt und Maragetha sagt, dass sie zuerst da und da hingehen wollen.Georg nickt. Er wird mitgehen. Was er natürlich nicht weiß, was niemand wissen kann, nicht einmal ich, der alles erschafft und nach Gutdünken hegt oder vernichtet, ist, dass Margaretha, als sie aus dem dritten Stock unter der Lichtkuppel auf die Rolltreppe tritt, einen Augenblick strauchelt, und da tut Georg etwas, wovon er schon lange geträumt hat. Es ist es nicht mehr als ein Fingertipp, aber der genügt, Margaretha stürzt und als sie unten ankommt, weiß Georg, dass er nie mehr Seidenschals tragen wird.
12:52
Links sitzt Winona Ryder, allerdings hat sie Zöpfe. Ansonsten aber ist es Winona aus der Zeit, als sie in Jarmusch Night on Earth Taxi fuhr und nicht Schauspielerin werden wollte. Rote Basecap verkehrt herum, Jeans, manchmal einen leicht spöttischen Zug um den Mund. Rechts neben ihr sitzt eine schmale blonde Fee, die Haare zu einem Dutt über der Fontanelle gebunden, blauäugig. Beide haben nicht viel zu sagen.Sie fahren heim, wahrscheinlich sind sie müde. Vielleicht müssen sie morgen früh raus, Schule, Universität, man weiß nicht. Irgendwann zwischen Kreuz und Michaelkirche hellen ihre Gesichter auf eine beglückende Art auf, dass ich denke, irgendetwas muss geschehen sein. Beide strahlen in meine Richtung, aber sie strahlen nicht wegen mir, ich kann es mir schon denken, sicher hat das was mit der Mutter zu tun, die vorhin einstieg, ganz bestimmt. Aber ich drehe mich noch nicht um, ich genieße, wie sich in den Gesichtern der beiden die Zukunft ausbreitet, selige Mutterschaft, ohne Zwischenrufe, nächtliche Störungen, ohne irgendeine Sorge, einfaches Glück, so sind sie gestrickt, und so strahlen sie, beide, bis ich mich auch umdrehe, mich vergewissere, ja, da ist ein Kind in hellblauem Fleecestrampler, es schaut in die fremde Welt und verzaubert sie. Jetzt lächle ich auch, die jungen Frauen lächeln zurück, "auf baldige Mutterschaft", sage ich und da lachen sie, aber es ist nicht mehr dieses selige Lächeln, denn so ernst hatten sie es wohl doch noch nicht gemeint, sie sind höchstens zwanzig, da kann man Zeit lassen, aber natürlich weiß man nie, was passiert.
Sa 26.11.16 12:37
Tag 23197 klar, sonnig, 2 Grad
Was für ein großer Mann, er reicht bis an die Wolken. Schon als Kind reichte er fast bis dorthin, sodass die Vögel ihn grüßten und alle neidisch waren, weil er so groß war, allerdings hatten sie auch ein bisschen Angst, weil alle immer denken, dass große Mensche große Kraft haben und sie selbst, die mittleren und die kleinen, die fürchten große Kraft, die mit einem Schlag alles umhaut. Dabei hat er nie jemanden umgehauen. Er hatte das größte Herz, das man sich denken kann, aber niemand wollte ihm glauben. Er war dann ein großer Teenager, ein großer Twen, damals nannte man das so, und dann, schließlich, ein großer Mann, sogar zu groß für die Bundeswehr, sie dachten da wohl, so einen großen Mann können wir in keinem Erdloch verstecken, wenn mal wieder Krieg ist, und von Krieg wurde damals ständig gesprochen, es war die Zeit, als die Russen als Gespenster umgingen und alle bedrohten, wie heute. Und heute? Heute ist er ein großer Mann, dessen Beine da aufhören, wo bei anderen der Brustkorb endet, dessen Füße so groß sind, dass man glaubte, er könne damit übers Wasser gehen, aber das klappte nie. Schwimmen allerdings konnte er, da hatte er es zu einigen Siegen gebracht, aber nach einer Weile war ihm das Siegen langweilig, er war den anderen schon fünf Meter voraus, kaum dass er nach dem Sprung vom Startblock das Wasser erreicht hatte, und wenn er mit seinen Armen das Wasser pflügte, ertranken die anderen fast in den Wellen, die er hinter sich ließ. Und seine Hände erst! Was kann man mit solchen Hände schon groß anfangen, nicht Feines jedenfalls, dachten widerum alle, dabei waren seine Hände ein reines Wunder, denn mit ihnen konnte er Dinge tun, die andere nie im Leben hinkriegten, er konnte damit Dinge aufspüren, die sich tief in Körpern verbargen. Heilen konnte er nicht, jedenfalls nicht in dem Sinne, wie manche von Heilern sprechen, die Hände auflegen, das wäre ihm auch unheimlich geworden, es war einfach nur so, dass er ein Gespür für Verspannungen anderer hatte, die er dann löste. Aber daraus einen Beruf machen, nein, das wollte er auch nicht. So groß er auch war, seine Größe brachte nie große Gedanken hervor, seine Gedanken waren wie die der meisten Menschen, flüchtig und manchmal wie Kometen, die lange Schweife hinter sich herzogen, um dann in der Tiefe des menschlichen Alls zu verschwinden. Eines Tages aber traf er eine Frau, die fast ebenso groß war wie er, und die tanzte. Komm doch mit, tanzen, sagte sie zu ihm. Aber das kann ich doch gar nicht, sagte er. Du wirst es lernen, sagte sie, und da ging er mit. Seitdem tanzt er.
So 27.11.16 11:29
Tag 23198 hohe Bewölkung -1 Grad
Und von der Katrin der Mann, der war Gärtner. Der hat gekündigt. Und der hat das Kind von dem Erkan übernommen. Die war ja mit dem Erkan mal. Der Erkan, das war nichts. Der hat der Katrin ständig alles verboten, obwohl die Katrin nix gemacht hat. Der Erkan wohnt jetzt mit dem Hansi seine Schwester in Buschdorf, der wohnt in dem Haus von dem Hansi seine andere Schwester, wie hieß die noch, ja, weiß nicht, keine Ahnung, der ist jetzt bei der Müllabfuhr. Wenn er schlau ist, bleibt er da. Hat er pünktlich Feierabend. Und dem Hansi seine Exfrau arbeitet beim Aldi. In dem Hansi sein Haus hat die mal die Musik laut gemacht, bumms stand die Polizei da. Von der Katrin der Mann, der war im richtigen Moment schlau, der hat ein Haus gekauft und gleich weiter verbimmelt und davon hat er sich eine Wohnung gekauft und für den Rest noch den Audi. Der ist jetzt irgendwo in Bonn irgendwo. Der Hansi? Hat der nicht auf Jura gemacht und abgebrochen? Der macht doch jetzt alles mögliche. Der war ja immer schon ein bisschen doof.
Di 29.11.15 11:39
Tag 23201 blauer Himmel -2 Grad
Die beiden sitzen auf einer Bank in einer Ecke des großen Platzes. Ein Mann, eine Frau. Ein paar Schritt in den Park, und sie könnten das Schloss sehen, aber das Schloss interessiert sie nicht. Sie haben es gemütlich. Sie wollen Bier trinken und Tabak rauchen, soviel wie möglich von allem, vielleicht sind sie irgendwann nachtschwer und können vergessen. Was zu vergessen ist, wissen sie schon nicht mehr, alles, würden sie sagen, den Sozialismus, die blühenden Landschaften, die Fidschies, die Pollaken und die Türken, obwohl, die Türken sind mutig, das müssen sie zugeben, in einem Kaff in der hintersten Ecke der Republik mit Tschechien und Polen einen Steinwurf entfernt einen Döner aufzumachen, das imponiert ihnen schon, irgendwie. Und für 3,50 kriegen sie sonst nirgendwo was zu essen, es sei denn, im Schwarzen Loch. Das Schwarze Loch können sie nur empfehlen. Da sei es gemütlich. Das Schlosshotel gegenüber, das sei nichts für sie. Da wohnen Touries, die für ein Glas Wein fünf Euro bezahlen, den Gegenwert für zehn Flaschen Bier, fünf haben sie noch. Das Schwarze Loch? Schräg gegenüber, sagen sie, da vorn, neben der Apotheke. Gut, sagen wir. Schönen Abend dann. Ja, schönen Abend.Wir geh'n da jetzt hin. Wir haben die lange Reise noch in den Knochen, sind über den nächtlichen Polenmarkt gestreunt, eine Ansammlung abenteuerlichster Wellblechbaracken, wir haben das Schloss bestaunt, das aus der Dunkelheit ragt wie ein Traum, die blühenden Landschaften, damals wie heute eine Fata Morgana für wenige. Das Schwarze Loch ist für die Desillusionierten der Gegenwart. Das Treppenhaus, düster und schwarz, posphorizierende Graffiti. Am Ende der langen Treppe eine eichengefakte Tür und dahinter? Wir geh'n da jetzt rein. Ich geh voran.
Rauchschwaden und Bier. Guten Abend. Jetzt drehen sich alle um und denken, oh Gott, wo kommen die her. Am Ende der Theke findet sich Platz für uns. Gibt's was zu Essen. Soljanka, sagt der Mann hinter der Theke, schmal, Schlägermütze, freundliches Gesicht, sieht nicht aus wie ein Nazi. Und die andern? Zwei korpulente Frauen, eine ist Köchin, die andere arbeitet auf einem Gestüt. Links der Besitzer. Er war Polizist. Anfang sechzig, beleibt, aber nicht fett, große Uhr, Goldkette um den Hals, neugierig. Woher wohin? Wieso jetzt hier? Kann man hier rauchen? fragen wir. Ja, ja. Wieso? Weil ich Polizist war, sagt er. Auch nach der Wende noch , aber dann wurden die alten Kader ausgesiebt, und da war er draußen. Dann hat er dies gemacht und dann das, und jetzt eben das Schwarze Loch. Ja, sagt er, er bestäche die örtliche Polizei, er kenne noch welche. Also Soljanka, zweimal, das geht schnell, das wird in der Mikrowelle heiß gemacht, dazu Toastbrot. Gibt's hier einen einen Dorfschnaps? Ja, gibt es. Also, zwei Bier, zwei Schnaps, Zigaretten. Das Schwarze Loch saugt uns auf. Als wir es verlassen, sind wir sehr betrunken.